In diesem und den folgenden Texten sollen einige Gedanken und Assoziationen die mit dem ausgerufenen Kalifat (dem Islamischen Staat) im weitesten Sinn in Zusammenhang stehen, formuliert werden, mehr als Thesen und Ausgangspunkte allfälliger Diskussionen, denn als abgeschlossene Überlegungen.
Islamic State (IS): Die englische Abkürzung klingt noch selbstbewusster, rigider, als die deutsche Übersetzung oder andere zuvor von der Terrororganisation verwendete Selbstbezeichnungen, da alle relativierenden geographischen Bezeichnungen mittlerweile weggefallen sind. Die arabischen Entsprechungen bleiben mir leider verschlossen, zu vermuten ist, dass sich der Anspruch der Organisation ähnlich darstellt, nämlich der (also: einzig legitime) islamische Staat zu sein. Die Fakten hinken diesem Anspruch hinterher, bestenfalls kann von einem in Aufbau befindlichen Staat die Rede sein (die Formulierung dieser Utopie unterstützt freilich ihre Verwirklichung und die Rekrutierung neuer Anhänger). Darüber hinaus täuscht diese Selbstbezeichnung darüber hinweg, dass es eine Reihe von Staaten gibt, die sich explizit als islamisch bezeichen und deren gesetzliche Grundlage ganz oder in Teilen die Scharia ist (folgt man der Logik des Islamischen Staats wären diese Selbstbezeichnungen illegitim).
Mit der Propaganda des Islamischen Staats und seiner offen zur Schau gestellten Gewalt, die zwar typisch für den Terror kleiner Gruppen, aber nicht für den von Staaten ist, drang sein Name in die Berichterstattung westlicher Medien und entfachte dort Diskussionen darüber, ob man die Eigenbezeichnung der Organisation überhaupt verwenden sollte, weil man damit ihre Propaganda unterstütze. Analog dazu werden alle Propagandavideos, ‑tweets, ‑accounts, usf., aus sozialen Netzwerken oder Videoportalen entfernt, um deren Verbreitung zu verhindern. Das Grundproblem ist hierbei nicht so sehr die Betrachtung der Videos per se, sondern die Möglichkeit, dass durch deren Verbreitung Personen, die nicht gegen den Inhalt immun sind, zu neuen Adepten werden (einerseits könnten solche Personen als neue Kämpfer in den nahen Osten reisen oder Anschläge in ihren Heimatländern verüben). Im Endeffekt ist das eine Präventionsmaßnahme gegen die Verbreitung terroristischer Ideologie und in weiterer Folge des Terrors selbst.
Ganz ähnlich lässt sich einer der Schlüsse aus den besagten Diskussionen zusammen fassen: Der Name Islamischer Staat instrumentalisiere eine Religion und rücke sie zu Unrecht in gewalttätige und –verherrlichende Umstände. In Wirklichkeit habe der Islamische Staat mit dem Islam nichts zu tun; es werde dadurch der Unterschied zwischen dem Islam, Muslimen und dem Islamismus verwässert.
Tatsächlich wird durch diese Behauptung eine Feststellung, eine Problematisierung und ein Diskurs verhindert: Die kritische Frage nach der Rechtfertigung von Gewalt, die die Bezeichnung Islamischer Staat artikuliert und die im Übrigen jede islamistische Bewegung und auch einige der oben erwähnten Staaten (nur eben etwas weniger vehement) andeuten, wird aus Gründen von Korrektheit, Höflichkeit oder Unwissenheit vermieden (Ähnlichkeit wird das dort genannt, Beliebigkeit dort).
Richtig und wichtig ist es zwischen der Praxis vieler Muslime und ihren verschiedenen Traditionen zu unterscheiden, beziehungsweise diese Widersprüche anzusprechen. Darüber hinaus lässt eine Argumentation der Höflichkeit und des Gutmeinens die (unausgesprochene) Solidarität zwischen Muslimen und der Terrororganisation oder anderen islamistischen Gruppen unangetastet (genauso wie viele Menschen Verbrechen, die von der eigenen Ethnie begangen werden, tendenziell verharmlosen; man sieht zwar die Gewalt, nimmt die Täter aber als Anhänger derselben Gruppe wahr und entschuldet sie ein Stück weit: gefühlte Solidarität auf der Basis geteilter Überzeugungen oder Eigenschaften).
In Summe resultiert daraus eine Nichtbefragung und eine Hemmung der Weiterentwicklung von religiösen Traditionen durch liberale Kräfte, die gerade innerhalb Europas von entscheidender Bedeutung sind (ein Anstoß dort). Wichtig ist nicht das Ansehen einer religiösen Tradition oder ob sie sie besser ist als eine andere, sondern wie ihr traditioneller (und theologischer) Bestand entwickelt werden muss, damit sie zum Konzept der offenen Gesellschaft (Popper) passt: Euroislam hat das Bassam Tibi einmal genannt.
