Die digitale Welt, die seit einigen Jahren eruptiv die Lebensgewohnheiten der Menschen zu verändern scheint, hat einen neuen Rechtsbegriff hervorgebracht, der den revolutionären Impetus auf eine neue, in Windeseile errichtete Umgehungsstraße umleiten möchte und den wirren Verkehr auf den Datenautobahnen entlasten soll. Es ist die Rede vom »Recht auf Vergessen« bzw. »Recht auf Vergessenwerden«, welches durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs die Ordnungssehnsucht des analogen Biedermanns zu erfüllen trachtet.
Das Urteil gestattet ab sofort praktisch jedem die über ihn abgespeicherten Hinweise, die eine Suchmaschine findet, deaktivieren zu lassen. Der vom Link betroffene Inhalt selber wird dabei weder geprüft noch ist er Gegenstand des Interesses. Er muss nicht entfernt werden, was auch entbehrlich ist, da im digitalen Vollrausch der Überbringer längst zur wichtigsten Person wurde. Erleichtert stellt man fest, dass George Orwells Dystopie des Zeitungsfälschens je nach politischer Großwetterlage praktisch ausfällt. Hätte Orwell allerdings von Suchmaschinen und dem Internet auch nur eine Ahnung entwickelt, hätte sein Roman ziemlich sicher das Urteil antizipiert.
Die Furcht des Heuristikers
Der Archivar des digitalen Zeitalters ist eine Maschine, die mit von Menschen in eine bestimmte Reihenfolge programmierten Kriterien Medien aufspürt. Wie beim Bibliothekar, der einem früher auf Suchbegriffe hin eine Auswahl präsentierte, sind die Kriterien der Maschine letztlich ungewiss. Überhaupt sind die Gemeinsamkeiten zwischen menschlichen Findern und Maschinen verblüffend: Beide wählen aus, zumeist nach quantitativen Kriterien. Abseitiges kommt eher selten vor. Der menschliche Archivar hat selten eine Seite 2; der in Suchmaschinen agierende Frager verwendet die ihm angebotene zweite Seite ebenfalls sehr selten. Man sucht das schnelle Resultat.
Die Technifizierung der Wissenssuche im Internet ist dem Heuristiker unheimlich. Der Mensch, der gelernt hat, sich als Krone der Schöpfung zu sehen, kann sich nicht damit abfinden, einer Maschine unterlegen zu sein. So hat es Jahrzehnte gedauert bis die Schachspieler akzeptiert haben, dass Computer ihnen in nahezu allen Spielsituationen auf Dauer überlegen sein werden. Menschen sind gezwungen, sich in eine Parallelwelt zweiter Klasse zurückzuziehen. Hier dominiert der Fehler. In der Analyse der Partie entdeckt dann die Maschine, wie es hätte besser weiter gehen können. Die Schadensbegrenzung geht nur noch dahin, dass Menschen bei ihren Wettkämpfen nicht verbotenerweise auf der Toilette die Hilfe der Maschinen abfragen.
Während das Schachspiel mathematisch logisch erfassbar ist, gilt dies für die Suche im Internet nicht. Das macht die Sache noch vertrackter. Es ist etwas anderes, einen »besten Zug« in einer bestimmten Schachstellung oder die griffigsten und objektiv »wahren« Treffer zum Thema Tom Cruise und Scientology zu finden. Die Analyse wird zeigen, dass der Schachcomputer richtig lag. Aber die Suchmaschine liefert mir je nach den vorher von ihr gespeicherten Präferenzen andere Resultate. Und selbst auf einem absolut »sauberen«, von keinerlei Cookies verseuchten PC, fallen die Suchergebnisse unter Umständen stündlich anders aus. Es gibt, so die banale Erkenntnis, keine Gewissheiten, welches Resultat die oberste Position »verdient« hat. Die Suche wird so zu einem dynamischen Prozess, der aber bei der Findung der »Wahrheit« unter Umständen hinderlich ist. Die heuristischen Fähigkeiten des Menschen sind in der Bewertung gefragt; das wird häufig übersehen.
