Wi­der ein Recht auf Ver­tu­schen

Die di­gi­ta­le Welt, die seit ei­ni­gen Jah­ren erup­tiv die Le­bens­ge­wohn­hei­ten der Men­schen zu ver­än­dern scheint, hat ei­nen neu­en Rechts­be­griff her­vor­ge­bracht, der den re­vo­lu­tio­nä­ren Im­pe­tus auf ei­ne neue, in Win­des­ei­le er­rich­te­te Um­ge­hungs­stra­ße um­lei­ten möch­te und den wir­ren Ver­kehr auf den Da­ten­au­to­bah­nen ent­la­sten soll. Es ist die Re­de vom »Recht auf Ver­ges­sen« bzw. »Recht auf Ver­ges­sen­wer­den«, wel­ches durch das Ur­teil des Euro­päischen Ge­richts­hofs die Ord­nungs­sehn­sucht des ana­lo­gen Bie­der­manns zu er­fül­len trach­tet.

Das Ur­teil ge­stat­tet ab so­fort prak­tisch je­dem die über ihn ab­ge­spei­cher­ten Hin­wei­se, die ei­ne Such­ma­schi­ne fin­det, de­ak­ti­vie­ren zu las­sen. Der vom Link be­trof­fe­ne In­halt sel­ber wird da­bei we­der ge­prüft noch ist er Ge­gen­stand des In­ter­es­ses. Er muss nicht ent­fernt wer­den, was auch ent­behr­lich ist, da im di­gi­ta­len Voll­rausch der Über­brin­ger längst zur wich­tig­sten Per­son wur­de. Er­leich­tert stellt man fest, dass Ge­or­ge Or­wells Dys­to­pie des Zei­tungs­fäl­schens je nach po­li­ti­scher Groß­wet­ter­la­ge prak­tisch aus­fällt. Hät­te Or­well al­ler­dings von Such­ma­schi­nen und dem In­ter­net auch nur ei­ne Ah­nung ent­wickelt, hät­te sein Ro­man ziem­lich si­cher das Ur­teil an­ti­zi­piert.

Die Furcht des Heu­ri­sti­kers

Der Ar­chi­var des di­gi­ta­len Zeit­al­ters ist ei­ne Ma­schi­ne, die mit von Men­schen in ei­ne be­stimm­te Rei­hen­fol­ge pro­gram­mier­ten Kri­te­ri­en Me­di­en auf­spürt. Wie beim Bi­blio­the­kar, der ei­nem frü­her auf Such­be­grif­fe hin ei­ne Aus­wahl prä­sen­tier­te, sind die Kri­te­ri­en der Ma­schi­ne letzt­lich un­ge­wiss. Über­haupt sind die Ge­mein­sam­kei­ten zwi­schen mensch­li­chen Fin­dern und Ma­schi­nen ver­blüf­fend: Bei­de wäh­len aus, zu­meist nach quan­ti­ta­ti­ven Kri­te­ri­en. Ab­sei­ti­ges kommt eher sel­ten vor. Der mensch­li­che Ar­chi­var hat sel­ten ei­ne Sei­te 2; der in Such­ma­schi­nen agie­ren­de Fra­ger ver­wen­det die ihm an­ge­bo­te­ne zwei­te Sei­te eben­falls sehr sel­ten. Man sucht das schnel­le Re­sul­tat.

Die Tech­ni­fi­zie­rung der Wis­sens­su­che im In­ter­net ist dem Heu­ri­sti­ker un­heim­lich. Der Mensch, der ge­lernt hat, sich als Kro­ne der Schöp­fung zu se­hen, kann sich nicht da­mit ab­fin­den, ei­ner Ma­schi­ne un­ter­le­gen zu sein. So hat es Jahr­zehn­te ge­dau­ert bis die Schach­spie­ler ak­zep­tiert ha­ben, dass Com­pu­ter ih­nen in na­he­zu al­len Spiel­si­tua­tio­nen auf Dau­er über­le­gen sein wer­den. Men­schen sind ge­zwun­gen, sich in ei­ne Par­al­lel­welt zwei­ter Klas­se zu­rück­zu­zie­hen. Hier do­mi­niert der Feh­ler. In der Ana­ly­se der Par­tie ent­deckt dann die Ma­schi­ne, wie es hät­te bes­ser wei­ter ge­hen kön­nen. Die Scha­dens­be­gren­zung geht nur noch da­hin, dass Men­schen bei ih­ren Wett­kämp­fen nicht ver­bo­te­ner­wei­se auf der Toi­let­te die Hil­fe der Ma­schi­nen ab­fra­gen.

Wäh­rend das Schach­spiel ma­the­ma­tisch lo­gisch er­fass­bar ist, gilt dies für die Su­che im In­ter­net nicht. Das macht die Sa­che noch ver­track­ter. Es ist et­was an­de­res, ei­nen »be­sten Zug« in ei­ner be­stimm­ten Schach­stel­lung oder die grif­fig­sten und ob­jek­tiv »wah­ren« Tref­fer zum The­ma Tom Crui­se und Sci­en­to­lo­gy zu fin­den. Die Ana­ly­se wird zei­gen, dass der Schach­com­pu­ter rich­tig lag. Aber die Such­ma­schi­ne lie­fert mir je nach den vor­her von ihr ge­spei­cher­ten Prä­fe­ren­zen an­de­re Re­sul­ta­te. Und selbst auf ei­nem ab­so­lut »sau­be­ren«, von kei­ner­lei Coo­kies ver­seuch­ten PC, fal­len die Such­ergeb­nis­se un­ter Um­stän­den stünd­lich an­ders aus. Es gibt, so die ba­na­le Er­kennt­nis, kei­ne Ge­wiss­hei­ten, wel­ches Re­sul­tat die ober­ste Po­si­ti­on »ver­dient« hat. Die Su­che wird so zu ei­nem dy­na­mi­schen Pro­zess, der aber bei der Fin­dung der »Wahr­heit« un­ter Um­stän­den hin­der­lich ist. Die heu­ri­sti­schen Fä­hig­kei­ten des Men­schen sind in der Be­wer­tung ge­fragt; das wird häu­fig über­se­hen.