Ich finde diese Form der Ratschlaggebung immer ein bisschen lustig. Wer sagt denn, dass beispielsweise das »Konzept der offenen Gesellschaft« erstrebenswert zu sein hat? Wo steht das geschrieben? Könnte nicht eine Konzentration auf »geschlossene Systeme«, feste, hierarchische Normen ebenfalls interessant sein? Der Begriff des »Euroislam« ist für den Westen geschaffen worden: Der Islam soll damit auf den Weg in die Säkularisation gebracht werden. Was, wenn das von führenden muslimischen Denkern (Geistlichen, Politikern) gar nicht gewollt ist? Was ist, wenn gerade die Allianz zwischen Religion, Recht und sozialer Ordnung attraktiver ist als eine Gesellschaft mit ausdifferenzierten Rechts- und Sozialgesetzen?
Hinzu kommt ja auch, dass es mehrere Strömungen im Islam gibt, die zum Teil divergierende religiöse, soziale und politische Gesellschaftsentwürfe propagieren. Der Islam ist extrem heterogen; die Trennung zwischen Sunniten und Schiiten ist nur der Anfang. Die Loslösung vom politischen Christentum (das, erst einmal »Staatsreligion« ähnlich gewütet hat wie heute der IS) hat in Europa rund 800 Jahre gedauert; die französische Revolution galt als Fanal für die Beseitigung alter, überkommener Strukturen (der Monarchie, des Absolutismus). Auch hier wurde übrigens kräftig geköpft, natürlich nur für die gute Sache. Da war der 30jährige Krieg schon vier Generationen vorbei.
Was wir erfahren ist, dass unser Modell der Moderne insbesondere was gesellschaftliche Entwicklungen angeht, bei vielen Interpreten des Islam nicht attraktiv ist. Freiheit, Demokratie, Diskurs, das Aushalten des Anders-Seins des Anderen – das ist für manche nicht nur schwierig, sondern überfordert sie. Die einfachen Losungen sind interessanter (Europäer kennen das ja aus dem 20. Jahrhundert durchaus).
Der geopolitische Anspruch des IS ist vermutlich mehr als nur ein Etikett: Das Sykes-Picot-Abkommen, jene Geheimübereinkunft der britischen und französischen Kolonialmächte nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches, in dem die Grenzen neu gezogen wurden, wird explizit abgelehnt und stattdessen ein nationales Identifikationspotential »Islamischer Staat« geschaffen. Übertragen auf Europa: Ein neues Reich soll geschaffen werden. Das mag Ideologie sein, die von wenigen nur verstanden wird – nach außen zeigt sich die Organisation aber eben nicht nur als religiöse Fundamentalisten, sondern als Revolutionäre gegen den immer noch so empfundenen westlichen Kolonialismus.
Das rechtfertigt natürlich die brutalen Verbrechen nicht eine Sekunde. Aber es zeigt, dass unsere gut gemeinten Ratschläge (»Euroislam«) oder Verteufelungen (»Faschismus«) nicht zünden. Vermutlich das Gegenteil: Je mehr wir uns empören, desto stärker wird die Propagandamaschine des IS hier ansetzen.
Wie verunsichert »der Westen« ist, zeigt sich daran, dass man auf alle Fälle an den bestehenden Grenzen (Türkei, Syrien, Irak) festhalten möchten, auch wenn es längst an der Zeit wäre, beispielsweise den Kurden einen eigenen Staat zuzugestehen. 2003 marschieren USA und Großbritannien an der Spitze (Stichwort: Kolonialismus!) in den Irak ein, ohne auch nur fünf Sekunden über die Zeit nach dem Sturz von Saddam Hussein nachgedacht zu haben. Expertise über die unterschiedlichen Volksgruppen im Irak: Null. Entsprechend desaströs sieht es dort inzwischen aus.
Womöglich wird irgendwann der IS militärisch aufgerieben werden und sich zu einer Terrorgruppe sozusagen zurückentwickeln. Die Grundprobleme des gestörten Zusammenlebens in der muslimischen Welt werden damit nicht gelöst. Sie können aber nur von den Menschen vor Ort gelöst werden; jede Einmischung des Westens (sowohl positiver wie destruktiver Art) sollte sich irgendwann verbieten. Die Allianzen mit Terrorregimen wie Saudi Arabien oder Katar sollten genau so beendet werden wie die Unterstützung destabilisierender Organisationen wie der Freien Syrischen Armee oder den radikalen Kurdenorganisationen.
@ Mete – Ich bin sehr froh, dass die Offene Gesellschaft ein Konzept genannt wurde. Ob die Realform eines West-Landes sinnvoller weise mit diesem Konzept beschrieben, oder (!) referenziell damit entwickelt werden kann, darf offen bleiben.