Dass dies nie anders war, dass sich eine »Lage« je nach der Nachrichtensituation verändert und demzufolge auch die Wahrnehmung bei Individuen schwankt, ist zwar eine Banalität, wird jedoch allzu selten bewusst gemacht.
Das Gefühl des Ausgeliefertseins durch die Kombination unpublizierter und somit intransparenter Kriterien, den sogenannten Algorithmen, wird noch verstärkt durch die unschlagbaren mnemotechnischen Künste der Maschinen. Der gängige Satz hierzu lautet: »Das Internet vergisst nicht«. Die Formulierung, pejorativ als Drohung aufgebracht ist griffig aber falsch. Sie erinnert ein wenig an die Schulzeit, in der einigen Lehrern nachgesagt wurde, schlechte Leistungen oder Disziplinlosigkeiten in dauerhafter Erinnerung zu behalten und damit ein Wohlverhalten a priori erzeugen wollten. So dient der Satz des nichtvergessenden Internet als latente Bedrohung und sittlicher Imperativ für den vermeintlich über die Strenge schlagenden Nutzer im virtuellen Raum.
Bei näherer Betrachtung wird die Sache deutlich relativiert. Jeder, der schon einmal nach älteren Medien im Internet gesucht hat, dürfte sich mühevoll durch die zum Teil redundanten Nichtigkeits-Links gewühlt haben, die sich weit jenseits einer Seite 2 oder 3, der menschlichen Halbwertzeit von relevanten Erinnerungen, bewegen. Oft ist ein Vorwissen erforderlich, um, wie früher bei den Großeltern, durch die Einkreisung von mehreren (Such-)Begriffen zum gewünschten Resultat zu kommen – und sei es auch nur um festzustellen, dass es keine Verbindung gibt.
So wird aus der Tugend des Speicherns von qualitativ durchaus ungleichem Wissen ein Makel, ja eine Gefahr. Um diese Gefahr dauerhaft, sozusagen unvergesslich, beim Rezipienten abzuspeichern, wird sie noch anthropomorphisiert, in dem eine Schreckensvision konstruiert wird: ein Mensch, der nicht vergessen kann. Bei diesem polemischen Konstrukt wird vergessen oder, schlimmer noch, verdrängt, dass technische Errungenschaften immer geschaffen wurden, um menschliche Grenzen aufzuheben und, um einen Terminus Heideggers zu paraphrasieren, Welt zu entdecken. Technik, so der naive Gedanke im 19. Jahrhundert, dient dem Menschen. Das bedeutet nicht, dass der Mensch der Technik nacheifert. Das Gegenteil ist der Fall. So werden selbst die großartigsten Sportler nie die Geschwindigkeiten von Automobilen erreichen können. Diese Grenze würde man jedoch heute ernsthaft nicht mehr gegen die Motorisierung einwenden wollen.
HAL9000
Hinter der Technikkritik verbargen sich immer auch Vorbehalte an der Einebnung von sozialen, politischen und ökonomischen Schranken. Eliten sahen ihre Privilegien schwinden und konstruierten Einwände, die innerhalb ihres Weltbilds schlüssig waren. Die Angst vor der ungeheuren Geschwindigkeit der Eisenbahn, die dem Menschen irgendwie schaden müsse, war in Wirklichkeit die Furcht vor der Trivialisierung des Reisens. Gleichzeitig wurde von restaurativen Kräften auch die Vermassung von Bildung und Kultur angegriffen. Als nichts mehr half wurden die Gefahren des exzessiven Lesens für das Augenlicht beschworen.
Es war unter anderem Martin Heidegger, der in seiner staksig vorgebrachten Kritik am »Ge-Stell« der Befragung der Technifizierung und deren Gefahren Mitte des 20. Jahrhunderts eine neue Facette gab. Es ist unmöglich Heideggers fast paranoide Furcht vor technischen Apparaten dabei nicht mitzudenken. Im Kern zeigt sich hier ein zutiefst aktueller Gedanke: Heidegger prognostiziert, dass der Mensch die Kontrolle über die von ihm geschaffene Technik verliert und sich die Verhältnisse subtil, aber unabänderlich umkehren. Man weiss nicht, ob Stanley Kubrick Heidegger gelesen hat, aber die ästhetische Behandlung dieses Problems hat Kubrick in seinem Film »2001 – Odyssee im Weltraum« aus dem Jahr 1968 vorgeführt und damit die Generation der Babyboomer bis aufs Mark erschüttert.
