Der Licht­samm­ler und sein Sohn

Ei­ne Be­geg­nung in Hi­ro­shi­ma

Es wird im Jahr 1978 ge­we­sen sein, zu ei­ner Zeit, als an den Uni­ver­si­tä­ten noch ein we­nig schöp­fe­ri­sche Un­ru­he zu fin­den war, da sah ich mich in ei­ner ba­sis­de­mo­kra­ti­schen Ver­samm­lung auf­ge­ru­fen, mei­ne Stim­me für Ro­bert Jungk ab­zu­ge­ben. Der Zukunfts­forscher, so wur­de er ti­tu­liert, soll­te ei­ne Pro­fes­sur an der Salz­bur­ger Uni­ver­si­tät er­hal­ten. Na­tür­lich hat­te ich von Ro­bert Jungk schon ge­hört, Bü­cher wie Der Atom­staat wa­ren den lin­ken Stu­den­ten zu­min­dest dem Na­men nach be­kannt. Hät­te ich mich, wie je­ne Kol­le­gen, die in Bus­sen von Salz­burg nach Zwen­ten­dorf ge­fah­ren wa­ren, im Wi­der­stand ge­gen das öster­rei­chi­sche Atom­kraft­werk en­ga­giert, ich hät­te wohl et­was mehr ge­wußt über den Mann dem wei­ßen Haar­schopf, wä­re ihm viel­leicht so­gar über den Weg ge­lau­fen. Aber daß wir uns längst mit­ten in ei­ner Um­welt­kri­se be­fan­den, die zu­neh­mend dra­ma­tisch wur­de, war mir da­mals noch nicht klar. Ro­bert Jungk hin­ge­gen war ei­ner der Er­sten und Hell­sich­tig­sten, wenn es um öko­lo­gi­sche The­men ging. Das weiß ich heu­te, und ge­nau­er weiß ich es auch nur, weil ich un­längst ei­nen Vor­trag von Pe­ter Ste­phan Jungk über sei­nen Va­ter ge­hört ha­be.

Von Pe­ter Ste­phan Jungk hat­te ich wäh­rend je­ner ba­sis­de­mo­kra­ti­schen Ver­samm­lung wo­mög­lich ein Buch in der Um­hän­ge­ta­sche: Stech­pal­men­wald, er­schie­nen in der ex­qui­si­ten Coll­ec­tion S. Fi­scher. Selt­sam, ich kam lan­ge nicht auf den Ge­dan­ken, zwi­schen die­sem Au­tor und dem be­rühm­ten Jour­na­li­sten Ro­bert Jungk ei­nen Zu­sam­men­hang her­zu­stel­len. Ich glau­be tat­säch­lich, Pe­ter – so nen­ne ich ihn in­zwi­schen – hat­te an­schei­nend nie mit den Schwie­rig­kei­ten zu kämp­fen, die sich ein­stel­len kön­nen, wenn der Sohn in die Fuß­stap­fen ei­nes be­rühm­ten Va­ters tritt. Die bei­den ver­stan­den ein­an­der sehr gut, Pe­ter be­zeich­net den Va­ter als sei­nen »be­sten Freund«, an den er noch heu­te je­den Tag we­nig­stens ein­mal den­ke, aber die Re­de im Frie­dens­mu­se­um von Hi­ro­shi­ma am 3. März 2014 war die er­ste öf­fent­li­che, schrift­lich fi­xier­te Äu­ße­rung über Ro­bert, der Freun­den und Fa­mi­li­en­mit­glie­dern »Bob« ge­ru­fen wur­de.