Ich möchte eigentlich bemerken: der Islamismus kann nicht unabhängig von einer geopolitischen Matrix diskutiert werden. In den arabischen Länder wird damit das Verhältnis von Religion und Staat erörtert. In der Diaspora wird damit das Verhältnis von Religion und »Fremd-Gesellschaft« erörtert, und teilweise mit Gewalt beantwortet. Zwischen beiden Zonen gibt es ja neuerdings touristische Beziehungen...
Georg hat vermutlich richtig die historische Dimension angesprochen: der IS überschreitet die kolonialistischen Vorgaben und reaktiviert die bekannte islamische Utopie der Umma. Der IS muss noch keine »neuen Grenzen« entwerfen, um sein Handeln (Gewalt) zu rechtfertigen. Er arbeitet zunächst soz. an der Gegenwartsfront. Der Effekt auf den Westen ist immer derselbe: »Um Gottes willen, die Grenzen...«. Ist ja eine unserer wichtigsten Errungenschaften neben all den ungeheuer feingeistigen Konzepten. Insofern betitelt die Bewegung sehr genau ihre Motive und trifft durchaus ins Schwarze.
Ein Aspekt, der bei der IS Diskussion meines Erachtens zu kurz kommt, ist die Weiterführung eines Krieges, gegen den Westen, und seine kolonialistischen Tendenzen, federführend unter den USA und Großbritannischen. Da eine direkte Auseinandersetzung militärisch nicht zu gewinnen ist, wird das Land unkontrolliert bar gemacht. Das heißt, jede kollaborierende Gruppe wird bekämpft und terrorisiert. Da sich die Bevölkerung gegen marodierende Banden wehren würde, bedarf es einer Rechtfertigung und das ist die gemeinsame Klammer Islamismus. Somit ist kaum eine Zusammenarbeit westlicher Organisationen mit der Bevölkerung möglich. Natürlich sind Kurden als Zielgruppe besonders gefährdet, da sie vom Westen mit Waffen gegen den IS versorgt werden und als ethnische Gruppe der Fuß in der Haustüre sind.
Arme Kurden, hoffentlich werden sie nicht in diesem perfiden Spiel des Westens gegen den IS zerrieben.
@die kalte Sophie
Die Übereinstimmungen zwischen dem Konzept der offenen Gesellschaft und »unserer« Realität (inklusive Entwicklung) können wir gerne diskutieren (kann da vielleicht ein anderer den Anfang machen oder ist ein separater Text besser, würde ja in die Reihe passen?).
Es ist m.E. völlig egal wo man den Islamismus betrachtet, Religion und Staat werden immer zusammen gedacht und Gläubige von Ungläubigen (und den Anhängern der Buchreligionen) geschieden; daraus ergeben sich automatisch »Fremdgesellschaften« und Zugehörigkeitsgefühle (Identitäten oder eben »Tourismus«).
Die Utopie Umma wird durch »jeden« Rekurs auf »den Islam« (oder besser vielleicht: Koran) angesprochen, da ist der IS eine Gruppe von vielen (dass die Eigenbezeichnung treffend ist, wollte ich nicht abstreiten [habe ich auch nicht]).
@Gregor
Dass der Text als Ratschlaggebung ankommt muss ich wohl akzeptieren (den Rekurs auf das Geschrieben-stehen finde ich wiederum lustig; da das eben nirgendwo geschrieben steht, könnte ein Argument für die offene Gesellschaft sein; eine Diskussion darüber grundsätzlich gerne, siehe meinen Kommentar oben). Dann kenne ich mich nicht mehr ganz aus: Sprichst Du von Europa oder der muslimischen Welt (einige Texte nicht explizit europäischen Ursprungs habe ich ja verlinkt – ich weiß nicht ob das Deiner Definition von Denkern entspricht; meintest Du Theologen?)?
Die Diskussion um die Attraktivität würde ich gerne auf den nächsten Text »verlegen« (wenn das in Ordnung geht).
Das Identifikationspotential des Islamischen Staats ist ja gerade nicht national sondern supranational (hierin sind sich der Islam und das Christentum sehr ähnlich: Die Zugehörigkeit ergibt sich aus dem Bekenntnis, nicht aus Rasse, Klasse, o.a. Kategorien).
Zustimmung zu dem was Du über die Grenzen, die Kurdenproblematik und den Neoimperialisums (oder ist es noch der alte?) schreibst.