Dass dies nie an­ders war, dass sich ei­ne »La­ge« je nach der Nach­rich­ten­si­tua­ti­on ver­än­dert und dem­zu­fol­ge auch die Wahr­neh­mung bei In­di­vi­du­en schwankt, ist zwar ei­ne Ba­na­li­tät, wird je­doch all­zu sel­ten be­wusst ge­macht.

Das Ge­fühl des Aus­ge­lie­fert­seins durch die Kom­bi­na­ti­on un­pu­bli­zier­ter und so­mit in­trans­pa­ren­ter Kri­te­ri­en, den so­ge­nann­ten Al­go­rith­men, wird noch ver­stärkt durch die un­schlag­ba­ren mne­mo­tech­ni­schen Kün­ste der Ma­schi­nen. Der gän­gi­ge Satz hier­zu lau­tet: »Das In­ter­net ver­gisst nicht«. Die For­mu­lie­rung, pe­jo­ra­tiv als Dro­hung auf­ge­bracht ist grif­fig aber falsch. Sie er­in­nert ein we­nig an die Schul­zeit, in der ei­ni­gen Leh­rern nach­ge­sagt wur­de, schlech­te Lei­stun­gen oder Dis­zi­plin­lo­sig­kei­ten in dau­er­haf­ter Er­in­ne­rung zu be­hal­ten und da­mit ein Wohl­ver­hal­ten a prio­ri er­zeu­gen woll­ten. So dient der Satz des nicht­ver­ges­sen­den In­ter­net als la­ten­te Be­dro­hung und sitt­li­cher Im­pe­ra­tiv für den ver­meint­lich über die Stren­ge schla­gen­den Nut­zer im vir­tu­el­len Raum.

Bei nä­he­rer Be­trach­tung wird die Sa­che deut­lich re­la­ti­viert. Je­der, der schon ein­mal nach äl­te­ren Me­di­en im In­ter­net ge­sucht hat, dürf­te sich mü­he­voll durch die zum Teil red­un­dan­ten Nich­tig­keits-Links ge­wühlt ha­ben, die sich weit jen­seits ei­ner Sei­te 2 oder 3, der mensch­li­chen Halb­wert­zeit von re­le­van­ten Er­in­ne­run­gen, be­we­gen. Oft ist ein Vor­wis­sen er­for­der­lich, um, wie frü­her bei den Groß­el­tern, durch die Ein­krei­sung von meh­re­ren (Such-)Begriffen zum ge­wünsch­ten Re­sul­tat zu kom­men – und sei es auch nur um fest­zu­stel­len, dass es kei­ne Ver­bin­dung gibt.

So wird aus der Tu­gend des Spei­cherns von qua­li­ta­tiv durch­aus un­glei­chem Wis­sen ein Ma­kel, ja ei­ne Ge­fahr. Um die­se Ge­fahr dau­er­haft, so­zu­sa­gen un­ver­gess­lich, beim Re­zi­pi­en­ten ab­zu­spei­chern, wird sie noch an­thro­po­mor­phi­siert, in dem ei­ne Schreckens­vision kon­stru­iert wird: ein Mensch, der nicht ver­ges­sen kann. Bei die­sem po­le­mi­schen Kon­strukt wird ver­ges­sen oder, schlim­mer noch, ver­drängt, dass tech­ni­sche Er­run­gen­schaf­ten im­mer ge­schaf­fen wur­den, um mensch­li­che Gren­zen auf­zu­he­ben und, um ei­nen Ter­mi­nus Heid­eg­gers zu pa­ra­phra­sie­ren, Welt zu ent­decken. Tech­nik, so der nai­ve Ge­dan­ke im 19. Jahr­hun­dert, dient dem Men­schen. Das be­deu­tet nicht, dass der Mensch der Tech­nik nach­ei­fert. Das Ge­gen­teil ist der Fall. So wer­den selbst die groß­ar­tig­sten Sport­ler nie die Ge­schwin­dig­kei­ten von Au­to­mo­bi­len er­rei­chen kön­nen. Die­se Gren­ze wür­de man je­doch heu­te ernst­haft nicht mehr ge­gen die Mo­to­ri­sie­rung ein­wen­den wol­len.

HAL9000

Hin­ter der Tech­nik­kri­tik ver­bar­gen sich im­mer auch Vor­be­hal­te an der Ein­eb­nung von so­zia­len, po­li­ti­schen und öko­no­mi­schen Schran­ken. Eli­ten sa­hen ih­re Pri­vi­le­gi­en schwin­den und kon­stru­ier­ten Ein­wän­de, die in­ner­halb ih­res Welt­bilds schlüs­sig wa­ren. Die Angst vor der un­ge­heu­ren Ge­schwin­dig­keit der Ei­sen­bahn, die dem Men­schen ir­gend­wie scha­den müs­se, war in Wirk­lich­keit die Furcht vor der Tri­via­li­sie­rung des Rei­sens. Gleich­zei­tig wur­de von re­stau­ra­ti­ven Kräf­ten auch die Ver­ma­ssung von Bil­dung und Kul­tur ange­griffen. Als nichts mehr half wur­den die Ge­fah­ren des ex­zes­si­ven Le­sens für das Au­gen­licht be­schwo­ren.