Kubrick zeigt in dem Film, wie der Computer HAL9000, der der Besatzung eines Raumschiffes, das sich auf einer Expedition zum Jupiter befindet, dienen soll, zum Herrscher und am Ende zum Mörder wird. Zunächst scheint der Computer ein konstruktiver, zuweilen sogar feingeistiger Diener. Über die Frage der Beurteilung eines technischen Problems kommt es zwischen Mensch und Maschine jedoch zum Dissens. Die Astronauten beschließen in einem schallabgedichteten Raum, HAL9000 vorübergehend abzuschalten, da sie einen Fehler im System der Maschine vermuten. Sie haben nicht damit gerechnet, dass HAL9000 ihre Lippen lesen kann und damit über den Plan informiert ist. Die Maschine nimmt die geplante Abschaltung sozusagen persönlich und entwirft nun ihrerseits einen Plan- Sukzessive werden die menschlichen Besatzungsmitglieder durch diverse technische Modifikationen getötet. Er bleibt alleine im Raumschiff mit dem in diesem Zusammenhang sarkastischen Namen »Discovery« zurück. Nicht der Jupiter wird entdeckt, sondern die sich verselbständigende Hybris einer Maschine.
Bedrückender ist wohl im Prä-Internet-Zeitalter die Gefahr der möglichen Usurpierung des Menschen durch Technik nicht inszeniert worden. Selbst im rhetorisch abgegriffenen Orwell-Klassiker »1984« wurde Technik nur als Mittel eingesetzt. Bei Kubrick übernahm sie die Macht wobei die Raumstation synonym für die Menschheit stand. Bei aller Brillanz hatte HAL9000 übersehen, dass er alleine den Zweck des Unternehmens, den Jupiter zu erkunden, ohne die Besatzung, die Menschen, nicht ausführen konnte. Sein Überleben war zwar gewährleistet – niemand schaltete ihn ab – aber unnütz. Die Morde an der Besatzung dienten nur dem nackten Selbsterhaltungswillen der Maschine; der Opfergedanke, der immer in der Naturwissenschaften implizit mitschwingt – war HAL9000 fremd.
Technikkritik im 21. Jahrhundert: Determinismus aus Kalkül
Nicht ganz unwichtig für die aktuelle Diskussion scheint, dass der Name »HAL« laut Angabe des Drehbuchschreibers Arthur C. Clarke, der auch die literarische Vorgabe geschrieben hatte, für »Heuristic ALgorithmic« stehen soll. Verblüffend, wie damit das Setting zur heutigen Technikkritik vorweggenommen wurde. Eine der lautesten Posaunen in diesem Chor stimmt seit geraumer Zeit das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an. Um sich nicht einer primitiven Technikkritik zeihen zu lassen, hat man als Urfeind des Menschen den Algorithmus und die Unternehmen ausgemacht, die mit der Implementierung dieser Programme auf dem kommerziellen Markt reüssieren. Um die Dominanz des eigentlich abstrakten Algorithmus zu unterstreichen, muss ein Fatum konstruiert werden, welches die Weltherrschaft der Maschinen als nicht mehr abwendbar darstellt. Konnten Technikverweigerer bisher die ihnen unheimlichen Apparaturen abschalten, so ist das heutzutage aufgrund der umsichgreifenden Vernetzung schlichtweg nicht mehr möglich, so die These. Mitgefangen, mitgehangen. Die Furcht vor der Beherrschung durch den Algorithmus muss auch für den Offliner gelten, um das Szenario mit entsprechender Wucht auszustatten. Die Technikkritik des 20. Jahrhunderts ließ noch Auswege offen. Im 21. Jahrhundert ist dies nicht mehr möglich. Der Hinweis auf die selbstbestimmte Verwendung wird zum Anachronismus, ja zur falschen Idylle.