Den Begriff Euroislam und die Diskussion im Ausgangstext sollte sich nur auf Europa beziehen, unter Berücksichtigung der Wirkung der Selbstbezeichnung des Islamischen Staats (vielleicht war das missverständlich). Die muslimische Welt sollte ihr Probleme irgendwann alleine lösen, richtig, nur ist sehr viel davon ursächlich westlichen Ursprungs (ob der Irakkrieg, Waffen- ‚Öl‑, geopolitische Interessen, die Installation und Unterstützung willfähriger Diktatoren und Helfer, usw.). Und, realpolitisch gesehen, werden Großmächte immer versuchen ihre Interessen durchzusetzen, leider. Aber vielleicht ergibt sich nach dem IS-Desaster eine Möglichkeit des Rückzugs. Zu hoffen wäre es.
Noch eine Anmerkung zur »Kritischen Frage«: mir ist aufgefallen, dass der IS keine komplexen Erklärungen abgibt. [Hier darf gelacht werden.] Des weiteren ist die Reflex-Distanzierung von repräsentativen Muslimen in Europa aber auch ein Diskurs-Vernichter. EIgentlich müssten uns die »gemäßigten Muslime« erklären, warum die Jungs so ausflippen. Aber..., und das sozialpsychologisch ziemlich relevant: Sie denken nicht mal dran, das zu tun! Sie wollen nur auf der richtigen Seite stehen, antworten also strategisch!
»Wir wiederum« haben bestimmt nicht die Aufgabe, deren Legitimation zu überprüfen. Oder sollte der Universalismus derart groteske Aufgaben bereit halten?!
Die »Umma« ist nicht unbedingt eine Utopie, sondern so etwas wie praktiziertes, lebendiges Gemeinwesen. Es ist ein Gegenentwurf zum Individualismus der westlichen Gesellschaften, die eher neben- als miteinander existieren. »Gelebt« wird dies zum Beispiel von den Muslimbrüdern in Ägypten und auch der Hamas in Gaza. Es entsteht eine Vermischung von Religion, Recht und sozialem Miteinander. Solange die hier eingezogenen hierarchischen Fäden akzeptiert werden, ist das attraktiv für diejenigen, die sich mit ihrer Freiheit alleine gelassen in der Welt nicht mehr auskennen.
@metepsilonema
Meine Bemerkung zur »Ratschlaggebung« war keine Kritik an Deinem Text. Das unterläuft einem ja immer, wenn es um solche Themen geht. Immer wieder liest man die Notwendigkeit einer »Aufklärung« innerhalb des Islam, als lösten sich die Probleme, wenn man die europäisches Geistesgeschichte einfach überstülpt. Die europäische Aufklärung fiel aber nicht vom Himmel und vor allem wurde sie nicht »geplant« und von außen aufgetragen wie eine Farbe.
Dass die polyphonen Stimmen im Islam für den Westen problematisch sind, überrascht ja eigentlich, da man sich doch sonst so diskursfreudig gibt. Der für uns wesentliche Nachteil: Es gibt keine Instanz, die religiöse und damit auch soziale Fragen verbindlich regelt. Mit einer solchen Situation können wir nur sehr schwer umgehen. Unweigerlich führt eine Parteinahme für eine Seite dann zu Ansehens- und Reputationsverlusten bei anderen Strömungen.
Was mich am meisten erstaunt war diese Blauäugigkeit, die zu den Interventionen in Afghanistan und dem Irak geführt hat. Bush und mit ihm die Europäer waren davon felsenfest überzeugt, dass das westliche Wertesystem praktisch von selber Zustimmung erzeugt. Besonders in Afghanistan erlebten wir eine vollkommen neue Form von Missionseifer: Als könnten die Menschen gar nicht anders, als unsere pluralistische, offene Gesellschaft gutheißen. Jetzt kann man aber zum Teil jahrhundertelange kulturelle Prägungen nicht einfach zur Seite legen. Obwohl womöglich der größte Teil der Bevölkerung mit vielen rigiden Maßnahmen der Talibanregierung nicht einverstanden war, so muss vielen der Eifer des Westens wie ein Spiegelbild vorgekommen sein. Mit den Mentalitäten vor Ort hatte sich die Politik überhaupt nicht auseinandergesetzt. Dass die Taliban trotz aller Terrorherrschaft als legitime Kämpfer gegen den Imperialismus der UdSSR der 1980er Jahre gesehen wurde, hatte man irgendwie vergessen. Damals wurde eine Politik nach er Maßgabe: »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« gemacht. (Übrigens das Gegenteil von »Realpolitik«, aber dazu vielleicht später.)