Es war un­ter an­de­rem Mar­tin Heid­eg­ger, der in sei­ner stak­sig vor­ge­brach­ten Kri­tik am »Ge-Stell« der Be­fra­gung der Tech­ni­fi­zie­rung und de­ren Ge­fah­ren Mit­te des 20. Jahr­hun­derts ei­ne neue Fa­cet­te gab. Es ist un­mög­lich Heid­eg­gers fast pa­ra­no­ide Furcht vor tech­ni­schen Ap­pa­ra­ten da­bei nicht mit­zu­den­ken. Im Kern zeigt sich hier ein zu­tiefst ak­tu­el­ler Ge­dan­ke: Heid­eg­ger pro­gno­sti­ziert, dass der Mensch die Kon­trol­le über die von ihm ge­schaf­fe­ne Tech­nik ver­liert und sich die Ver­hält­nis­se sub­til, aber un­ab­än­der­lich um­keh­ren. Man weiss nicht, ob Stan­ley Ku­brick Heid­eg­ger ge­le­sen hat, aber die äs­the­ti­sche Be­hand­lung die­ses Pro­blems hat Ku­brick in sei­nem Film »2001 – Odys­see im Welt­raum« aus dem Jahr 1968 vor­ge­führt und da­mit die Ge­ne­ra­ti­on der Ba­by­boo­mer bis aufs Mark er­schüt­tert.

Ku­brick zeigt in dem Film, wie der Com­pu­ter HAL9000, der der Be­sat­zung ei­nes Raum­schif­fes, das sich auf ei­ner Ex­pe­di­ti­on zum Ju­pi­ter be­fin­det, die­nen soll, zum Herr­scher und am En­de zum Mör­der wird. Zu­nächst scheint der Com­pu­ter ein kon­struk­ti­ver, zu­wei­len so­gar fein­gei­sti­ger Die­ner. Über die Fra­ge der Be­ur­tei­lung ei­nes tech­ni­schen Pro­blems kommt es zwi­schen Mensch und Ma­schi­ne je­doch zum Dis­sens. Die Astro­nau­ten be­schlie­ßen in ei­nem schall­ab­ge­dich­te­ten Raum, HAL9000 vor­über­ge­hend ab­zu­schal­ten, da sie ei­nen Feh­ler im Sy­stem der Ma­schi­ne ver­mu­ten. Sie ha­ben nicht da­mit ge­rech­net, dass HAL9000 ih­re Lip­pen le­sen kann und da­mit über den Plan in­for­miert ist. Die Ma­schi­ne nimmt die ge­plan­te Ab­schal­tung so­zu­sa­gen per­sön­lich und ent­wirft nun ih­rer­seits ei­nen Plan- Suk­zes­si­ve wer­den die mensch­li­chen Besatzungsmit­glieder durch di­ver­se tech­ni­sche Mo­di­fi­ka­tio­nen ge­tö­tet. Er bleibt al­lei­ne im Raum­schiff mit dem in die­sem Zu­sam­men­hang sar­ka­sti­schen Na­men »Dis­co­very« zu­rück. Nicht der Ju­pi­ter wird ent­deckt, son­dern die sich ver­selb­stän­di­gen­de Hy­bris ei­ner Ma­schi­ne.

Be­drücken­der ist wohl im Prä-In­ter­net-Zeit­al­ter die Ge­fahr der mög­li­chen Usur­pie­rung des Men­schen durch Tech­nik nicht in­sze­niert wor­den. Selbst im rhe­to­risch ab­ge­grif­fe­nen Or­well-Klas­si­ker »1984« wur­de Tech­nik nur als Mit­tel ein­ge­setzt. Bei Ku­brick über­nahm sie die Macht wo­bei die Raum­sta­ti­on syn­onym für die Mensch­heit stand. Bei al­ler Bril­lanz hat­te HAL9000 über­se­hen, dass er al­lei­ne den Zweck des Un­ter­neh­mens, den Ju­pi­ter zu er­kun­den, oh­ne die Be­sat­zung, die Men­schen, nicht aus­füh­ren konn­te. Sein Über­le­ben war zwar ge­währ­lei­stet – nie­mand schal­te­te ihn ab – aber un­nütz. Die Mor­de an der Be­sat­zung dien­ten nur dem nack­ten Selbst­er­hal­tungs­wil­len der Ma­schi­ne; der Op­fer­ge­dan­ke, der im­mer in der Na­tur­wis­sen­schaf­ten im­pli­zit mit­schwingt – war HAL9000 fremd.

Tech­nik­kri­tik im 21. Jahr­hun­dert: De­ter­mi­nis­mus aus Kal­kül

Nicht ganz un­wich­tig für die ak­tu­el­le Dis­kus­si­on scheint, dass der Na­me »HAL« laut An­ga­be des Dreh­buch­schrei­bers Ar­thur C. Clar­ke, der auch die li­te­ra­ri­sche Vor­ga­be ge­schrie­ben hat­te, für »Heu­ri­stic ALgo­rith­mic« ste­hen soll. Ver­blüf­fend, wie da­mit das Set­ting zur heu­ti­gen Tech­nik­kri­tik vor­weg­ge­nom­men wur­de. Ei­ne der lau­te­sten Po­sau­nen in die­sem Chor stimmt seit ge­rau­mer Zeit das Feuil­le­ton der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung an. Um sich nicht ei­ner pri­mi­ti­ven Tech­nik­kri­tik zei­hen zu las­sen, hat man als Ur­feind des Men­schen den Al­go­rith­mus und die Un­ter­neh­men aus­ge­macht, die mit der Im­ple­men­tie­rung die­ser Pro­gram­me auf dem kom­mer­zi­el­len Markt re­üs­sie­ren. Um die Do­mi­nanz des ei­gent­lich ab­strak­ten Al­go­rith­mus zu un­ter­strei­chen, muss ein Fa­tum kon­stru­iert wer­den, wel­ches die Welt­herr­schaft der Ma­schi­nen als nicht mehr ab­wend­bar dar­stellt. Konn­ten Tech­nik­ver­wei­ge­rer bis­her die ih­nen un­heim­li­chen Ap­pa­ra­tu­ren ab­schal­ten, so ist das heut­zu­ta­ge auf­grund der um­sich­grei­fen­den Ver­net­zung schlicht­weg nicht mehr mög­lich, so die The­se. Mit­ge­fan­gen, mit­ge­han­gen. Die Furcht vor der Be­herr­schung durch den Al­go­rith­mus muss auch für den Off­li­ner gel­ten, um das Sze­na­rio mit ent­spre­chen­der Wucht aus­zu­stat­ten. Die Tech­nik­kri­tik des 20. Jahr­hun­derts ließ noch Aus­we­ge of­fen. Im 21. Jahr­hun­dert ist dies nicht mehr mög­lich. Der Hin­weis auf die selbst­be­stimm­te Ver­wen­dung wird zum Ana­chro­nis­mus, ja zur fal­schen Idyl­le.

