»Die gro­ße Ek­sta­se des Bild­schnit­zers Stei­ner«

Im METRO Ki­no­kul­tur­haus in Wien gibt es der­zeit ei­ne in­ter­es­san­te Film­schau: »Pe­ter Hand­ke geht ins Ki­no«. 27 Fil­me, die Pe­ter Hand­ke aus­ge­sucht hat, wer­den hier bis Mit­te No­vem­ber ge­zeigt wer­den. So­fern man die Zet­tel Hand­kes le­sen kann, sind nicht al­le sei­ne Wün­sche er­füllt wor­den, aber sehr vie­le. Das Pan­ora­ma der Aus­wahl ist breit ge­fä­chert: Es reicht von Ernst Lu­bit­schs »La­de Windermere’s Fan« von 1925 bis zur sau­di-ara­bi­sch/­­deut­schen Co-Pro­duk­ti­on »Das Mäd­chen Wadj­da«. Vier Fil­me hat­te Hand­ke von John Ford auf­ge­schrie­ben, zwei Mal Yasu­hi­ro Ozu, Ernst Lu­bit­sch, Ab­bas Ki­aro­st­ami, Sa­ty­a­jit Ray und Ro­bert Bres­son (so­weit an das ent­zif­fern kann).

Hand­kes Aus­wahl zei­tigt auch Über­ra­schun­gen. Ei­ne da­von ist der Do­ku­men­tar­film »Die gro­ße Ek­sta­se des Bild­schnit­zers Stei­ner« von Wer­ner Her­zog aus dem Jahr 1974. Ein Por­trait so­wohl des Ski­sprin­gers Wal­ter Stei­ner, des Ski­sprin­gens der 1970er Jah­re und des Lei­stungs­sports ins­ge­samt, aber ver­blüf­fen­der­wei­se nicht ver­al­tet, eher im Ge­gen­teil. Voll­kom­men un­zeit­ge­mäss an die­sem Film ist, mit wel­chem Re­spekt Her­zog sei­nem Prot­ago­ni­sten be­geg­net.

Ein Film al­so nicht nur zur Ein­stim­mung auf den bald be­gin­nen­den Ski­sprung-Zir­kus.


Er­gän­zung No­vem­ber 2015: Hier ein Vi­deo über das Le­ben Wal­ter Stei­ners nach der Sport­ler­kar­rie­re.

Der Licht­samm­ler und sein Sohn

Ei­ne Be­geg­nung in Hi­ro­shi­ma

Es wird im Jahr 1978 ge­we­sen sein, zu ei­ner Zeit, als an den Uni­ver­si­tä­ten noch ein we­nig schöp­fe­ri­sche Un­ru­he zu fin­den war, da sah ich mich in ei­ner ba­sis­de­mo­kra­ti­schen Ver­samm­lung auf­ge­ru­fen, mei­ne Stim­me für Ro­bert Jungk ab­zu­ge­ben. Der Zukunfts­forscher, so wur­de er ti­tu­liert, soll­te ei­ne Pro­fes­sur an der Salz­bur­ger Uni­ver­si­tät er­hal­ten. Na­tür­lich hat­te ich von Ro­bert Jungk schon ge­hört, Bü­cher wie Der Atom­staat wa­ren den lin­ken Stu­den­ten zu­min­dest dem Na­men nach be­kannt. Hät­te ich mich, wie je­ne Kol­le­gen, die in Bus­sen von Salz­burg nach Zwen­ten­dorf ge­fah­ren wa­ren, im Wi­der­stand ge­gen das öster­rei­chi­sche Atom­kraft­werk en­ga­giert, ich hät­te wohl et­was mehr ge­wußt über den Mann dem wei­ßen Haar­schopf, wä­re ihm viel­leicht so­gar über den Weg ge­lau­fen. Aber daß wir uns längst mit­ten in ei­ner Um­welt­kri­se be­fan­den, die zu­neh­mend dra­ma­tisch wur­de, war mir da­mals noch nicht klar. Ro­bert Jungk hin­ge­gen war ei­ner der Er­sten und Hell­sich­tig­sten, wenn es um öko­lo­gi­sche The­men ging. Das weiß ich heu­te, und ge­nau­er weiß ich es auch nur, weil ich un­längst ei­nen Vor­trag von Pe­ter Ste­phan Jungk über sei­nen Va­ter ge­hört ha­be.