Es ist unmöglich, die Fehler, die in Afghanistan gemacht wurden, in einem solchen Kommentar substantiell zu untersuchen. (Einer der größten Fehler ist das westliche Mantra vor allen anderen Maßnahmen in solchen Ländern Wahlen zu veranstalten; ein Fetisch geradezu. Dabei vergisst man regelmässig, dass es gar keine politische Infrastruktur gibt. Man überlege einmal, die Westmächte hätten im zerstörten Deutschland im Januar oder Februar 1946 schon allumfassende Wahlen abgehalten.) Trotz dieser Fehler vermag ich nicht in die Wehklagen über den »bösen« Westen oder die Großmächte einzustimmen. Der schlimmste Fehler war zweifellos die vollkommen sinn- wie planlose Okkupation des Irak 2003. Es war der Ausfluss einer moralisierenden Außenpolitik. Gut gemeint, aber unglaublich schlecht gemacht. (Dass es ökonomische Interessen im Irak gab – geschenkt. Sie waren aber nicht der Hauptgrund; beim Öl hören die ideologischen Differenzen auf beiden Seiten – Käufer wie Verkäufer – meistens auf. Für Afghanistan galt das übrigens nicht. Hier ging es um die Ausschaltung eines Regimes, dass aktiv den Terrorismus ermöglichte und ausbildete.)
@ Gregor. Ja, stimmt. Die Umma ist nicht 1:1 Utopie. Aber die westlichen Utopien verschieben die Umma nur in die Zukunft, und behaupten, wenn genug entwickelt, gedacht, korrigiert und kommuniziert worden ist, dann ist es möglich, diesen Pragmatismus zu verwirklichen. Ich sehe da nur die Differenz im Schema: Zeit und Geschichte.
@die kalte Sophie
Im Westen ist das soziale Miteinander fast immer nur als unverbindliches Beisammensein, als eine Zusammenkunft von Individualisten, die zu einem bestimmten Zweck (Kino, Fußball, Abendessen) zusammenkommen und danach wieder ihrer eigenen Wege gehen. Umma bedeutet praktiziertes Gemeinschaftsleben und Lebenshilfe. Etwas, was nach den missbräuchlichen Verwendungen bspw. bei den Nazis verpönt oder zumindest verdächtig ist. Man könnte die in den 1980er Jahren aufkommende Kommunitarismus-Bewegung aus den USA ein bisschen in dieser Richtung setzen. Aktuell übernimmt die »Community« in sozialen Netzwerken gelegentlich solche Aufgaben. Der Unterschied zur »Umma« ist die spirituelle Verbundenheit.
So ich Zeit finde gehe ich dem Begriff Umma gerne noch weiter nach, utopisch ist er (heute, im Gegensatz zu vergangenen Zeiten), weil er in dem folgenden Sinn nicht existiert (B. Tibi, »Der wahre Imam« 2001, S 23):
»Die Umma ist die religiös-politische Gemeinschaft aller Muslime auf dem gesamten Globus – in Abgrenzung zu der Welt der Ungläubigen. Diese Umma bedarf einer Führung, einer Person, die sie nach dem göttlichen Gesetz religiös leitet und politisch lenkt. Der Begründer der islamischen Umma, der Prophet Mohammed, war kein Imam, sondern der Gesandte Allahs und der Verkünder seines Gesetzes. Seit dem Tod des Propheten streiten nun die Muslime darüber, wer in seiner Tradition nun der wahre Imam sei.«
Für Tibi ist das der Schlüssel zum Verständnis des Islams heute, wie in der Vergangenheit (Gefolgschaft schuldet man einem Imam nur dann, wenn er gerecht handelt, das sei nebenbei erwähnt, weil es in der Praxis der Ansprüche und Gefolgschaften selten »Berücksichtigung« findet).
Es ist richtig, dass es Solidarität innerhalb der Muslime gibt, am deutlichsten wird das im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern (in beinahe jedem Terroraufruf, wie jüngst durch den Islamischen Staat wird unausgesprochen an diese Umma appelliert oder diese zu instrumentalisieren versucht). Aber als eine real verwirklichte Gemeinschaft jenseits von Glaubenssolidarität existiert die Umma nicht (man muss dabei nur an die schiitischen und sunnitischen Staaten denken), außer man wendet den Begriff auf kleinere Bereiche wie einzelne Staaten oder Gruppen an (das widerspräche aber der oben angeführten Definition).