Kaum berücksichtigt wird dabei, dass die scheinbare Unausweichlichkeit selber eher ein Kriterium dessen ist, was kritisiert wird. Menschliches Verhalten wird durch diese Form der Technikkritik praktisch als nutzlos dargestellt und entwertet. Man muss in der Zivilisationsgeschichte der Menschheit weit zurückgehen um einen ähnlichen Schicksalsglauben in den griechischen Dramen und Tragödien zu entdecken.
Aber keine Sorge: Das Determinismus-Postulat ist nur Kalkül, ein Auswuchs eines Alarmsystems, dass sich nicht anders Gehör zu verschaffen weiß, als die Rezipienten in permanentem Erregungs- und Empörungsmodus zu halten. Und dies mit den Mitteln derer, die man eigentlich vorgibt zu bekämpfen. Dabei könnte sich schnell ein abschwellender Bocksgesang einstellen. Wie sich zeigt sind die Deutschen mehr denn erwünscht relativ arglos, was die permanente Bespitzelung des Internetverkehrs angeht. Ähnlich könnten irgendwann die Erhitzungsaffekte gegen Suchmaschinentreffer in stoischem Gleichmut übergehen, etwa wenn vergegenwärtigt wird, dass die Beschwörungen des Unheils nicht mehr und nichts weniger als geschickte Inszenierungen der Restauration sind, deren Protagonisten um ihre in Jahrzehnten mühsam erworbenen medialen Reviere bangen.
Bollwerke gegen Vergessen: Bibliotheken
Zurück zur Frage, warum das Vergessen eine Tugend sein soll. Nietzsche sah es als notwendig an. »Gesund ist, wer vergaß« steht in seinem Vorspiel zur »Fröhlichen Wissenschaft«. Ein in Anbetracht des Schicksals des Philosophen fast tragischer Irrtum, auch wenn Nietzsche nicht das stumpfe, technifizierte Vergessen im Blick hatte, welches die Richter verordnet haben.
In Wirklichkeit zeigt sich, dass der Mensch ein Erinnerungstier ist. Er wirkt dem Vergessen seit tausenden von Jahren mit sisyphoshafter Wucht entgegen, indem er schreibt und speichert. Das Aufschreiben und das Speichern vereinigen sich im Buch gegen den Makel der Vergesslichkeit. Neben der Weitergabe von Wissen sollten Erkenntnisse auf Dauer nutzbar gemacht werden. Das Aufschreiben wurde gesammelt, in Klöstern, später in Bibliotheken. Sie sind Festungen gegen das Vergessen und Bollwerke gegen das (politisch) instrumentalisierte Tilgen von Wissen. In im wahrsten Sinne des Wortes bombensicheren Bunkern werden die Buchschätze der Menschheit gespeichert, als interessiere sich jemand nach einem nuklearen Overkill noch dafür. Bücherverbrennungen waren immer Versuche, Wissen zum Verschwinden zu bringen.
Mein Geschichtsunterricht in den 1970er Jahren lebte von der Furcht vor dem Vergessen der Ereignisse der Verbrechen der Nazis. Ich wurde sozialisiert mit Gedenktagen, Erinnerungsbüchern und –filmen, Narrationen und Deklamationen, die fast buddhistisch das Mantra vom »Nichtvergessen« predigten. Noch heute wird diese Erinnerungskultur zelebriert, in dem der Nachrichtenschauer Politiker aller Länder in allbekannter Geste an allbekannten Orten an Gedenkbouquets Schleifen zupfen sieht und dies mit Empathie verwechselt. Allüberall wurden Mahnmale errichtet, Denkmäler aufgestellt und an Erinnerungen erinnert. Bis in die letzten Winkel auch historisch noch so abwegiger Felder wird eine Kultur des Nicht-Vergessens heraufbeschworen. Die Generationen nach 1945 in Deutschland haben die Erinnerung andressiert bekommen; sie erinnern sich, weil sie es für ihre Pflicht halten und die zumeist unbekannte Schuld ihrer Eltern bzw. Großeltern damit sühnen wollen bzw. die in Sonntagsreden so massiv geforderte »Verantwortung« wahrnehmen wollen, dass sich Nazi- und Kriegsbarbarei nie mehr in ihrem politischen und sozialen Raum ereignen soll.