Kaum be­rück­sich­tigt wird da­bei, dass die schein­ba­re Un­aus­weich­lich­keit sel­ber eher ein Kri­te­ri­um des­sen ist, was kri­ti­siert wird. Mensch­li­ches Ver­hal­ten wird durch die­se Form der Tech­nik­kri­tik prak­tisch als nutz­los dar­ge­stellt und ent­wer­tet. Man muss in der Zi­vi­li­sa­ti­ons­ge­schich­te der Mensch­heit weit zu­rück­ge­hen um ei­nen ähn­li­chen Schick­sals­glau­ben in den grie­chi­schen Dra­men und Tra­gö­di­en zu ent­decken.

Aber kei­ne Sor­ge: Das De­ter­mi­nis­mus-Po­stu­lat ist nur Kal­kül, ein Aus­wuchs ei­nes Alarm­sy­stems, dass sich nicht an­ders Ge­hör zu ver­schaf­fen weiß, als die Re­zi­pi­en­ten in per­ma­nen­tem Er­re­gungs- und Em­pö­rungs­mo­dus zu hal­ten. Und dies mit den Mit­teln de­rer, die man ei­gent­lich vor­gibt zu be­kämp­fen. Da­bei könn­te sich schnell ein ab­schwel­len­der Bocks­ge­sang ein­stel­len. Wie sich zeigt sind die Deut­schen mehr denn er­wünscht re­la­tiv arg­los, was die per­ma­nen­te Be­spit­ze­lung des In­ter­net­ver­kehrs an­geht. Ähn­lich könn­ten ir­gend­wann die Er­hit­zungs­af­fek­te ge­gen Such­ma­schi­nen­tref­fer in stoi­schem Gleich­mut über­ge­hen, et­wa wenn ver­ge­gen­wär­tigt wird, dass die Be­schwörungen des Un­heils nicht mehr und nichts we­ni­ger als ge­schick­te In­sze­nie­run­gen der Re­stau­ra­ti­on sind, de­ren Prot­ago­ni­sten um ih­re in Jahr­zehn­ten müh­sam er­wor­be­nen me­dia­len Re­vie­re ban­gen.

Boll­wer­ke ge­gen Ver­ges­sen: Bi­blio­the­ken

Zu­rück zur Fra­ge, war­um das Ver­ges­sen ei­ne Tu­gend sein soll. Nietz­sche sah es als not­wen­dig an. »Ge­sund ist, wer ver­gaß« steht in sei­nem Vor­spiel zur »Fröh­li­chen Wis­sen­schaft«. Ein in An­be­tracht des Schick­sals des Phi­lo­so­phen fast tra­gi­scher Irr­tum, auch wenn Nietz­sche nicht das stump­fe, tech­ni­fi­zier­te Ver­ges­sen im Blick hat­te, wel­ches die Rich­ter ver­ord­net ha­ben.

In Wirk­lich­keit zeigt sich, dass der Mensch ein Er­in­ne­rungs­tier ist. Er wirkt dem Ver­gessen seit tau­sen­den von Jah­ren mit si­sy­phos­haf­ter Wucht ent­ge­gen, in­dem er schreibt und spei­chert. Das Auf­schrei­ben und das Spei­chern ver­ei­ni­gen sich im Buch ge­gen den Ma­kel der Ver­gess­lich­keit. Ne­ben der Wei­ter­ga­be von Wis­sen soll­ten Er­kennt­nis­se auf Dau­er nutz­bar ge­macht wer­den. Das Auf­schrei­ben wur­de ge­sam­melt, in Klö­stern, spä­ter in Bi­blio­the­ken. Sie sind Fe­stun­gen ge­gen das Ver­ges­sen und Boll­wer­ke ge­gen das (po­li­tisch) in­stru­men­ta­li­sier­te Til­gen von Wis­sen. In im wahr­sten Sin­ne des Wor­tes bom­ben­si­che­ren Bun­kern wer­den die Buch­schät­ze der Mensch­heit ge­spei­chert, als in­ter­es­sie­re sich je­mand nach ei­nem nu­klea­ren Over­kill noch da­für. Bü­cher­ver­bren­nun­gen wa­ren im­mer Ver­su­che, Wis­sen zum Ver­schwin­den zu brin­gen.

Mein Ge­schichts­un­ter­richt in den 1970er Jah­ren leb­te von der Furcht vor dem Ver­ges­sen der Er­eig­nis­se der Ver­bre­chen der Na­zis. Ich wur­de so­zia­li­siert mit Ge­denk­ta­gen, Er­in­ne­rungs­bü­chern und –fil­men, Nar­ra­tio­nen und De­kla­ma­tio­nen, die fast bud­dhi­stisch das Man­tra vom »Nicht­ver­ges­sen« pre­dig­ten. Noch heu­te wird die­se Er­in­ne­rungs­kul­tur ze­le­briert, in dem der Nach­rich­ten­schau­er Po­li­ti­ker al­ler Län­der in all­be­kann­ter Ge­ste an all­be­kann­ten Or­ten an Ge­denk­bou­quets Schlei­fen zup­fen sieht und dies mit Em­pa­thie ver­wech­selt. All­über­all wur­den Mahn­ma­le er­rich­tet, Denk­mä­ler auf­ge­stellt und an Er­in­ne­run­gen er­in­nert. Bis in die letz­ten Win­kel auch hi­sto­risch noch so ab­we­gi­ger Fel­der wird ei­ne Kul­tur des Nicht-Ver­ges­sens her­auf­be­schwo­ren. Die Ge­ne­ra­tio­nen nach 1945 in Deutsch­land ha­ben die Er­in­ne­rung and­res­siert be­kom­men; sie er­in­nern sich, weil sie es für ih­re Pflicht hal­ten und die zu­meist un­be­kann­te Schuld ih­rer El­tern bzw. Groß­el­tern da­mit süh­nen wol­len bzw. die in Sonn­tags­re­den so mas­siv ge­for­der­te »Ver­ant­wor­tung« wahr­neh­men wol­len, dass sich Na­zi- und Kriegs­bar­ba­rei nie mehr in ih­rem po­li­ti­schen und so­zia­len Raum er­eig­nen soll.