Von Pe­ter Ste­phan Jungk hat­te ich wäh­rend je­ner ba­sis­de­mo­kra­ti­schen Ver­samm­lung wo­mög­lich ein Buch in der Um­hän­ge­ta­sche: Stech­pal­men­wald, er­schie­nen in der ex­qui­si­ten Coll­ec­tion S. Fi­scher. Selt­sam, ich kam lan­ge nicht auf den Ge­dan­ken, zwi­schen die­sem Au­tor und dem be­rühm­ten Jour­na­li­sten Ro­bert Jungk ei­nen Zu­sam­men­hang her­zu­stel­len. Ich glau­be tat­säch­lich, Pe­ter – so nen­ne ich ihn in­zwi­schen – hat­te an­schei­nend nie mit den Schwie­rig­kei­ten zu kämp­fen, die sich ein­stel­len kön­nen, wenn der Sohn in die Fuß­stap­fen ei­nes be­rühm­ten Va­ters tritt. Die bei­den ver­stan­den ein­an­der sehr gut, Pe­ter be­zeich­net den Va­ter als sei­nen »be­sten Freund«, an den er noch heu­te je­den Tag we­nig­stens ein­mal den­ke, aber die Re­de im Frie­dens­mu­se­um von Hi­ro­shi­ma am 3. März 2014 war die er­ste öf­fent­li­che, schrift­lich fi­xier­te Äu­ße­rung über Ro­bert, der Freun­den und Fa­mi­li­en­mit­glie­dern »Bob« ge­ru­fen wur­de.

Das ein­stöcki­ge, von ei­nem Park um­ge­be­ne Frie­dens­mu­se­um wirkt flach, es paßt sich dem Erd­bo­den an, er­hebt sich nur we­nig über ihn und mime­ti­siert so die to­ta­le Zer­stö­rung, den ground ze­ro, den die Atom­bom­be am 6. Au­gust 1945 hin­ter­las­sen hat. Zu­gleich aber wächst hier et­was, die Zer­stö­rung hat nicht das letz­te Wort be­hal­ten, es wach­sen wun­der­ba­re Kusu-Bäu­me, die man in der er­sten Nach­kriegs­zeit ge­pflanzt hat. Als ich mit Pe­ter über die Brücke in die heu­ti­ge In­nen­stadt ge­he, deu­te ich auf das Spi­tal, in dem mei­ne Toch­ter zur Welt ge­kom­men ist, gleich ge­gen­über vom Mu­se­um, aus dem Zim­mer im drit­ten Stock, wo sie ih­re er­sten Atem­zü­ge ge­tan hat, streift der Blick über das Mu­se­um, die Bäu­me, die Hoch­häu­ser im Hin­ter­grund und die Lücke, die der Ab­riß des al­ten Base­ball­sta­di­ons vor ei­ni­gen Jah­ren hin­ter­las­sen hat. Ich er­wäh­ne den Ge­burts­ort mei­ner Toch­ter bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten gern, weil er mich an ei­nen der stärk­sten Freu­den­mo­men­te mei­nes Le­bens er­in­nert. Pe­ter schaut hin­über, nickt, und wir ge­hen wei­ter, so soll es sein. Klei­ne Ge­sten, kur­ze Blicke. Wo Tod war, soll Le­ben sein. Wei­ter­le­sen