Das ein­stöcki­ge, von ei­nem Park um­ge­be­ne Frie­dens­mu­se­um wirkt flach, es paßt sich dem Erd­bo­den an, er­hebt sich nur we­nig über ihn und mime­ti­siert so die to­ta­le Zer­stö­rung, den ground ze­ro, den die Atom­bom­be am 6. Au­gust 1945 hin­ter­las­sen hat. Zu­gleich aber wächst hier et­was, die Zer­stö­rung hat nicht das letz­te Wort be­hal­ten, es wach­sen wun­der­ba­re Kusu-Bäu­me, die man in der er­sten Nach­kriegs­zeit ge­pflanzt hat. Als ich mit Pe­ter über die Brücke in die heu­ti­ge In­nen­stadt ge­he, deu­te ich auf das Spi­tal, in dem mei­ne Toch­ter zur Welt ge­kom­men ist, gleich ge­gen­über vom Mu­se­um, aus dem Zim­mer im drit­ten Stock, wo sie ih­re er­sten Atem­zü­ge ge­tan hat, streift der Blick über das Mu­se­um, die Bäu­me, die Hoch­häu­ser im Hin­ter­grund und die Lücke, die der Ab­riß des al­ten Base­ball­sta­di­ons vor ei­ni­gen Jah­ren hin­ter­las­sen hat. Ich er­wäh­ne den Ge­burts­ort mei­ner Toch­ter bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten gern, weil er mich an ei­nen der stärk­sten Freu­den­mo­men­te mei­nes Le­bens er­in­nert. Pe­ter schaut hin­über, nickt, und wir ge­hen wei­ter, so soll es sein. Klei­ne Ge­sten, kur­ze Blicke. Wo Tod war, soll Le­ben sein.

Der gro­ße Vor­trags­saal be­fin­det sich im Un­ter­ge­schoß des so­ge­nann­ten Friedens­museums; als ich hin­ab­stei­ge, ha­be ich das Ge­fühl, mich in ei­nen Bun­ker zu be­ge­ben, als soll­te das Ge­bäu­de de­nen Schutz bie­ten, die ei­nen neu­en Krieg zu über­le­ben ha­ben. Gott be­wah­re... Hi­ro­shi­ma wird nie wie­der ei­ne Ar­mee an­grei­fen wol­len. Noch im Hin­ab­stei­gen fällt mein Blick auf den Rücken ei­nes Man­nes, der sich im Ge­spräch mit zwei jun­gen Frau­en be­fin­det, Aus­län­de­rin­nen, Stu­den­tin­nen, und ich zö­ge­re, ob er es ist. Das Haar eher grau als blond, der Kör­per schmal, die Hal­tung leicht ge­bückt, Blue Jeans, Hemd aus gro­bem Stoff. Spä­ter, wäh­rend des Vor­trags, ha­be ich Ge­le­gen­heit ge­nug, die Ge­sich­ter und Ge­stal­ten zu Ver­glei­chen, Ro­bert Jungk, die öf­fent­li­che Fi­gur, die letz­tes Jahr so­gar auf ei­ner öster­rei­chi­schen Brief­mar­ke er­schien, und den Schrift­stel­ler, von dem nur we­ni­ge Fo­tos im Um­lauf sind, al­le­samt äl­te­ren Da­tums, der Ab­ge­lich­te­te ent­spre­chend jung. Aber die­ser Vor­tra­gen­de war nicht jung, er war über sech­zig, ein Le­bens­da­tum, von dem ich selbst – es über­rascht mich im­mer wie­der – nicht mehr so weit ent­fernt bin. We­nig Ähn­lich­keit zwi­schen Va­ter und Sohn auf den er­sten Blick, auf den zwei­ten und drit­ten aber doch ei­ne gan­ze Rei­he; vie­le Ähn­lich­kei­ten, we­sent­li­che, wie mir jetzt scheint. Die vol­len Lip­pen, das häu­fi­ge Lä­cheln, der auf­merk­sa­me Blick, ei­ne Art Sanft­mut. Ei­ne we­sent­li­che Sanft­mut, kann man das so rasch er­ken­nen? Muß man ei­nen Men­schen jah­re­lang ken­nen, da­mit man sich über ihn äu­ßern kann? Kann/soll man sich je so über ei­nen Men­schen äu­ßern? Über ei­nen Va­ter? Ei­nen flüch­ti­gen Be­kann­ten? Sol­len die­se Ei­gen­schaf­ten und mei­ne Wahr­neh­mun­gen nicht bes­ser in­nen blei­ben, oder da­zwi­schen, zwi­schen den Wör­tern?