Die Er­in­ne­rung an die Er­in­ne­rung be­haup­tet da­her sinn­vol­ler­wei­se mit In­brunst, dass es kein Ver­ges­sen ge­ben darf. Jetzt ist die Er­in­ne­rung an Mensch­heits­ver­bre­chen et­was an­de­res als über die vor­über­ge­hen­de Zah­lungs­un­fä­hig­keit ei­nes Selb­stän­di­gen. Der Eu­GH hat die­se Dif­fe­renz ja durch­aus ge­wich­tet: zeit­ge­schicht­li­che An­ge­le­gen­hei­ten dür­fen auch wei­ter Prä­senz er­hal­ten. Aber wie soll man Ge­ne­ra­tio­nen von her­an­ge­zo­ge­nen Er­in­ne­rungs­fe­ti­schi­sten er­klä­ren, dass es auch ein fal­sches Er­in­nern ge­ben kann?

Ein Denk­spiel: Wir schrei­ben das Jahr 1966. Al­bert Speer, Hit­lers Bau­mei­ster und Rü­stungs­mi­ni­ster, mit du­bio­sen Aus­sa­gen 1946 in Nürn­berg vor dem Strang be­wahrt, wird 1966 aus dem Ge­fäng­nis ent­las­sen. Er schreibt we­ni­ge Jah­re spä­ter ein Buch, er er­in­nert sich – und zwar in sei­nem Sinn. Neh­men wir an, sei­ner­zeit hät­te es schon das In­ter­net mit dem ak­tu­el­len Sta­tus quo ge­ge­ben. Speer hät­te nun Goog­le ver­an­las­sen kön­nen, dass Links ge­löscht wer­den, die ei­ne an­de­re Sicht der Din­ge dar­stell­ten, als er in sei­nem Buch. Wer hät­te die Li­ni­en von Per­sön­lich­keits­schutz und not­wen­di­ger zeit­ge­schicht­li­cher In­for­ma­ti­on ge­zo­gen? Und vor al­lem: Was hät­te dies für die Er­in­ne­rungs­kul­tur nach 1966 be­deu­tet?

Das Bio­gra­phis­mus-Pro­blem

Goog­le beugt sich dem Ur­teil in vor­aus­ei­len­der Wei­se. Als Mitt­ler von In­for­ma­ti­on hat man we­der Zeit noch In­ter­es­se an ei­ner fall­wei­sen Un­ter­su­chung und gibt den Wün­schen prak­tisch un­ge­prüft nach. Po­li­ti­ker säu­bern ih­re Bio­gra­phien. Sie re­kla­mie­ren für sich ein »Recht auf Ver­ges­sen«, das sie an­de­ren wo­mög­lich nicht zu­ge­ste­hen. Lö­schungs­wett­läu­fe be­gin­nen.

Aber war­um soll »ver­ges­sen« wer­den? Was ist mit je­nem Klä­ger, des­sen Pri­vat­in­sol­venz aus den 1990er Jah­ren im­mer noch ver­linkt war? Hat er je­mals ei­ne In­itia­ti­ve unter­nommen und dar­auf hin­ge­wie­sen, dass er es ge­schafft hat und schul­den­frei wur­de? Kann es nicht viel­mehr ei­ne Aus­zeich­nung sein, dass er sei­ne fi­nan­zi­el­len Pro­ble­me über­wunden hat? Wei­ter ge­dacht als im kon­kre­ten Bei­spiel: Wie sieht es mit dem Ge­dan­ken der Re­so­zia­li­sie­rung aus, der Straf­tä­ter wie­der in die Ge­sell­schaft ein­glie­dern soll?

Der Wunsch nach Lö­schung der ver­meint­li­chen Ma­kel ent­steht, weil die Ge­sell­schaft seit je nicht in der La­ge ist, Feh­ler, und sei­en sie auch nur halt­lo­se Ver­däch­ti­gun­gen, als sol­che ent­spre­chend zu ru­bri­zie­ren. Wenn ei­ne Per­son X ei­nes De­likts A be­schul­digt wird und sich die­se An­schul­di­gung spä­ter als halt­los her­aus­stellt, feh­len die In­stru­men­te des Um­gangs. X – ob öf­fent­li­che Per­son oder nicht – wird dar­auf drin­gen, al­le Hin­wei­se zu A ent­fer­nen zu las­sen. Denn, so der Volks­mund: »Et­was bleibt im­mer hän­gen«. Das ver­meint­li­che De­likt wird im­mer im­pli­zit mit der Per­son in Ver­bin­dung ge­bracht wer­den, auch wenn es halt­los sein soll­te oder ju­ri­stisch ver­jährt ist. Da­für sorgt schon der all­ge­gen­wär­ti­ge Bio­gra­phis­mus der Me­di­en, der aus Grün­den der Ein­fach­heit fast im­mer Prio­ri­tät vor sach­be­zo­ge­nen Dis­kur­sen er­hält.