Bet­ti­na Fischer/Dagmar Fret­ter (Hrsg.): Ei­gent­lich Hei­mat

Bettina Fischer/Dagmar Fretter (Hrsg.): Eigentlich Heimat

Bet­ti­na Fischer/Dagmar Fret­ter (Hrsg.): Ei­gent­lich Hei­mat

Zum 25. Grün­dungs­ju­bi­lä­um der Kunst­stif­tung Nord­rhein West­fa­len wur­de ein Er­zähl­band kon­zi­piert, der, so im Vor­wort, zei­gen soll, »was das Land Nord­rhein-West­fa­len an Li­te­ra­tur zu bie­ten hat«. Her­aus­ge­kom­men ist ein Band mit 29 Er­zäh­lun­gen von Au­torin­nen und Au­toren, die je­weils mit ei­nem Ort in Nord­rhein-West­fa­len ver­knüpft sind; ei­nem Ge­burts­ort, Wohn­ort, Stu­dier­ort, manch­mal auch nur ei­nem Sehn­suchts- und Ver­gan­gen­heits­ort. Ge­plant sei dies nicht ge­we­sen, so die bei­den Her­aus­ge­be­rin­nen Bet­ti­na Fi­scher und Dag­mar Fret­ter, aber am En­de sei­en es mehr als man dach­te Hei­mat­ge­schich­ten ge­wor­den. Um kei­ne Miss­ver­ständ­nis­se auf­kom­men zu las­sen und der dro­hen­den Ver­ein­nah­mung durch den Kitsch ent­ge­gen­zu­wir­ken wur­de wohl der relati­vierende Ti­tel »Ei­gent­lich Hei­mat« ge­fun­den.

Was Se­pa­ra­ti­sten wie Wil­fried Schar­nagl nie ein­leuch­ten wird: Bin­de­strich­län­der sind nicht trotz son­dern we­gen ih­rer Viel­heit, ih­rer He­te­ro­ge­ni­tät, in­ter­es­sant. Das wird im vor­lie­gen­den Band sehr schön sicht­bar, ob­wohl es mit dem Ruhr­ge­biet und dem Groß­raum Köln durch­aus Schwer­punk­te gibt. Zu Be­ginn er­zählt Jörg Al­brecht (»Vor dem Road­movie«) von den Vor­be­rei­tun­gen zur 30-Jahr-Fei­er der leicht dys­to­pisch an­ge­hauch­ten »Ruhr­stadt« (53 Städ­te von Camp Lint­fort [sic!] bis Hamm ha­ben sich zu­sam­men­ge­schlos­sen), die im »näch­sten Jahr«, hier: 2045, an­ste­hen soll und von der Sehn­sucht sei­ner Be­woh­ner, die Zeit vor die­ser Ver­ei­ni­gung, die Zeit des wim­meln­den, un­or­ga­ni­sier­ten »Ruhr­ge­biets«, wie­der auf­le­ben zu las­sen. Wei­ter­le­sen

Hasen‑, vor­mals Gift­gas­in­sel

Die Pal­men ha­ben ih­re Köp­fe wirk­lich an der Him­mels­decke und zei­gen mit den zahl­lo­sen star­ren Fin­gern ih­rer vie­len Hän­de nach un­ten, wo sich zwi­schen Erd­lö­chern Ha­sen und Men­schen tum­meln. Die Hoch­lei­tungs­strom­ma­sten auf An­hö­hen und Gip­feln ma­chen Männ­chen, wäh­rend sie ein­an­der an Sei­len, die vom Schwimm­becken aus be­trach­tet wie Spinn­fä­den aus­se­hen, über die In­seln der Mee­res­bucht lei­ten. Die Häu­ser, die sich einst in die Ve­ge­ta­ti­on füg­ten oder ihr trotz­ten, sind ver­schwun­den, Op­fer der Kriegs­fa­bri­ken und Aus­sichts­tür­me, der La­ger­plät­ze und Ram­pen und Bun­ker, die ih­rer­seits ver­schwun­den sind, nicht ganz zwar, die Re­ste Rui­nen Fun­da­men­te sind von Schling­pflan­zen Bü­schen Spinn­we­ben um­hüllt, von Ha­sen be­wohnt wie auch der Shin­to-Schrein, der mit Be­ginn der Kriegs­pro­duk­ti­on hier­her­kam, weil das zu­sam­men­ge­hö­ren muß­te: Ten­no, Shin­to und Krieg.