Da­mals, 1978, ha­be ich mei­ne Stim­me nicht Ro­bert Jungk ge­ge­ben. (Daß die Stim­men ei­nes letzt­end­lich doch nur klei­nen Häuf­chens von Stu­den­ten über­haupt ir­gend ei­nen Ein­fluß ha­ben konn­ten, ist im nach­hin­ein sehr zu be­zwei­feln.) Ich war der ein­zi­ge, der sich der Stim­me ent­hielt. Das be­reue ich jetzt, es tut mir leid. An­de­rer­seits ver­ste­he ich mei­ne da­ma­li­ge Hal­tung, denn ich wuß­te fast nichts über den vor­ge­schla­ge­nen Kan­di­da­ten, be­kam kei­ne Ge­le­gen­heit, mich kun­dig zu ma­chen, und daß mir ei­ne Dis­zi­plin na­mens »Zu­kunfts­for­schung« ir­gend­wie ver­däch­tig vor­kam, kann ich heu­te noch nach­voll­zie­hen. Pe­ter sag­te in sei­ner Re­de selbst – und mit »selbst« mei­ne ich auch, daß er im Sin­ne sei­nes Va­ters sprach – Pe­ter schick­te vor­aus, daß man die Zu­kunft nicht vor­her­sa­gen kön­ne, daß es aber durch­aus mög­lich sei, Zu­kunfts­sze­na­ri­en zu ent­wickeln, die wir bei un­se­rem ge­gen­wär­ti­gen Han­deln be­rück­sich­ti­gen kön­nen und sol­len. Ich glau­be, es war Al­bert Ca­mus, der sag­te, die Schuld des Men­schen be­gin­ne da­mit, daß er sich von dem, was ge­sche­hen kön­ne, aus Träg­heit oder Dumm­heit oder we­gen kurz­fri­sti­ger In­ter­es­sen kei­ne Vor­stel­lung ge­macht hat­te. Zum Bei­spiel hät­te man sich die Aus­wir­kun­gen ei­nes Erd­be­bens im Nord­osten Ja­pans auf die Atom­ener­gie­an­la­gen in Fu­ku­shi­ma schon lan­ge vor der Ka­ta­stro­phe aus­ma­len kön­nen, und ei­ni­ge Leu­te ha­ben das auch ge­tan und die Öf­fent­lich­keit ge­warnt. Tat­säch­lich hat­te man in Fu­ku­shi­ma Schutz­wäl­le ge­gen Flut­wel­len er­rich­tet, aber sie wa­ren nicht hoch ge­nug. Eben­so kann man ver­su­chen, Sze­na­ri­en für den Ge­brauch al­ter­na­ti­ver En­er­gie­for­men zu ent­wer­fen, und es wird eben­falls ge­tan. »Zu­kunfts­for­schung be­deu­te­te auch, nach al­ter­na­ti­ven, ’sanf­ten’, hu­ma­nen Tech­no­lo­gien zu su­chen«, sagt Pe­ter im Bun­ker des Frie­dens­mu­se­ums im Sin­ne sei­nes Va­ters Ro­bert Jungk.

Die Zu­kunft vor­her­sa­gen... He­gel und Marx wa­ren über­zeugt, das sei mög­lich, man müs­se nur Ein­sicht in die ob­jek­ti­ven Ge­set­ze der Ge­schich­te ge­win­nen. Vor­her­sa­ge und Pla­nung sei­en nicht nur mög­lich, son­dern not­wen­dig. Der Welt­geist in Ge­stalt des Phi­lo­so­phen, die Ge­walt der Ma­te­rie in Ge­stalt der Ar­bei­ter­klas­se wer­de die Ge­schich­te zu ih­rem gran­diosen En­de füh­ren, in ein neu­es Pa­ra­dies. Daß hier die Crux lag, der sprin­gen­de Punkt im ro­ten Fa­den­knäu­el der Theo­rien, an die ich, der lin­ke Stu­dent, noch so halb glaub­te, ahn­te ich wahr­schein­lich schon, als ich Ro­bert Jungk mei­ne Stim­me nicht gab. Des­halb wird er mir ver­zei­hen; hat mir schon längst ver­zie­hen. Die Zu­kunft ist nicht vor­her­seh­bar. Ge­ra­de des­halb kommt es auf uns selbst an, auf den Ge­brauch un­se­rer Frei­heit, auf un­ser Vor­stel­lungs­ver­mö­gen und un­se­re Träu­me.

Siehst du, Stu­dent dort im halb­lee­ren Hör­saal, ge­nau des­halb war Ro­bert Jungk ein »Licht­samm­ler«, der das Gu­te aus den Men­schen, in de­nen na­tur­ge­mäß so viel Schlech­tes ist, her­aus­zu­ho­len und zu bün­deln ver­stand. Auch aus dir, aus dem, was von dir üb­rig ist und wei­ter­geht, holt er es noch her­aus, ob­wohl du in­zwi­schen viel, viel öf­ter zur Skep­sis als zu jed­we­der Art von Glau­ben neigst.