Die­ses Nicht­ver­ges­sen dem In­ter­net an­zu­la­sten, greift zu kurz. Ent­schei­dend ist nicht der Link, die Be­haup­tung, die An­schul­di­gung – ent­schei­dend ist der so­zia­le Um­gang da­mit, der Um­gang mit ei­ner Mel­dung, ei­nem Ver­dacht, dem Re­sul­tat ei­ner Be­weis­auf­nah­me, ei­ner Ge­richts­ver­hand­lung, ei­ner Klar­stel­lung. Re­le­vant müss­te sein, das un­be­weis­ba­re Ge­rücht wie das tat­säch­lich Ge­sche­he­ne nach in­sti­tu­tio­nel­ler Ver- und Be­hand­lung auf sich be­ru­hen zu las­sen. Dies wür­de nicht we­ni­ger als ei­nen neu­en Um­gang mit Bio­gra­phien be­deu­ten. Statt Ver­ges­sen soll­te ein Ver­ge­ben die Ma­xi­me ei­ner Ge­sell­schaft sein. Ge­for­dert ist Ver­trau­en statt Ver­däch­ti­gung, Ver­ge­ben statt Ver­ges­sen. Ein Ge­richts­be­schluss, ei­ne er­wie­se­ne Un­schuld, ja auch die tä­ti­ge Reue ei­nes straf­fäl­lig ge­wor­de­nen dür­fen nicht mehr als rhe­to­ri­sche Mu­ni­ti­on ver­wen­det wer­den, die bei Alarm aus den Ka­no­nen der Me­di­en ab­ge­feu­ert wer­den.

Da­bei ist es na­tür­lich ver­füh­re­risch, den Al­go­rith­mus mit mensch­li­chem Ein­grei­fen zu bän­di­gen. Es min­dert die Krän­kung, von an­onym im­ple­men­tier­ten Pro­gram­men er­wischt wor­den zu sein Da­bei wird je­doch die Ho­heit der In­for­ma­ti­on von der All­ge­mein­heit, neu­deutsch: dem Dis­kurs­raum, auf den ein­zel­nen, den Be­trof­fe­nen ver­la­gert. Und zwar un­ab­hän­gig von den tat­säch­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten; der Haut­gout der Dis­kri­mi­nie­rung ge­nügt als Le­gi­ti­ma­ti­on. War dies vor­ge­se­hen, als man die Per­sön­lich­keits­rech­te zum neu­en gol­de­nen Kalb ei­ner auf In­di­vi­dua­lis­mus ab­ge­ho­be­nen Ge­sell­schaft im­ple­men­tier­te?

Löst man die Eu­GH-Recht­spre­chung ein, soll­te man das »Recht auf Ver­ges­sen« ehr­li­cher­wei­se das »Recht auf Ver­tu­schen« nen­nen. Dies um­ge­setzt, ver­führt es wei­ter zum arg­lo­sen Um­gang des Nut­zers mit dem Netz ge­ge­be­nen­falls auch In­tim­stes zu pu­bli­zie­ren. Schließ­lich kann man es ja bei Be­darf ent­fer­nen las­sen. Da­bei wer­den nicht die Ka­ta­kom­ben der Ar­chi­ve zu Or­ten der Ma­ni­pu­la­ti­on, son­dern die Such­ma­schi­nen im In­ter­net. Sie mu­tie­ren zu Knech­ten der Ge­fäl­lig­keit. Schließ­lich geht es ums Ge­schäft.

11 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Glück­lich ist, wer ver­gisst, was doch nicht zu än­dern ist wird auch in Strauss’ Fle­der­maus ge­sun­gen (ab 1:15).

    Ich glau­be, dass es da gar kei­ne Ent­schei­dung gibt, son­dern ein­mal das Er­in­nern und dann wie­der das Ver­ges­sen (und je­des Mal: Ver­ge­ben) er­folg­reich war oder ist (Chri­sti­an Mei­ers Es­say »Das Ge­bot zu ver­ges­sen und die Un­ab­weis­bar­keit des Er­in­nerns. Vom öf­fent­li­chen Um­gang mit schlim­mer Ver­gan­gen­heit« be­schäf­tigt sich hi­sto­risch und zeit­ge­schicht­lich mit die­ser Fra­ge).

    Nicht der Über­brin­ger der schlech­ten Nach­richt, ist für die­se ver­ant­wort­lich: Ge­nau ent­ge­gen die­ser Fest­stel­lung hat der Eu­GH ge­ur­teilt (Ir­gend­wo ha­be ich ge­le­sen, dass goog­le ver­sucht das Ur­teil mög­lichst eng aus­zu­le­gen, ei­ne Su­che könn­te dann über ähn­li­che Be­grif­fe trotz­dem er­folg­reich sein).

    Was bei den mei­sten Tech­nik­kri­ti­ken mit­schwingt, ist, dass die Tech­nik im­mer Mit­tel, aber kein (sinn­erfül­len­der) Zweck ist, dass folg­lich die Ver­hei­ßun­gen der neu­sten smart-pho­nes leer blei­ben und blei­ben müs­sen (bzw. sie über ei­ne et­wa­ige exi­sten­zi­el­le Lee­re nur hin­weg­täu­schen). — Ei­ne sinn­stif­ten­de (er­fül­len­de) Be­schäf­ti­gung wä­re ei­ne (wie auch im­mer aus­zu­buch­sta­bie­ren­de) kul­tu­rel­le (in der die Tech­nik si­cher­lich ih­ren Platz als Ge­hil­fin be­kä­me).

    Theo­re­tisch hät­te sich goog­le auch in die­sem Fall zum Kämp­fer ge­gen Zen­sur (vgl. Chi­na) sti­li­sie­ren kön­nen, was al­ler­dings un­ter­blie­ben ist.

    Letzt­lich könn­te man das Ur­teil auch als Ver­trau­en in die Tech­nik (und als Miss­trau­en dem Men­schen ge­gen­über) in­ter­pre­tie­ren, weil der von Dir zu Recht »be­schwo­re­ne« so­zia­le Um­gang gar nicht be­müht wer­den muss (es wird ein­fach tech­nisch kor­ri­giert, das er­in­nert, an ein ähn­li­che Dis­kus­si­on da­mals auf N).