Die Erinnerung an die Erinnerung behauptet daher sinnvollerweise mit Inbrunst, dass es kein Vergessen geben darf. Jetzt ist die Erinnerung an Menschheitsverbrechen etwas anderes als über die vorübergehende Zahlungsunfähigkeit eines Selbständigen. Der EuGH hat diese Differenz ja durchaus gewichtet: zeitgeschichtliche Angelegenheiten dürfen auch weiter Präsenz erhalten. Aber wie soll man Generationen von herangezogenen Erinnerungsfetischisten erklären, dass es auch ein falsches Erinnern geben kann?
Ein Denkspiel: Wir schreiben das Jahr 1966. Albert Speer, Hitlers Baumeister und Rüstungsminister, mit dubiosen Aussagen 1946 in Nürnberg vor dem Strang bewahrt, wird 1966 aus dem Gefängnis entlassen. Er schreibt wenige Jahre später ein Buch, er erinnert sich – und zwar in seinem Sinn. Nehmen wir an, seinerzeit hätte es schon das Internet mit dem aktuellen Status quo gegeben. Speer hätte nun Google veranlassen können, dass Links gelöscht werden, die eine andere Sicht der Dinge darstellten, als er in seinem Buch. Wer hätte die Linien von Persönlichkeitsschutz und notwendiger zeitgeschichtlicher Information gezogen? Und vor allem: Was hätte dies für die Erinnerungskultur nach 1966 bedeutet?
Das Biographismus-Problem
Google beugt sich dem Urteil in vorauseilender Weise. Als Mittler von Information hat man weder Zeit noch Interesse an einer fallweisen Untersuchung und gibt den Wünschen praktisch ungeprüft nach. Politiker säubern ihre Biographien. Sie reklamieren für sich ein »Recht auf Vergessen«, das sie anderen womöglich nicht zugestehen. Löschungswettläufe beginnen.
Aber warum soll »vergessen« werden? Was ist mit jenem Kläger, dessen Privatinsolvenz aus den 1990er Jahren immer noch verlinkt war? Hat er jemals eine Initiative unternommen und darauf hingewiesen, dass er es geschafft hat und schuldenfrei wurde? Kann es nicht vielmehr eine Auszeichnung sein, dass er seine finanziellen Probleme überwunden hat? Weiter gedacht als im konkreten Beispiel: Wie sieht es mit dem Gedanken der Resozialisierung aus, der Straftäter wieder in die Gesellschaft eingliedern soll?
Der Wunsch nach Löschung der vermeintlichen Makel entsteht, weil die Gesellschaft seit je nicht in der Lage ist, Fehler, und seien sie auch nur haltlose Verdächtigungen, als solche entsprechend zu rubrizieren. Wenn eine Person X eines Delikts A beschuldigt wird und sich diese Anschuldigung später als haltlos herausstellt, fehlen die Instrumente des Umgangs. X – ob öffentliche Person oder nicht – wird darauf dringen, alle Hinweise zu A entfernen zu lassen. Denn, so der Volksmund: »Etwas bleibt immer hängen«. Das vermeintliche Delikt wird immer implizit mit der Person in Verbindung gebracht werden, auch wenn es haltlos sein sollte oder juristisch verjährt ist. Dafür sorgt schon der allgegenwärtige Biographismus der Medien, der aus Gründen der Einfachheit fast immer Priorität vor sachbezogenen Diskursen erhält.