Pe­ter Ste­phan Jungk ist kein Po­li­ti­ker und kein Öko­lo­ge, er ist ein Er­zäh­ler. In sei­ner Re­de im Frie­dens­mu­se­um er­zählt er, wie er zum er­sten Mal in Ja­pan war, 1970, in Be­glei­tung sei­nes Va­ters, der ja­pa­ni­schen Bo­den nach ei­ner Schiffs­rei­se zum er­sten Mal 1957 (im Jahr mei­ner Ge­burt) be­tre­ten hat­te. 1970 fand in Osa­ka die gro­ße Welt­aus­stel­lung statt, Ro­bert Jungk war be­auf­tragt, die Er­öff­nungs­re­de im Pa­vil­lon der Eu­ro­päi­schen Ge­mein­schaft zu hal­ten. Da­nach rei­ste er mit sei­nem Sohn nach Kyo­to zur In­ter­na­tio­nal Fu­ture Re­se­arch Con­fe­rence. Als Ta­gungs­ort hat­te Ro­bert Jungk Hi­ro­shi­ma vor­ge­schla­gen, doch die ja­pa­ni­sche »Zu­kunfts­ge­sell­schaft« be­stand auf Kyo­to, viel­leicht we­gen der Bau- und Na­tur­schön­hei­ten, wel­che die Kon­fe­renz­teil­neh­mer dort be­sich­ti­gen konn­ten, oder auch nur, weil es von Osa­ka nicht weit nach Kyo­to war, wäh­rend von Osa­ka nach Hi­ro­shi­ma noch kein Shink­an­sen fuhr und die Rei­se ein we­nig be­schwer­lich war. Die of­fi­zi­el­le Be­grün­dung lau­te­te, man wol­le den Gä­sten ei­nen Be­such in der Ka­ta­stro­phen­stadt nicht zu­mu­ten und ih­nen die Scham er­spa­ren. Jungk mein­te zu sei­nem Über­set­zer und Mit­ar­bei­ter Carl Ogu­ra, die Ja­pa­ner selbst woll­ten wohl nicht an das Ge­sche­he­ne er­in­nert wer­den. Ogu­ra gab ihm recht.

Hi­ro­shi­ma als Stadt des tech­ni­schen Fort­schritts, des gro­ßen Ex­pe­ri­ments... Jungk hät­te dort mit dem Fin­ger auf den Zu­sam­men­hang zwi­schen Tech­ni­k­eu­pho­rie und Zer­stö­rung wei­sen kön­nen. Für die Welt­aus­stel­lung in Osa­ka hat­te man hin­ge­gen ein rie­si­ges Are­al am Stadt­rand ge­wählt, das in ei­ner ge­wal­ti­gen An­stren­gung er­schlos­sen wor­den war, um neu­er­lich, zu Be­ginn der sieb­zi­ger Jah­re, die groß­ar­ti­gen Mög­lich­kei­ten des tech­ni­schen Fort­schritts zu fei­ern, oh­ne an die Schat­ten zu den­ken, die ihn mög­li­cher­wei­se be­glei­ten. Das Wahr­zei­chen, der 65 Me­ter ho­he »Son­nen­turm« des Ma­lers und Bild­hau­ers Ta­ro Oka­mo­to, steht heu­te noch, die Pa­vil­lons je­doch wur­den ge­schlif­fen, das Are­al rings­um in ein Er­ho­lungs­ge­biet mit Parks und Mu­se­en und Sport­an­la­gen (dar­un­ter das Sta­di­on von Ce­re­zo Osa­ka) um­ge­wan­delt. Man kann Oka­mo­tos kind­lich-na­iv und ein biß­chen »fu­tu­ri­stisch« wir­ken­de Son­ne des Fort­schritts be­su­chen, im In­ne­ren führt ein Auf­zug em­por, die aus­ge­stell­ten Fo­tos zeu­gen von der Be­gei­ste­rung der Ja­pa­ner, ih­rem schran­ken­lo­sen Zu­kunfts­glau­ben, der spä­ter ge­bremst wur­de und seit der Ka­ta­stro­phe in Fu­ku­shi­ma ei­ner Skep­sis ge­wi­chen ist, die nicht, wie in Deutsch­land, zu ra­schen Ent­schlüs­sen ge­führt hat, aber viel­leicht doch lang­fri­stig ei­ne Um­ori­en­tie­rung in En­er­gie­fra­gen be­wir­ken wird.