Giftgasfabrik © Leopold Federmair

Gift­gas­fa­brik


Wei­ter­le­sen

Li­te­ra­tur­kri­tik spie­len

Nach dem Fat­wa-Text ei­nes ge­wis­sen Edo Re­ents über Ju­dith Her­mann (am Ran­de ging es dort auch um ihr Buch »Al­ler Lie­be An­fang«) gab es aus dem er­lauch­ten Kreis nach zeit­li­cher Ver­zö­ge­rung nur zwei Stim­men, die sich ge­nö­tigt sa­hen zu wi­der­spre­chen. Die ei­ne ist Iris Ra­disch in der »Zeit«, de­ren Text zur Si­cher­heit erst gar nicht on­line ge­stellt wur­de. Ra­disch neigt ja ge­le­gent­lich sel­ber zum per­so­na­len Über­griff in ih­ren Kri­ti­ken, ei­ne grö­sse­re Dis­kus­si­on wä­re viel­leicht nicht ge­wünscht ge­we­sen. Ger­rit Bartels kon­tra­stier­te dann für den »Ta­ges­spie­gel« die »eke­li­ge Dop­pel­mo­ral« der FAZ im »Fall« von Ju­dith Her­mann: Vier Wo­chen vor­her wur­de sie in ei­nem In­ter­view noch ge­fei­ert, jetzt ver­teu­felt. »Kann nicht schrei­ben die Frau, aber als Co­ver­girl brau­chen wir sie doch!«, so Bartels’ ziem­lich tref­fen­de Ana­ly­se.

Für die »Welt« hat nun Til­man Krau­se ei­nen klei­nen Text zu Her­manns Buch ge­schrie­ben. Der Ti­tel spielt na­tür­lich auf Her­manns er­stes Buch »Som­mer­haus, spä­ter« an und soll Ori­gi­na­li­tät auf­zei­gen. Dann ver­pass­te man dem Buch das Ru­brum »um­strit­ten«. Wie so oft bleibt un­klar, was »um­strit­ten« ei­gent­lich be­deu­ten soll. Dass es di­ver­gie­ren­de Ur­tei­le zu Ro­ma­nen gibt? Dass Re­ents’ Un­ver­schämt­heit zag­haft kri­ti­siert wur­de? Oder dass es sich, wie Til­man Krau­se sanft in­si­nu­iert, um ei­ne Ad­ap­ti­on ei­nes Stof­fes von Pa­tri­cia Highsmith han­delt?

Im­mer­hin, Krau­se will wie­der zu­rück zum Buch. Aber min­de­stens den Ein­stieg von sei­nem Text zu ana­ly­sie­ren lohnt sich, weil er ge­wis­se Skan­da­li­se­rungs­me­cha­nis­men des Li­te­ra­tur­be­triebs wie auf ei­ner Pe­tri­scha­le sicht­bar macht (al­le Kur­siv­set­zun­gen aus Krau­ses Text).

Krau­se be­ginnt mit ei­ner als Fra­ge ge­klei­de­ten Fest­stel­lung:

Wer hät­te ge­dacht, dass wir ge­ra­de Ju­dith Her­mann die er­ste klei­ne Li­te­ra­tur­de­bat­te des be­gin­nen­den Bü­cher­herb­stes ver­dan­ken wür­den?

»Wir« (wer ist das ge­nau?) ha­ben al­so ei­ne »klei­ne Li­te­ra­tur­de­bat­te«, die »wir« Ju­dith Her­mann zu »ver­dan­ken« ha­ben. Ist es aber nicht eher so, dass die­se »De­bat­te« dar­über ge­führt wird, wie ei­ne so­ge­nann­te Re­zen­si­on als Au­torin­nen­ver­nich­tungs­text da­her kommt? Dem­zu­fol­ge hät­ten wir die­se »De­bat­te« nicht Ju­dith Her­mann son­dern Edo Re­ents zu »ver­dan­ken«.

Ei­ne »Li­te­ra­tur­de­bat­te« kann man es aber kaum nen­nen. Zum ei­nen geht es nicht um äs­the­ti­sche Fra­gen, son­dern (1.) dar­um, dass Frau H. nicht schrei­ben kann und (2.) aus ei­nem 220seitigen Text ein paar Stel­len ge­fun­den wur­den, die iso­liert be­trach­tet, holp­rig er­schei­nen.

Ei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik-De­bat­te ist es üb­ri­gens auch nicht, weil die Mas­se der Kri­ti­ker nur hoch­ge­zo­ge­ne Au­gen­brau­en zu­stan­de bringt und nicht ris­kie­ren möch­te, es sich mit ei­nem viel­leicht dem­nächst bei der FAZ in pro­mi­nen­ter Po­si­ti­on sit­zen­den »Kol­le­gen« zu ver­scher­zen.