Dieses Nichtvergessen dem Internet anzulasten, greift zu kurz. Entscheidend ist nicht der Link, die Behauptung, die Anschuldigung – entscheidend ist der soziale Umgang damit, der Umgang mit einer Meldung, einem Verdacht, dem Resultat einer Beweisaufnahme, einer Gerichtsverhandlung, einer Klarstellung. Relevant müsste sein, das unbeweisbare Gerücht wie das tatsächlich Geschehene nach institutioneller Ver- und Behandlung auf sich beruhen zu lassen. Dies würde nicht weniger als einen neuen Umgang mit Biographien bedeuten. Statt Vergessen sollte ein Vergeben die Maxime einer Gesellschaft sein. Gefordert ist Vertrauen statt Verdächtigung, Vergeben statt Vergessen. Ein Gerichtsbeschluss, eine erwiesene Unschuld, ja auch die tätige Reue eines straffällig gewordenen dürfen nicht mehr als rhetorische Munition verwendet werden, die bei Alarm aus den Kanonen der Medien abgefeuert werden.
Dabei ist es natürlich verführerisch, den Algorithmus mit menschlichem Eingreifen zu bändigen. Es mindert die Kränkung, von anonym implementierten Programmen erwischt worden zu sein Dabei wird jedoch die Hoheit der Information von der Allgemeinheit, neudeutsch: dem Diskursraum, auf den einzelnen, den Betroffenen verlagert. Und zwar unabhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten; der Hautgout der Diskriminierung genügt als Legitimation. War dies vorgesehen, als man die Persönlichkeitsrechte zum neuen goldenen Kalb einer auf Individualismus abgehobenen Gesellschaft implementierte?
Löst man die EuGH-Rechtsprechung ein, sollte man das »Recht auf Vergessen« ehrlicherweise das »Recht auf Vertuschen« nennen. Dies umgesetzt, verführt es weiter zum arglosen Umgang des Nutzers mit dem Netz gegebenenfalls auch Intimstes zu publizieren. Schließlich kann man es ja bei Bedarf entfernen lassen. Dabei werden nicht die Katakomben der Archive zu Orten der Manipulation, sondern die Suchmaschinen im Internet. Sie mutieren zu Knechten der Gefälligkeit. Schließlich geht es ums Geschäft.
Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist wird auch in Strauss’ Fledermaus gesungen (ab 1:15).
Ich glaube, dass es da gar keine Entscheidung gibt, sondern einmal das Erinnern und dann wieder das Vergessen (und jedes Mal: Vergeben) erfolgreich war oder ist (Christian Meiers Essay »Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit« beschäftigt sich historisch und zeitgeschichtlich mit dieser Frage).
Nicht der Überbringer der schlechten Nachricht, ist für diese verantwortlich: Genau entgegen dieser Feststellung hat der EuGH geurteilt (Irgendwo habe ich gelesen, dass google versucht das Urteil möglichst eng auszulegen, eine Suche könnte dann über ähnliche Begriffe trotzdem erfolgreich sein).
Was bei den meisten Technikkritiken mitschwingt, ist, dass die Technik immer Mittel, aber kein (sinnerfüllender) Zweck ist, dass folglich die Verheißungen der neusten smart-phones leer bleiben und bleiben müssen (bzw. sie über eine etwaige existenzielle Leere nur hinwegtäuschen). — Eine sinnstiftende (erfüllende) Beschäftigung wäre eine (wie auch immer auszubuchstabierende) kulturelle (in der die Technik sicherlich ihren Platz als Gehilfin bekäme).
Theoretisch hätte sich google auch in diesem Fall zum Kämpfer gegen Zensur (vgl. China) stilisieren können, was allerdings unterblieben ist.
Letztlich könnte man das Urteil auch als Vertrauen in die Technik (und als Misstrauen dem Menschen gegenüber) interpretieren, weil der von Dir zu Recht »beschworene« soziale Umgang gar nicht bemüht werden muss (es wird einfach technisch korrigiert, das erinnert, an ein ähnliche Diskussion damals auf N).