»Wie ent­setzt wä­re er ge­we­sen, von den Er­eig­nis­sen im März 2011 in Ja­pan und vom un­mög­li­chen Ver­hal­ten der Be­trei­ber­fir­ma Tep­co zu er­fah­ren«, sagt Pe­ter vor­ne auf dem Po­di­um. Hin und wie­der sinkt er ein we­nig zu­sam­men, hält sich die Hand vors Ge­sicht, auf dem ich die Mü­dig­keit er­ken­ne. We­gen der Zeit­dif­fe­renz zwi­schen Eu­ro­pa und Ja­pan, oder war­um? Sein Va­ter hielt es für ab­surd, dass aus­ge­rech­net je­ne Na­ti­on, die die bei­den Atom­bom­ben­ab­wür­fe er­lei­den muß­te, ein au­ßer­dem so erd­be­ben­ge­fähr­de­tes Land, die Atom­kraft zü­gig aus­bau­te und be­son­ders vie­le Atom­mei­ler er­rich­te­te. War­um, fragt Pe­ter vor­ne, und ich glau­be... nicht ge­ra­de die Ant­wort zu wis­sen, aber doch ei­ne Ant­wort, die ich von Ran­dy Ta­guchi ha­be, ei­ner ja­pa­ni­schen Schrift­stel­le­rin, die in ih­ren Wer­ken im­mer wie­der auf Hi­ro­shi­ma zu­rück­zu­kom­men pflegt. Es wa­ren just die Ame­ri­ka­ner, die da­ma­li­ge Sie­ger­macht, die ih­ren Zu­griff auf das Land nutz­te, um den Aus­bau der Atom­kraft ein­zu­lei­ten. In der An­fangs­zeit der »fried­li­chen Nut­zung der Kern­ener­gie« wur­de tech­ni­sches Know-How zur Ver­fü­gung ge­stellt und das ja­pa­ni­sche Per­so­nal in den USA aus­ge­bil­det. Von der Atom­bom­be führt über die En­er­gie­po­li­tik ein ge­rad­li­ni­ger Weg nach Fu­ku­shi­ma.

Ro­bert Jungk war ei­ner von fünf­zig Jour­na­li­sten, die 1953 ei­nem Atom­bom­ben­test in der Wü­ste von Ne­va­da bei­wohn­ten. Auf­grund die­ser Er­fah­rung und nach aus­gie­bi­gen Re­cher­chen so­wie In­ter­views mit zahl­rei­chen Wis­sen­schaft­lern und Tech­ni­kern, die am Bau der Bom­be mit­ge­wirkt hat­ten, schrieb Jungk sein wohl be­kann­te­stes Buch, Hel­ler als tau­send Son­nen. »Die­ser Blitz zer­riss die Welt für mich«, schrieb er da­mals. Sein Sohn er­zählt, Bob ha­be die Tat­sa­che, daß er früh­zei­tig wei­ße Haa­re be­kam, mit sei­ner An­we­sen­heit bei je­nem Atom­test in Ver­bin­dung ge­bracht. Aber­glau­be, oder? Ver­ständlicher Aber­glau­be bei ei­nem, der vom Blitz ge­blen­det wur­de, aber nicht ge­ra­de wissen­schaftlich... In den sech­zi­ger Jah­ren, als es welt­weit zu zahl­rei­chen Atombomben­versuchen kam, er­mahn­te Ro­bert Jungk sei­nen her­an­wach­sen­den Sohn ge­le­gent­lich, wenn es schnei­te, drau­ßen auf kei­nen Fall den Mund auf­zu­ma­chen: durch den »Fall­out« der Tests könn­ten in den Schnee­flocken ra­dio­ak­ti­ve Sub­stan­zen ent­hal­ten sein. Das leuch­tet mir schon eher ein.