Krau­se kommt in sei­nem Text auf Re­ents zu spre­chen:

Da die­se Frau et­was Exi­sten­zi­el­les an­spricht, ruft sie aber auch Re­ak­tio­nen her­vor, die über das Re­zen­so­ri­sche hin­aus­ge­hen: »Ju­dith Her­mann hat zwei Pro­ble­me: Sie kann nicht schrei­ben, und sie hat nichts zu sa­gen«, be­fand, nicht oh­ne Kopf-ab-Aplomb, Edo Re­ents in der »Frank­fur­ter All­ge­mei­nen«.

Vor­her hat­te Krau­se noch von ei­ner Ma­sche Ju­dith Her­manns ge­schrie­ben und er mein­te die ein­fa­chen Sät­ze[], die noch da­zu vol­ler Wort­wie­der­ho­lun­gen stecken. Al­so es muss min­de­stens Ma­sche hei­ssen, »Me­tho­de« reicht nicht.

Aber jetzt plötz­lich spricht sie et­was Exi­sten­zi­el­les an, dass Re­ak­tio­nen her­vor­ruft, die über das Re­zen­so­ri­sche hin­aus­ge­hen. Krau­se macht ei­nen Kopf-ab-Aplomb aus, schreibt aber die »Schuld« dar­an der Au­torin zu, nicht dem Kri­ti­ker­dar­stel­ler Re­ents, der, so legt die­se Stel­le na­he, nur in­fol­ge ei­nes Af­fekts aus­fäl­lig ge­wor­den sei. Mil­dern­de Um­stän­de so­zu­sa­gen.

Die Kri­tik von Iris Ra­disch be­zeich­net Krau­se als Ord­nungs­ruf. All dies sei innerbetrieb­liche[s] Hick­hack und ei­gent­lich satt­sam be­kannt.

Dass man ei­ner Au­torin öf­fent­lich die Fä­hig­keit ab­spricht, Li­te­ra­tur schrei­ben zu kön­nen, hal­te ich ei­gent­lich nicht für Hick­hack und auch nicht für ei­ne Pe­ti­tes­se, über die man als in­ner­be­trieb­li­che Que­re­len ab­tun kann. Aber Krau­se will weg vom Mi­nen­feld Li­te­ra­tur­be­trieb und un­be­dingt sei­ne Ent­deckung los­wer­den.

Liest man »Al­ler Lie­be An­fang« ge­nau, stellt man fest, dass sich das Buch in sei­ner Struk­tur an ein be­rühm­tes Vor­bild an­lehnt, den Psy­cho­kri­mi »Der Schrei der Eu­le« von Pa­tri­cia Highsmith (er­schie­nen 1962).

Im­mer­hin gilt es noch den klei­nen Sei­ten­hieb mit dem liest man…genau. Wo­bei ich mir schon die Fra­ge stel­le: Ist das nicht ei­gent­lich ei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit für ei­nen Kri­ti­ker »ge­nau« zu le­sen? In et­wa zu ver­glei­chen mit der Aus­sa­ge: »Wenn man nicht be­sof­fen Au­to fährt…«?

Von nun an aber wid­met sich Krau­se sei­nem Ver­gleich zwi­schen Her­mann und Highsmith. Das ist im­mer­hin ei­ne Ent­deckung; in­wie­weit sie zün­det, bleibt un­klar, da Krau­se nur nach Ge­mein­sam­kei­ten und Dif­fe­ren­zen zwi­schen den Bü­chern im Plot sucht und am En­de bei­den Au­torin­nen be­schei­nigt sie sei­en im heu­ti­gen Sin­ne »un­cool«. Im­mer­hin.