Ein schöner und ausgewogener Text mit interessanten Verbindungen (etwa »2001 Odyssee im Weltraum«)
Meiers Buch hätte da auch noch reingepasst, denn auch er plädiert nicht auf das Vergessen als Selbstzweck, sondern als Möglichkeit, wie Gesellschaften mit ihren Tätern in Kommunikation kommen. Dabei sollte man, wenn ich ihn recht verstehe, nicht präzise jede noch so kleine Verfehlung stigmatisieren oder gar rechtlich abgreifen, sondern erst ab einer gewissen Schwelle erst sühnen.
Die Technikkritik wie ich sie derzeit in den Feuilletons wahrnehme diversifiziert nicht zwischen Nutzer und Nicht-Nutzer und konstruiert eine Art von Schicksalsraum, der nur durch Eingriffe gebändigt werden kann. Dabei wird gar nicht nach der Legitimationsbasis gefragt, was wohl Gründe hat.
Ja, genau, so habe ich das auch in Erinnerung: Man müsse um wieder zusammen leben zu können auch vergessen können, also die »kleinen Verfehlungen« nicht radikal verfolgen (sehr wohl aber die Haupttäter und ‑verantwortlichen).
Ich hatte oben nicht die derzeitige Technikkritik, wie im FAZ-Feuilleton praktiziert, im Auge, da hast Du recht, die ist viel grober.
Nur ein kleiner Einwand, da ich bislang nur das eigentliche Urteil gelesen, mir aber noch keine – sofern das überhaupt möglich ist- abschließende Meinung zu diesem Komplex gebildet habe: Fälle wie den von Speer etc. hat der EuGH durchaus gesehen, indem es für diese das Recht auf Entfernung von entsprechenden Links zu aus Suchabfragen nach Personennamen resultierenden Ergebnissen ablehnt. »Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn sich aus besonderen Gründen – wie der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben – ergeben sollte, dass der Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, über die Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste Zugang zu der betreffenden Information zu haben, gerechtfertigt ist.« http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=152065&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=621977#point97
Vielen Dank für den Hinweis. Ich glaube ja, dass das Urteil weit restriktiver interpretiert werden wird, schon um »lästige« Streitigkeiten zu vermeiden. Dazu tragen ja dehnbare Begriffe wie »überwiegende[s] Interesse« und »breite Öffentlichkeit« bei, die frei interpretierbar sind. Deutsche Medien verpixeln ja auch inzwischen sehr großzügig, alles war den Anschein von Persönlichkeitsrechtsverletzungen erwecken könnte. Neulich wurde sogar der verunfallte Höhlenforscher von einer Nachrichtensendung nicht vollnamentlich genannt.
Das sind Petitessen die in jedem einzelnen Fall bestimmt ihre Berechtigung haben, aber grundsätzlich werden Informationen auch dahingehend wertlos gemacht. Wenn auf einem Bild alle Protagonisten verpixelt sind, braucht man es nicht mehr zu zeigen, es hat dann seinen »Wert« verloren (falls es jemals einen gehabt hat). Entsprechend wäre ja auch dann eine Berichterstattung zu bewerten, in der eine Löschung von Hinweisen darauf schon implizit ist.
Ich würde sagen: Das Internet kann weder erinnern noch vergessen, es kann nur speichern. Und das eigentliche Problem für den Menschen, vulgo User, sehe ich darin, daß die nicht oder schlecht geordnete Datenwucherung – so würde ich das maschinelle »Nichtvergessenkönnen« bezeichnen – in allen Bereichen und Belangen den Mainstream stärkt. Über Seite 2 kommt tatsächlich kaum jemand hinaus, und ebenso tatsächlich wird es auf den Seiten 3, 4, 5 usw. der Speichermaschinen immer öder. Eine Datenwüstenei, Wissensmüllhalde – so die gängigen Metaphern des kollektiven Sprechens, die ja doch etwas von der (digitalen) Wirklichkeit wiedergeben. »Man« könnte immer mehr wissen, aber faktisch wird infolge des digitalen Gleichschaltungseffekts immer weniger gewußt und noch weniger erkannt.