Letz­tes Jahr, 2013, ha­be ich in ei­nem al­ter­na­ti­ven Ki­no in To­kyo ei­nen mit be­schei­de­nen Mit­teln ge­dreh­ten In­de­pen­dent-Film über die Ta­ge nach dem Re­ak­tor­un­glück in Fu­ku­shi­ma ge­se­hen. Der qua­si-do­ku­men­ta­ri­sche Film zeigt, wie Frau­en, be­son­ders sol­che mit Kin­dern, ver­su­chen, vor den Ge­fah­ren zu war­nen und ih­re Klei­nen zu schüt­zen. Sie sto­ßen viel­fach auf Un­ver­ständ­nis und Ab­leh­nung, wer­den von der Ge­sell­schaft ge­äch­tet. Kas­san­dras, War­ne­rin­nen, nicht im­mer ver­nünf­tig; von ei­ner Ver­nunft ge­trie­ben, die mit der Ver­nunft der ge­hor­sa­men For­scher und Tech­ni­ker nicht ver­ein­bar ist. Ro­bert Jungk scheint ei­ne männ­li­che Kas­san­dra ge­we­sen zu sein, ein War­ner, der die in­stru­men­tel­le Ver­nunft kann­te und er­kann­te, oh­ne ihr zu hul­di­gen. War­nend nicht aus Angst, son­dern aus ei­nem un­bän­di­gen Le­bens­wil­len. Aus Lust auf die Zu­kunft.

Wäh­rend Pe­ters Re­de im Un­ter­ge­schoß des Frie­dens­mu­se­ums von Hi­ro­shi­ma saß in der er­sten Rei­he ei­ne groß ge­wach­se­ne Frau mitt­le­ren Al­ters, mit ka­sta­ni­en­braun ge­färb­tem Haar – ich sah sie von schräg hin­ten, ih­re gleich­mä­ßi­gen Ge­sichts­zü­ge konn­te ich nur in kur­zen Au­gen­blicken strei­fen. Sie trug ei­nen lan­gen Dau­nen­man­tel und ei­ne Gesichts­maske, die sie ab­nahm, als sie ge­gen En­de der Ver­an­stal­tung ruck­ar­tig auf­stand, um auf die von den Re­ak­to­ren in Fu­ku­shi­ma wei­ter­hin aus­ge­hen­de Ge­fahr hin­zu­wei­sen und Pe­ter zu fra­gen, was denn in Zu­kunft en­er­gie­po­li­tisch zu tun sei. Pe­ter ent­zog sich ei­ner Ant­wort, in­dem er sag­te, er sei kein Po­li­ti­ker und auch kein Zu­kunfts­for­scher, und sein Va­ter sei lei­der nicht hier, um ei­ne Ant­wort zu ge­ben. Er selbst sei Schrift­stel­ler, wei­ter nichts. Zu­letzt rang er sich doch noch durch, für For­men er­neu­er­ba­rer En­er­gie Par­tei zu er­grei­fen. Mit lei­ser Stim­me, als kä­me es auf ihn, Pe­ter Ste­phan Jungk, nicht an. Sein Va­ter hat­te Hoff­nun­gen vor al­lem in die Son­nen­en­er­gie ge­setzt. Nicht tau­send Son­nen schie­nen ihm wün­schens­wert, nicht über­mensch­li­che Hel­lig­keit, son­dern die Kraft der ei­nen, alt­ver­trau­ten, neu zu er­schlie­ßen­den Son­ne. Der Licht- und Kraft­quel­le, die ich von nun an auch in der Skulp­tur Oka­mo­tos im Ban­pa­ku-koen se­hen wer­de.

Pe­ter schloß sei­ne Re­de in Hi­ro­shi­ma kon­ven­tio­nell mit dem Hoff­nungs­schim­mer, der uns Men­schen stets lei­ten wird. Kein an­de­res Schluß­wort hät­te zum Le­ben sei­nes Va­ters ge­paßt, der gern hun­dert Jah­re alt ge­wor­den wä­re und die bes­se­ren Zei­ten, de­ren An­bruch er ahn­te, noch er­le­ben woll­te. In Wahr­heit ha­ben die Welt­kri­sen eher zu- als abge­nommen, wie Pe­ter sag­te, und das hät­te den »Op­ti­mi­sten und Men­schen­freund« Ro­bert Jungk si­cher be­trübt. »Aber auf­ge­ge­ben hät­te er trotz­dem nicht, im Ge­gen­teil, er hät­te sei­nen Op­ti­mis­mus be­wahrt, hät­te wei­ter­ge­kämpft für ei­ne bes­se­re Welt.«