Mit Mil­de und Me­lan­cho­lie

Wie Jo­sef Wink­ler sei­nen Er­in­ne­rungs­kos­mos er­wei­tert

»Re­qui­em für ei­nen Va­ter« un­ter­ti­tel­te Jo­sef Wink­ler sei­ne Er­zäh­lung »Rop­pon­gi« aus dem Jahr 2007. Auf ei­ner Vor­trags­rei­se in Ja­pan er­fährt der Ich-Er­zäh­ler, der gro­ße Ähn­lich­kei­ten mit Jo­sef Wink­ler be­sitzt, vom Tod sei­nes Va­ters, je­nem über- und all­mächtigen »Acker­mann aus Kärn­ten« mit dem Wink­ler in sei­nen Bü­chern, vor al­lem in den er­sten Ro­ma­nen, wuch­tig, ex­pres­siv und an­kla­gend groll­te. Der Va­ter sym­bo­li­sier­te En­ge, Ar­cha­ik und Stumpf­sinn, atem­los wird ei­ne schreck­li­che Kind­heit und Ju­gend aus dem schreck­li­chen Dorf Ka­me­ring in Kärn­ten in den 1950er/1960er Jah­ren er­zählt. Der »Acker­mann aus Kärn­ten« wur­de zum Ar­che­typ für ei­ne gan­ze Re­gi­on, ei­ne gan­ze Epo­che. Auf­fal­lend in »Rop­pon­gi« war aber die Mil­de mit der Wink­ler er­zähl­te, ei­ne Mil­de, die zwar die Schrecken der Kind­heit und Ju­gend im­mer wie­der blitz­ar­tig auf­leuch­ten ließ, aber am En­de dann doch vor dem 99jährigen To­ten (Jahr­gang 1905) den Re­spekt nicht ver­sag­te. Der Ich-Er­zäh­ler sei­ner Bü­cher hat­te sich von sei­nem Lei­den eman­zi­piert, los­ge­schrie­ben und konn­te da­mit nun vor­ur­teils­frei­er auf sei­ne Fi­gu­ren blicken und, in Gren­zen, ih­re Mo­ti­va­tio­nen er­for­schen. Die Ex­pres­si­vi­tät ver­schwand nicht, wur­de aber auf­ge­füllt mit an­ek­do­ti­schem. Da­hin­ter durch­aus spür­bar: die Furcht, der Fluch des Va­ters, nach sei­nem Tod kön­ne er, der Sohn, nicht mehr schrei­ben, weil er nie­man­den mehr ha­be, über den er schrei­ben kön­ne, könn­te sich viel­leicht er­fül­len.

Sechs Jah­re spä­ter leuch­tet Wink­ler ei­ne wei­te­re Fa­cet­te sei­nes Kind­heit und Ju­gend aus, die im Ti­tel schon an­klingt: »Mut­ter und der Blei­stift«. Wie so man­ches Wink­ler-Buch ist auch die­se knapp 60seitige Er­zäh­lung ein Tri­pty­chon. Vor­an­ge­stellt ist ihr als ei­ne Art Pro­log ei­ne klei­ne­re Er­zäh­lung (30 Sei­ten) mit dem Ti­tel »Da flog das Wort auf«. Mit Zi­ta­ten von Il­se Ai­chin­ger wird ei­ne dü­ste­re Welt evo­ziert, die nach den Schrecken des Krie­ges (die Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits ver­sank in Apa­thie, als sie kurz hin­ter­ein­an­der die Bot­schaft er­reich­te, dass drei ih­rer Söh­ne – 18, 20 und 22 Jah­re alt – im Krieg »ge­fallen« wa­ren) nicht mehr got­tes- son­dern sa­tans­fürch­tig wur­de und (für Wink­ler­sche Ver­hält­nis­se) früh mit 60 Jah­ren an »ge­bro­che­nem Her­zen« starb.