@Gregor
Du hast völlig recht, dass der Aufklärungs- oder Säkularisierungsanspruch von außen herangetragen wird, da entsteht zunächst an vielen Stellen einmal Abwehr, berechtigter Weise insofern, weil sich »der Westen« längst selbst diskreditiert hat (andererseits muss diese Forderung bestehen bleiben, darauf basieren die europäischen Gesellschaften nun einmal). Historisch gesehen gab es im Islam allerdings vernunftpräferierende Denker, die konnten sich nur nicht durchsetzten (es gäbe also Anknüpfungspunkte). Daneben gibt es rassistische und kulturelle Vorurteile und Feindschaft in unseren Gesellschaften, die eine Integration nicht gerade erleichtern; viele Probleme wurden zu spät angegangen (in Österreich wird gerade das Islamgesetz, das aus der Zeit der Monarchie [Annexion von Bosnien-Herzegowina, 1908] stammt, novelliert, d.h. der Entwurf diskutiert. — Warum ist das nicht vor zehn Jahren oder noch früher geschehen?). Dazu benötigen diese Prozesse viel Zeit und Geduld (überwinden von Barrieren, etc.). Versäumnisse gibt es auf beiden Seiten, wo sie zahlreicher sind, hilft bei der Feststellung, dass sie überwunden werden müssen eigentlich nicht (ein Problem das die kalte Sophie anspricht und das auch in den oben verlinkten Texten immer wieder auftaucht ist, dass die Trennung zwischen der gewaltverursachenden Ideologie [nicht der Gewalt selbst], die als Nährboden fungiert, weil sie als islamisch daherkommt und das zu einem Teil auch ist; der Unterschied zwischen Fundamentalismus und Islam verschwimmt, die Trennung zeigt sich eher in der Praxis, als in der Theorie oder der religiös vermittelten Solidarität).
Ein Schwierigkeit, die Du ansprichst kennen wir vom katholischen Zentralismus nicht, nämlich die zentrale Instanz, die man ansprechen kann oder mit der Verträge möglich sind (Konkordat). In irgendeiner Form muss man bestimmte Angelegenheiten verbindlich und zentral regeln (ich verstehe ja, dass sich nicht jeder Verein oder jede Strömung von der IGGÖ vertreten lassen möchte, andererseits kann man nicht mit jedem separat verhandeln oder für jeden eigene Ausnahmen einführen). Vielleicht wäre eine Dachgemeinschaft, die sich nur mit integrierenden Maßnahmen beschäftigt, sinnvoller? Daneben existiert die Finanzierungsproblematik von Imamen durch das Ausland (etwa Türkei und Saudi Arabien), die ein souveräner Staat nicht ohne weiteres tolerieren kann, da hier auch politisch Einfluss genommen wird. Usw. Usf.
Ich habe nichts auf der Hand, aber hinter den Staatsumbauversuchen im Irak und in Afghanistan (?) steckt sicherlich eine (neokonservative?) Ideologie, die ihren Schiffbruch erlitten hat und der tausende Menschen zum Opfer fielen (von heute aus betrachtet erscheinen mir die Gründe für den Irakkrieg noch unbegreiflicher als damals). — Das hat sich in der Ukrainekrise (ganz ähnlich) wiederholt und ist dort zu einem Bürgerkrieg (unter ausländischer Beteiligung) geworden. Der Vergleich mit Deutschland nach 1945 aber auch schon nach 1918 zeigt vielleicht, dass für große politische Umwälzungen eine Erschütterung, eine Art Katastrophe notwendig ist, die die alten Formen als diskreditiert, überkommen, unzulänglich (oder wie auch immer) erscheinen lässt (die zur Besinnung ruft). Das ist in der muslimischen Welt vielleicht – wenn ich Abdel Samad folge – noch nicht ausreichend der Fall gewesen (das meine ich weder herablassend noch geringschätzig).
Wieso ist die Unterstützung der Feinde meiner Feinde keine Realpolitik (zugegeben kann ich auf keine kohärente Definition zurückgreifen)? — Und: Kriegstreiber gibt es immer noch.
Stimmt genau. Eine typisch westliche politische Einlassung ist betont »gemeinschaftsfrei« und stellt alle Sollensbelange in einen non-partikularen Zusammenhang. Ich würde dafür den Begriff »Meta-Moral« vorschlagen, immer wenn gruppen- und gemeinschaftsbezogene Indizes fehlen, die selbst eine primär moralische Struktur aufweisen. Der Westen verhandelt gern über alle Zuordnungen hinaus, auf rechtsphilosophisch abstrakten Niveau. Damit verfehlt man fast jeden Konflikt, denn im Ernst: wie könnte die Abstraktion einen Konflikt abbilden, ohne sofort von den Standards des zivilen Verhalten zu sprechen?! Jeder Konflikt erscheint nur allzu »kindisch«, d.h. die Ursache kann nur in der Unterentwicklung der Beteiligten liegen. Das meine ich nicht polemisch, aber augenfällig ist doch ein profundes Desinteressen an den Ursachen der Konflikte, sprich die Einseitigkeit der Frage nach den Massnahmen. Die Sofort-Reaktionen.
Legitimation?! Vielleicht berührt METE’s Artikel indirekt dieses unser Desinteresse an Konflikten.
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@die kalte Sophie
Hm, ist es nicht so, dass »der Westen« die Moral überhaupt außer vor lässt, und statt dessen einen-rechtlich abstrakten Rahmen wählt (Moral ist daneben jedem erlaubt, solange sie weder Recht noch Gesetz verletzt)?