Pe­ter hat kei­ne wei­ßen Haa­re be­kom­men, den­ke ich, als ich spä­ter in ei­ner win­zi­gen Bar ne­ben ihm sit­ze. Sein Haar ist et­was schüt­te­rer als das sei­nes Va­ters, die Far­be blond, grau, un­de­fi­nier­bar, Asche, Son­ne, die Ab­stu­fun­gen da­zwi­schen. Hat er als Jun­ge im Win­ter den Mund ge­schlos­sen ge­hal­ten, das Ge­sicht nicht dem Him­mel entgegen­gestreckt, wie es mei­ne Toch­ter gern tut, wenn es schneit, sel­ten ge­nug in Hi­ro­shi­ma, die­sem – wie mir manch­mal aus der Fer­ne mit­ge­teilt wird – ver­seuch­ten Ort? Ich will mei­ner Toch­ter den of­fe­nen Mund nicht ver­bie­ten. Im Ge­gen­teil, ich tue, was ich so lan­ge un­ter­las­sen ha­be, und sper­re selbst den Mund auf. Die Fa­mi­lie Jungk hat in Salz­burg in der Stein­gas­se ge­wohnt, Pe­ter be­schreibt mir Jahr­zehn­te da­nach den herr­li­chen Aus­blick. Als Halb­wüch­si­ger zog er aus, wohn­te in ei­ner Dach­kam­mer am Cor­so, nicht weit von den El­tern, aber doch selb­stän­dig, un­ten am Kai.

Cor­so? Gibt es in Salz­burg ei­nen Cor­so? To­ma­sel­li, Ba­zar, Ca­fé Mo­zart... Dun­kel er­in­ne­re ich mich, daß da ir­gend­wann ein Ca­fé Cor­so ge­ge­ben ha­ben soll, lan­ge vor mei­ner Zeit. »Er­in­nerst du dich an das Ca­fé? DAS Ca­fé mei­ne ich, ja. Am An­fang der Stein­gas­se.« – »Da war doch die­se Kell­ne­rin...« – »Du meinst die...?« – »Nein, son­dern...«

Auf der per­fekt sit­zen­den Kra­wat­te des Bar­kee­pers ist ein klei­nes hell­blau­es Flug­zeug zu se­hen. Der Mann hält auf ein­mal ei­nen Zy­lin­der in der Hand, die Frau ne­ben ihm er­muntert ihn, Kunst­stücke vor­zu­füh­ren, und schon bald läßt er Din­ge ver­schwin­den und an­de­re auf­tau­chen, Mün­zen, Zi­tro­nen­spal­ten, un­ver­mu­te­te Din­ge, und Pe­ter und ich, in­zwi­schen die ein­zi­gen Gä­ste, stau­nen wie Kin­der und fra­gen uns, wie denn das mög­lich sei. Die bei­den hin­ter der The­ke sind ein Ehe­paar, sie stam­men aus Ka­na­za­wa, der schö­nen Stadt am ja­pa­ni­schen Meer. Ob er viel übe, fra­ge ich den Zau­be­rer, der be­scheiden zur Sei­te blickt. »Klar übt er, je­den Tag, und stun­den­lang«, sagt die Frau mit dem hoch­ge­steck­ten Haar und dem sorg­fäl­tig ge­schmink­ten Ge­sicht. Die bei­den sind ein Ehe­paar, Abend für Abend ver­brin­gen sie in der Bar, ih­rem Le­bens­werk. Aber das Ca­fé in der Stein­gas­se gibt es schon lan­ge nicht mehr, und im Haus am Cor­so be­fin­det sich heu­te die Ro­bert-Jungk-Bi­blio­thek für Zu­kunfts­fra­gen. Die bes­se­re Welt liegt na­tur­ge­mäß in der Ver­gan­gen­heit. Oder nein, sie ist hier und jetzt, in der win­zi­gen Welt­höh­le, wo uns der ein­fach­ste Zau­ber be­strickt.

© Leo­pold Fe­der­mair


Die­ser Auf­satz er­schien erst­ma­lig in der Zeit­schrift »Li­te­ra­tur und Kri­tik«, Ju­li 2014, Nr. 485/486, Ot­to-Mül­ler-Ver­lag, Salz­burg