Josef Winkler: Mutter und der Bleistift

Jo­sef Wink­ler:
Mut­ter und der Blei­stift

In »Mut­ter und der Blei­stift« wer­den die Ein­drücke über die Mut­ter des Er­zäh­lers do­mi­nant, ei­ner Mut­ter, die bis­her in den Bü­chern Wink­lers kei­ne we­sent­li­che Rol­le spiel­te. Das könn­te dar­an lie­gen, dass er, der Er­zäh­ler, die Mut­ter scho­nen woll­te und jetzt, nach­dem sie um 2012 ge­stor­ben ist (wenn die Da­ten denn stim­men, wo­bei Wink­ler ein­mal [ab­sichts­voll!] schreibt, die Mut­ter sei mit 86 ge­stor­ben und ein­mal mit 87) mehr er­zäh­len möch­te. Zum an­de­ren war sie für vie­le Jah­re, aus de­nen schließ­lich zwei Jahr­zehnte wur­den, wie ih­re Mut­ter in Apa­thie und Schwer­mut ver­fal­len und träum­te sich da­bei in ei­ne To­ten­welt hin­ein. Zwar er­le­dig­te sie ih­re haus­frau­li­chen Tä­tig­kei­ten (was groß­ar­tig evo­ziert wird, bei­spiels­wei­se wenn sie ihn, den »Seppl«, durch­aus mit In­brunst ver­prü­gel­te), aber al­les nur schwei­gend bzw. na­he­zu schwei­gend, wo­bei es dann pass­te, dass sie am Hof ei­ne taub-stum­me Magd hat­ten, die aber trotz­dem mehr re­de­te als die Mut­ter. Je­des Wort, das die Mut­ter sprach wur­de zum Er­eig­nis, zur Ma­ni­fe­sta­ti­on und ihr »Na!« (Nein) als der Va­ter nach der Ge­burt des Nach­züg­lers mit noch ei­nem wei­te­ren, ei­nem 7. Kind ko­ket­tier­te, grenz­te schon an Auf­leh­nung. Die na­he­zu schwei­gen­de Mut­ter leb­te »völ­lig zurückge­zogen«, d. h. aus­schließ­lich auf dem Hof, be­trat kei­ne an­de­ren Hö­fe im Dorf. Be­su­che gab es auch fast kei­ne (nur die bei­den Schwe­stern ab und an). Wei­ter­le­sen

Der Wald und die Bäu­me (X)

Post­skrip­tum

»Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst­ver­schul­de­ten Unmündig­keit.« Seit ich die­sen be­rühm­ten De­fi­ni­ti­ons­satz zum er­sten Mal las, und das ist nun schon ziem­lich lan­ge her, fra­ge ich mich im­mer aufs Neue, in­wie­fern die von Kant kon­sta­tier­te Un­mün­dig­keit denn selbst­ver­schul­det sei. Ich ha­be bis heu­te kei­ne Ant­wort ge­fun­den. Mit ei­ner zu­sätz­li­chen De­fi­ni­ti­on er­läu­tert der Au­tor das Wort »Un­mün­dig­keit«, aber »selbst­verschuldet«, die­ses selt­sa­me Epi­the­ton bleibt so ste­hen, oh­ne wei­te­ren Kom­men­tar. Zu Kants Zei­ten war es al­les an­de­re als selbst­ver­ständ­lich, daß al­le Bür­ger bzw. ih­re Kin­der ei­ne halb­wegs so­li­de Bil­dung er­hiel­ten, auch wenn die Auf­klä­rer und auf­ge­klär­te Für­sten wie Fried­rich der Gro­ße viel für die Eta­blie­rung der all­ge­mei­nen Schul­pflicht ta­ten. Ich hal­te al­so fest: Leu­te, die den ei­ge­nen Ver­stand, der ihm zu­nächst ein­fach ge­ge­ben ist, nicht zu ge­brau­chen ver­ste­hen oder ihn aus wel­chen Grün­den auch im­mer – Träg­heit, Ver­blen­dung... – nicht ge­brau­chen wol­len, sind sel­ber schuld, sie kön­nen kei­ne mün­di­gen – un­ter heu­ti­gen Be­din­gun­gen wür­de ich hin­zu­fü­gen: de­mo­kra­tie­fä­hi­gen – Bür­ger sein. Al­so wä­re die von Kant ins Vi­sier ge­nom­me­ne Un­fä­hig­keit ei­gent­lich ei­ne Denk­fault­heit? Ei­ne Wil­lens­schwä­che? Müß­te man dann, wenn man die Zu­stän­de än­dern woll­te, nicht nur durch päd­ago­gi­sche Maß­nah­men auf die her­an­wach­sen­den (und auch die erwach­senen) Bür­ger ein­wir­ken, son­dern gleich­zei­tig auf ih­ren Wil­len, ih­re Mo­ti­va­ti­on, ih­re Tä­tig­keits­be­reit­schaft? Im kon­su­mi­sti­schen Ka­pi­ta­lis­mus mit sei­ner quan­ti­fi­zie­ren­den, kurz­sich­ti­gen, po­pu­li­sti­schen Der-Kun­de-ist-Kö­nig-De­mo­kra­tie geht die Ten­denz in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung, pas­si­ves Kon­su­mie­ren, di­ver­se Ar­ten von Süch­ten, schein­aktive Selbst­be­zo­gen­heit (sie­he Face­book & Co.), all­ge­mei­ne Träg­heit, sei es auch in Form von stän­di­ger, un­re­flek­tier­ter Lei­stungs­be­reit­schaft (sie­he Han­dys, sie­he »Erreichbar­keit«), Schwim­men in Main­streams (mit oder oh­ne Iro­nie) sind längst vor­herr­schend ge­wor­den, wäh­rend die stän­dig ge­for­der­ten, oft ein­ge­lei­te­ten und häu­fig wie­der zurückge­nommenen Re­for­men der Aus­bil­dungs­stät­ten die päd­ago­gi­sche Qua­li­tät, die sich in er­ster Li­nie in Ge­stalt von gu­ten Leh­rern er­wei­sen soll­te, nicht und nicht he­ben (oft ge­nug ist die­ser Re­form­wil­le oh­ne­hin blo­ßes Lip­pen­be­kennt­nis). Sind die Men­schen sel­ber schuld, die Mas­se der Ein­zel­nen, die ga­mer, die couch-po­ta­toes, die Face­book-Ak­ti­vi­sten? Was tun? Wir wol­len doch nie­man­den zu sei­nem Glück zwin­gen... Zu­mal die Kon­su­men­ten, we­nig­stens auf den er­sten Blick, oh­ne­hin glück­lich schei­nen. Bei Kant fin­de ich kei­ne Ant­wor­ten, und ich selbst kom­me nicht über mei­ne fra­gen­de Un­ru­he hin­aus.