Des Desinteresses an Konflikten bin ich mir unsicher, kommt das nicht vielleicht daher, dass die Lösung bislang immer mit der Demokratisierung und Institutionsbildung zusammenfiel? Dass die Konflikte nicht unabhängig davon gelöst wurden und man dann eine Adaption an lokale Umstände versuchte (bzw. überhaupt keine Lösung vorgab)?
Ich habe den Kommentar nicht verstanden. Ein »Desinteresse an Konflikten« kann ich allerdings nicht ausmachen; eher im Gegenteil. Überall wird sofort Einmischung empfohlen und praktiziert (seit 1998: Jugoslawien, Osttimor, Afghanistan, Irak, Libyen – um nur einige zu nennen). Bombardements werden zu »Luftschlägen«, das ganze bekommt angeblich humanitären Charakter und wird moralisch aufgeladen. Wenn man sich ein wenig Mühe machen würde, könnte man eine Kausalitätskette entwickeln, wie jede »Einmischung« am Ende nur wieder neue Probleme schafft, die dann wieder zu »Einmischungen« führt, usw.
Außer die Befreiung Kuwaits (Re-Implementierung eines oligarchisch-plutokratischen Systems) wurde kein einziger der Konflikte, die zu militärischen Einmischungen des Westens führten, grundlegend gelöst. Das ehemalige Jugoslawien bleibt mit den künstlichen Staaten Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo ein schwelendes Feuer; Afghanistan wird in ein paar Jahren von den Taliban wieder eingenommen sein; Libyen ist (wie Haiti und Somalia) ein failed-state; der Irak praktisch inexistent (wird aber wohl proforma am Leben gehalten werden müssen).
zu #12 und #13
Immer d’accord. Eine »Moral« des Westens kann ich nicht erkennen. Deshalb das schräge Wort von der »Meta-Moral«. Desinteresse nur, weil keine eingehende Analyse stattfindet, was eigentlich auf dem Spiel steht (incl. die Frage der Legitimation bzw. die Feststellung des Ausnahmezustands). Wie Du sagst: Ziel des Westens ist immer das State-Building bzw. Refurbishing mit einem demokratischen System, egal was DEMOS oder Staat den Beteiligten bedeuten mag. Es ist ein viraler Kopiervorgang, hat wenig mit Denken zu tun.
Ich finde das sehr unbefriedigend. Aber realistisch betrachtet, wird es wohl keine Alternative mehr geben. Die Institutionen sind fest in der Hand von Apothekern und Rechtsanwälten. Theologen, nicht zu vergessen (Ironie der Geschichte).
Nicht so doll, im Westen zu leben... Was den Regressus angeht: da ist was dran. Ich hör’ bei vielen Stellungennahmen aus Arabien, dass die Leute sich ärgern, auch wenn sie keine Sympathien für den Terror haben. Der Manichäismus, den der Westen den unfriedlichen Gegenden aufzwingt (in memoriam: George Bush), wird niemanden wirklich überzeugen. Niemanden.
Der Manichäismus von Bush junior war ja hypermoralisch. Darin lag ja das Unheil. Der Einmarsch in den Irak wurde ja als moralischer Akt inszeniert, zumal sich ganz schnell herausstellte, dass die Geschichte der Massenvernichtungswaffen ein Märchen war. Ähnlich ein paar Jahre später in Libyen: Der Interventionalismus hat zwar den Diktator beseitigt, aber das Land liegt in Scherben. Wesentliche Initialzünder dieses Hypermoralismus in Sachen Libynen waren die Intellektuellen, insbesondere in Frankreich. Sie sitzen in ihren warmen Stuben und überlassen den anderen dann das Chaos. Hauptsache, sie haben ihr billiges Mütchen gekühlt.
Realpolitisch gibt es wohl keine Alternative zu den bestehenden Grenzen in Mittelost. Wenn man den Kurden eine Sezession gestattet, wird sie andere Länder berühren; die »territoriale Integrität« ist existenzieller Bestand der Doktrin des Westens. (Ausnahmen in Europa: Tschechoslowkai – »freiwillige« Abspaltung in Tschechien und Slowakei und Jugoslawien, aber selbst hier wurden die innerjugoslawischen Republikgrenzen nicht angetastet.) Man stelle sich das Geschiebe und Gezerre bspw. in Afrika vor, wenn dort die Ethnien ihre Grenzen plötzlich selber ziehen würden.
Sehr wahr. Wobei ich glaube, dass die Amis insgesamt schon ein bisschen »geil« sind auf Gewalt. Von wegen Friedensnobelpreis... Bei G. W. Bush kam das ja unglaublich naiv zum Vorschein.