    Ein schö­ner und aus­ge­wo­ge­ner Text mit in­ter­es­san­ten Ver­bin­dun­gen (et­wa »2001 Odys­see im Welt­raum«)

  2. Mei­ers Buch hät­te da auch noch rein­ge­passt, denn auch er plä­diert nicht auf das Ver­ges­sen als Selbst­zweck, son­dern als Mög­lich­keit, wie Ge­sell­schaf­ten mit ih­ren Tä­tern in Kom­mu­ni­ka­ti­on kom­men. Da­bei soll­te man, wenn ich ihn recht ver­ste­he, nicht prä­zi­se je­de noch so klei­ne Ver­feh­lung stig­ma­ti­sie­ren oder gar recht­lich ab­grei­fen, son­dern erst ab ei­ner ge­wis­sen Schwel­le erst süh­nen.

    Die Tech­nik­kri­tik wie ich sie der­zeit in den Feuil­le­tons wahr­neh­me di­ver­si­fi­ziert nicht zwi­schen Nut­zer und Nicht-Nut­zer und kon­stru­iert ei­ne Art von Schick­sals­raum, der nur durch Ein­grif­fe ge­bän­digt wer­den kann. Da­bei wird gar nicht nach der Le­gi­ti­ma­ti­ons­ba­sis ge­fragt, was wohl Grün­de hat.

  3. Ja, ge­nau, so ha­be ich das auch in Er­in­ne­rung: Man müs­se um wie­der zu­sam­men le­ben zu kön­nen auch ver­ges­sen kön­nen, al­so die »klei­nen Ver­feh­lun­gen« nicht ra­di­kal ver­fol­gen (sehr wohl aber die Haupt­tä­ter und ‑ver­ant­wort­li­chen).

    Ich hat­te oben nicht die der­zei­ti­ge Tech­nik­kri­tik, wie im FAZ-Feuil­le­ton prak­ti­ziert, im Au­ge, da hast Du recht, die ist viel gro­ber.

  4. Nur ein klei­ner Ein­wand, da ich bis­lang nur das ei­gent­li­che Ur­teil ge­le­sen, mir aber noch kei­ne – so­fern das über­haupt mög­lich ist- ab­schlie­ßen­de Mei­nung zu die­sem Kom­plex ge­bil­det ha­be: Fäl­le wie den von Speer etc. hat der Eu­GH durch­aus ge­se­hen, in­dem es für die­se das Recht auf Ent­fer­nung von ent­spre­chen­den Links zu aus Such­ab­fra­gen nach Per­so­nen­na­men re­sul­tie­ren­den Er­geb­nis­sen ab­lehnt. »Dies wä­re je­doch nicht der Fall, wenn sich aus be­son­de­ren Grün­den – wie der Rol­le der be­tref­fen­den Per­son im öf­fent­li­chen Le­ben – er­ge­ben soll­te, dass der Ein­griff in die Grund­rech­te die­ser Per­son durch das über­wie­gen­de In­ter­es­se der brei­ten Öf­fent­lich­keit dar­an, über die Ein­be­zie­hung in ei­ne der­ar­ti­ge Er­geb­nis­li­ste Zu­gang zu der be­tref­fen­den In­for­ma­ti­on zu ha­ben, ge­recht­fer­tigt ist.« http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=152065&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=621977#point97

  5. Vie­len Dank für den Hin­weis. Ich glau­be ja, dass das Ur­teil weit re­strik­ti­ver in­ter­pre­tiert wer­den wird, schon um »lä­sti­ge« Strei­tig­kei­ten zu ver­mei­den. Da­zu tra­gen ja dehn­ba­re Be­grif­fe wie »überwiegende[s] In­ter­es­se« und »brei­te Öf­fent­lich­keit« bei, die frei in­ter­pre­tier­bar sind. Deut­sche Me­di­en ver­pi­xeln ja auch in­zwi­schen sehr groß­zü­gig, al­les war den An­schein von Per­sön­lich­keits­rechts­ver­let­zun­gen er­wecken könn­te. Neu­lich wur­de so­gar der ver­un­fall­te Höh­len­for­scher von ei­ner Nach­rich­ten­sen­dung nicht voll­na­ment­lich ge­nannt.

    Das sind Pe­ti­tes­sen die in je­dem ein­zel­nen Fall be­stimmt ih­re Be­rech­ti­gung ha­ben, aber grund­sätz­lich wer­den In­for­ma­tio­nen auch da­hin­ge­hend wert­los ge­macht. Wenn auf ei­nem Bild al­le Prot­ago­ni­sten ver­pi­xelt sind, braucht man es nicht mehr zu zei­gen, es hat dann sei­nen »Wert« ver­lo­ren (falls es je­mals ei­nen ge­habt hat). Ent­spre­chend wä­re ja auch dann ei­ne Be­richt­erstat­tung zu be­wer­ten, in der ei­ne Lö­schung von Hin­wei­sen dar­auf schon im­pli­zit ist.

  6. Ich wür­de sa­gen: Das In­ter­net kann we­der er­in­nern noch ver­ges­sen, es kann nur spei­chern. Und das ei­gent­li­che Pro­blem für den Men­schen, vul­go User, se­he ich dar­in, daß die nicht oder schlecht ge­ord­ne­te Da­ten­wu­che­rung – so wür­de ich das ma­schi­nel­le »Nicht­ver­ges­sen­kön­nen« be­zeich­nen – in al­len Be­rei­chen und Be­lan­gen den Main­stream stärkt. Über Sei­te 2 kommt tat­säch­lich kaum je­mand hin­aus, und eben­so tat­säch­lich wird es auf den Sei­ten 3, 4, 5 usw. der Spei­cher­ma­schi­nen im­mer öder. Ei­ne Da­ten­wü­ste­nei, Wis­sens­müll­hal­de – so die gän­gi­gen Me­ta­phern des kol­lek­ti­ven Spre­chens, die ja doch et­was von der (di­gi­ta­len) Wirk­lich­keit wie­der­ge­ben. »Man« könn­te im­mer mehr wis­sen, aber fak­tisch wird in­fol­ge des di­gi­ta­len Gleich­schal­tungs­ef­fekts im­mer we­ni­ger ge­wußt und noch we­ni­ger er­kannt.