© Leo­pold Fe­der­mair

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Der Wich­tig­tu­er

Um es vor­weg zu sa­gen. Ich ha­be Ju­dith Her­manns Ro­man »Al­ler Lie­be An­fang« nicht ge­le­sen. Ich ken­ne nur ih­re drei Ge­schich­ten­bän­de. Als ganz gro­ße Li­te­ra­tur ka­men mir Her­manns Ge­schich­ten nicht vor. Aber in ih­ren be­sten Mo­men­ten spie­gel­ten sie sehr wohl ei­ne ge­wis­se Stim­mung ei­ner Ge­ne­ra­ti­on und zeig­ten der äl­te­ren Ge­ne­ra­ti­on (aus de­nen sich vie­le Kri­ti­ker rekrutier[t]en) ei­ne neue, bis­her un­be­kann­te Welt.

»Al­ler Lie­be An­fang« wur­de mit gro­ßem Mar­ke­ting vor­ge­stellt. End­lich hat die Ge­schich­ten­er­zäh­le­rin ei­nen Ro­man ge­schrie­ben. Der Ro­man gilt (völ­lig unverständlicher­weise) als Kö­nigs­dis­zi­plin im Li­te­ra­tur­be­trieb. Dass die Li­te­ra­tur­kri­tik die­se Fi­xie­rung im­mer wie­der mo­niert, ist et­was heuch­le­risch, weil ge­fühlt die zwei­te Fra­ge an Ge­schich­ten­schrei­ber im­mer wie­der lau­tet, wann denn der er­ste Ro­man kommt. Für mich hat­te ich be­schlos­sen, die­ses Buch nicht zu le­sen, zu­mal mich auch das ver­meint­li­che The­ma (Stal­king) nicht be­son­ders in­ter­es­siert.

Die Stim­men der Kri­tik zu »Al­ler Lie­be An­fang« wa­ren fast al­le ver­hal­ten bis ab­leh­nend; bei Hel­mut Böt­ti­ger, Eber­hard Falcke oder Ijo­ma Man­gold gut be­grün­det.

Aber die­se li­te­ra­risch ori­en­tier­ten Kri­ti­ken ge­fal­len dem stell­ver­tre­ten­den Feuil­le­ton­chef der FAZ Edo Re­ents nicht. Mit gro­ßem Aplomb hat er ver­meint­li­che Kri­tik zu dem Buch ge­schrie­ben, die in Wahr­heit die Au­torin tref­fen soll. Re­ents Text ist von ei­ner Nie­der­tracht, die ein biss­chen ge­nau­er be­trach­tet wer­den soll (al­le Kur­siv­set­zun­gen aus dem Text): Wei­ter­le­sen