Wenn ich noch etwas hinzufügen darf: Ein »Recht auf Vergessen« ist mir grundsätzlich sympathisch. Nur sollte es nicht so einfach gehandhabt werden, daß jemand, besonders Personen des öffentlichen Lebens, zum Beispiel in diesem Blog hier sein Vergessenwerden einfordern kann. Schließlich ist das hier auch der Blog eines Jemand, der möglicherweise gute Gründe für seine Äußerungen hat. Wenn eine Person die Löschung oder Deaktivierung eines Eintrags veranlaßt, sollte dies nur bei Vorliegen triftiger Gründe möglich sein. Und diese Gründe müssen erst einmal geltend gemacht werden. Der Rückzug auf ein Recht auf die Privatsphäre ist in einem öffentlichen Raum, der das Private ansaugt und beide Sphären vermengt, oft nur Heuchelei.
Das Problem ist ja, dass die Suchmaschine eigentlich desinteressiert ist, auf was sie verlinkt (lassen wir die Sache mit der Werbung mal außen vor). Es müsste also eine übergeordnete Institution implementiert, die auf Dauer nichts anderes macht als Löschanträge zu überprüfen. Zwar hat Google einen »Lösch-Beirat« ins Leben gerufen, aber das ist bei der Masse der eingehenden Anträge eher eine Herkulesaufgabe. Dass dabei Politiker ihr Mütchen kühlen und dies als Chance zur Aufpolierung ihrer Reputation sehen, macht die Sache nicht besser. Die 70.000 Anträge werden andere bearbeiten.
Es ist gar nicht möglich, die divergierenden Interessen in solchen Verfahren auch nur einigermaßen sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Schon rein zeitlich nicht. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Ertrag. Also wird in der Regel eine nachgiebige Position eingenommen werden, d. h. man wird im Zweifel den Link entfernen. Der User merkt’s ja nicht.
Die Verantwortung, seine Privatsphäre sozusagen selber zu kontrollieren, in dem man es vielleicht vermeidet bestimmte Bilder oder Texte ins Netz zu stellen, wird sukzessive delegiert. Das ist irgendwie ein Trend.
Mir ist unklar wie man ein solches Recht durchsetzen und damit auch begründen kann: Etwas Vergessen können nur Menschen, was letztlich also bewerkstelligt werden soll (muss), ist ein Eingriff in das was gedacht und abgerufen werden kann, also in unsere Gehirne (das ist das eigentlich Beängstigende).
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Das Internet ist eine riesige Datenbank ohne übergeordnete Kategorisierung (Teile, etwa einzelne Seiten, sind sehr wohl geordnet). »Das Problem« ist die Fülle an Information, nicht die fehlende Ordnung (man kann sich auch in gut geordnete Seiten wie der Wikipedia rasch verlieren). Allerdings: Wer einmal zehn (oder mehr) Bücher oder Fachzeitschriften mehr oder weniger gleichzeitig verwenden musste, wird einen ähnlichen Verwirrungseffekt beobachten können. — Es kommt immer auch auf die Fertigkeiten, die medialen wie die übrigen, an.
Es ist längst Standard, das Strafen aus dem sogenannten »Bundeszentralregister« nach gewissen Fristen entfernt werden. Man nennt das interessanterweise »getilgt« und nicht »gelöscht«.
@G.K. (lediglich der Erhellung halber): Informationen über verhängte Strafen werden grundsätzlich nicht gelöscht. Sie werden lediglich »gestrichen«. Nur aus dem Bundeszentralregister, welches als Informationssammelstelle verstanden werden muss, werden diese Informationen tatsächlich entfernt. Die Frist dafür beträgt mindestens fünf Jahre. Der dauerhafte Entzug der Fahrerlaubnis hingegen wird neben einigen anderen Sanktionen niemals entfernt.
Am Rande erhöbe sich die Frage, weshalb eine Strafe nach deren Verbüßung nicht als getilgt gelten darf. Eine Haftstrafe von weniger als drei Monate wird über zehn Jahre hinweg als Vorstrafe »warmgehalten«. Aber auch nur dann, wenn der Verurteilte bislang als unbescholten galt. Sonst sind’s 15 Jahre.