  7. Wenn ich noch et­was hin­zu­fü­gen darf: Ein »Recht auf Ver­ges­sen« ist mir grund­sätz­lich sym­pa­thisch. Nur soll­te es nicht so ein­fach ge­hand­habt wer­den, daß je­mand, be­son­ders Per­so­nen des öf­fent­li­chen Le­bens, zum Bei­spiel in die­sem Blog hier sein Ver­ges­sen­wer­den ein­for­dern kann. Schließ­lich ist das hier auch der Blog ei­nes Je­mand, der mög­li­cher­wei­se gu­te Grün­de für sei­ne Äu­ße­run­gen hat. Wenn ei­ne Per­son die Lö­schung oder De­ak­ti­vie­rung ei­nes Ein­trags ver­an­laßt, soll­te dies nur bei Vor­lie­gen trif­ti­ger Grün­de mög­lich sein. Und die­se Grün­de müs­sen erst ein­mal gel­tend ge­macht wer­den. Der Rück­zug auf ein Recht auf die Pri­vat­sphä­re ist in ei­nem öf­fent­li­chen Raum, der das Pri­va­te an­saugt und bei­de Sphä­ren ver­mengt, oft nur Heu­che­lei.

  8. Das Pro­blem ist ja, dass die Such­ma­schi­ne ei­gent­lich des­in­ter­es­siert ist, auf was sie ver­linkt (las­sen wir die Sa­che mit der Wer­bung mal au­ßen vor). Es müss­te al­so ei­ne über­ge­ord­ne­te In­sti­tu­ti­on im­ple­men­tiert, die auf Dau­er nichts an­de­res macht als Lösch­an­trä­ge zu über­prü­fen. Zwar hat Goog­le ei­nen »Lösch-Bei­rat« ins Le­ben ge­ru­fen, aber das ist bei der Mas­se der ein­ge­hen­den An­trä­ge eher ei­ne Her­ku­les­auf­ga­be. Dass da­bei Po­li­ti­ker ihr Müt­chen küh­len und dies als Chan­ce zur Auf­po­lie­rung ih­rer Re­pu­ta­ti­on se­hen, macht die Sa­che nicht bes­ser. Die 70.000 An­trä­ge wer­den an­de­re be­ar­bei­ten.

    Es ist gar nicht mög­lich, die di­ver­gie­ren­den In­ter­es­sen in sol­chen Ver­fah­ren auch nur ei­ni­ger­ma­ßen sinn­voll mit­ein­an­der zu ver­knüp­fen. Schon rein zeit­lich nicht. Der Auf­wand steht in kei­nem Ver­hält­nis zum Er­trag. Al­so wird in der Re­gel ei­ne nach­gie­bi­ge Po­si­ti­on ein­ge­nom­men wer­den, d. h. man wird im Zwei­fel den Link ent­fer­nen. Der User merkt’s ja nicht.

    Die Ver­ant­wor­tung, sei­ne Pri­vat­sphä­re so­zu­sa­gen sel­ber zu kon­trol­lie­ren, in dem man es viel­leicht ver­mei­det be­stimm­te Bil­der oder Tex­te ins Netz zu stel­len, wird suk­zes­si­ve de­le­giert. Das ist ir­gend­wie ein Trend.

  9. Mir ist un­klar wie man ein sol­ches Recht durch­set­zen und da­mit auch be­grün­den kann: Et­was Ver­ges­sen kön­nen nur Men­schen, was letzt­lich al­so be­werk­stel­ligt wer­den soll (muss), ist ein Ein­griff in das was ge­dacht und ab­ge­ru­fen wer­den kann, al­so in un­se­re Ge­hir­ne (das ist das ei­gent­lich Be­äng­sti­gen­de).

    Das In­ter­net ist ei­ne rie­si­ge Da­ten­bank oh­ne über­ge­ord­ne­te Ka­te­go­ri­sie­rung (Tei­le, et­wa ein­zel­ne Sei­ten, sind sehr wohl ge­ord­net). »Das Pro­blem« ist die Fül­le an In­for­ma­ti­on, nicht die feh­len­de Ord­nung (man kann sich auch in gut ge­ord­ne­te Sei­ten wie der Wi­ki­pe­dia rasch ver­lie­ren). Al­ler­dings: Wer ein­mal zehn (oder mehr) Bü­cher oder Fach­zeit­schrif­ten mehr oder we­ni­ger gleich­zei­tig ver­wen­den muss­te, wird ei­nen ähn­li­chen Ver­wir­rungs­ef­fekt be­ob­ach­ten kön­nen. — Es kommt im­mer auch auf die Fer­tig­kei­ten, die me­dia­len wie die üb­ri­gen, an.

  10. @G.K. (le­dig­lich der Er­hel­lung hal­ber): In­for­ma­tio­nen über ver­häng­te Stra­fen wer­den grund­sätz­lich nicht ge­löscht. Sie wer­den le­dig­lich »ge­stri­chen«. Nur aus dem Bun­des­zen­tral­re­gi­ster, wel­ches als In­for­ma­ti­ons­sam­mel­stel­le ver­stan­den wer­den muss, wer­den die­se In­for­ma­tio­nen tat­säch­lich ent­fernt. Die Frist da­für be­trägt min­de­stens fünf Jah­re. Der dau­er­haf­te Ent­zug der Fahr­erlaub­nis hin­ge­gen wird ne­ben ei­ni­gen an­de­ren Sank­tio­nen nie­mals ent­fernt.

    Am Ran­de er­hö­be sich die Fra­ge, wes­halb ei­ne Stra­fe nach de­ren Ver­bü­ßung nicht als ge­tilgt gel­ten darf. Ei­ne Haft­stra­fe von we­ni­ger als drei Mo­na­te wird über zehn Jah­re hin­weg als Vor­stra­fe »warm­ge­hal­ten«. Aber auch nur dann, wenn der Ver­ur­teil­te bis­lang als un­be­schol­ten galt. Sonst sind’s 15 Jah­re.