Die Europäer, schon vielfach bemerkt, unterscheiden sich da inzwischen. Wir sind nicht mehr so einsatzfreudig wie früher. Eigentlich die letzte Neuigkeit der Geschichte: der Wille zum Frieden überwiegt. Daher finde ich es höchst bedauerlich, dass die Europäer sich nicht von Amerika lösen können, ideologisch, wie es so schön heißt. Aber die Sache geht tiefer. In Europa wird einfach enger zusammen gelebt als in Amerika. Dann ist der Friede ein höheres Gut. Ich komme seit kurzer Zeit immer zu diesem Ergebnis: das PROBLEM ist Amerika. Amerika muss kleiner werden, oder friedlicher, eins von beiden.
Für Europa bedeutet die Abhängigkeit in militärischen Angelegenheiten auch Bequemlichkeit, weil die Vereinigten Staaten, so sie wollen, meist rasch handeln und kaum Kosten scheuen. Das wir sich nur ändern, wenn sich Europa militärisch auf eigene Beine stellt, also eine Art europäische Einsatztruppe oder Armee aufbaut (ob die nationalen Armeen bestehen bleiben oder nicht, ist eine weitere Frage). Das würde viel Geld kosten, erfordert politischen Mut und ein Ende der NATO (bzw. der Mitgliedschaft aller europäischen Staaten). Dann allerdings kann man sich auch nicht mehr zurücklehnen und warten, dass der große Bruder schon etwas tun wird. — Das alles ist sowohl politisch (man denke einmal an die osteuropäischen Staaten), als auch ökonomisch höchst unwahrscheinlich.
@metepsilonema
Tatsächlich werden die USA je nach Situation immer wieder gerne als Weltpolizei herangezogen oder eben auch entsprechend dämonisiert. Eine äußerst komfortable Position, insbesondere für Salon-Pazifisten wie bspw. die Grünen. Aktuell gibt es eine Art moralischer Pflicht zum Eingreifen der Amerikaner, denn die Destabilisierung des Irak wurde durch die Okkupation des Irak durch Bush jr. 2003 beschleunigt.
Eine europäische Eingreiftruppe wird es m. E. aus verschiedenen Gründen in absehbarer Zeit nicht geben. Es gibt (1.) Mentalitätsdifferenzen und Sprachprobleme, (2.) überwiegen die nationalen Egoismen, gerade was das Militärische angeht, (3.) gibt es keine einheitliche europäische Außen- und Sicherheitspolitik und (4.) ist die europäische Bevölkerung aufgrund seiner Geschichte der letzten rund 70 Jahre in großen Teilen nicht an militärischen Interventionen interessiert. Letzteres ist ein großes Verdienst; das sollte man in jedem Fall kultivieren.
@ Gregor
Sehe ich genauso. Es gibt m. A. n. einen Nachteil bei dieser Non-militärischen Union. Die Parallele von NATO und EU bürdet der EU eine Legitimationsschwäche auf. Stichwort: Macht. Wenn jegliche ernste außenpolitische Frage nur auf Ebene der NATO verhandelt werden kann, ist eine Suprematie der NATO »oberhalb« der EU gegeben. Man kann das alles über die Nationalstaaten und ihre Souveränität begründen, keine Frage –aber: der suggestive Effekt lässt sich nicht vermeiden. NATO toppt EU.
Richtig schizo wird es immer dann, wenn divergente Meinungen entstehen. Dann passiert immer dasselbe: a) die Deckungsverschiedenheit von NATO und EU kommt wieder auf den Tisch, und b) alle nationalen Eigen-Positionen wecken ernsthafte Zweifel an der Belastbarkeit dieses »Bündnisses« und führen zu »Rufen« nach einer europäischen Selbstorganisation. Wenn sich nichts daran ändert, läuft alles immer wieder nach diesem Schema ab. Im Westen nichts Neues. Sieht aus wie Politik, ist aber nur ein System-Problem.
Ich finde die militärische Zurückhaltung grundsätzlich richtig und wichtig, allerdings entstehen dadurch Abhängigkeiten, die man dann auch nicht will (in Teilen zumindest; woran ich oben dachte, war Hilfe bei Umweltkatastrophen, Epidemien oder UN-Friedensmissionen). Man könnte etwa fragen, ob die derzeitige europäische Russlandpolitik nicht anders aussähe, wenn es diese »Suprematie der NATO« (kalte Sophie) nicht gäbe.
Schwer zu sagen. Die EU-Assoziierungsabkommen u. a. mit der Ukraine haben m. E. mit der NATO wenig zu tun. Es geht darum, Länder (respektive: Märkte) an die EU zu binden. Ich halte diesen Expansionsgedanken der EU seit vielen Jahren schon für sehr merkwürdig, der am Ende nahezu alle Staaten zu potentiellen Beitrittskandidaten ernennt, sofern bestimmte Voraussetzungen (die sehr oft rein wirtschaftsliberaler Natur sind) erfüllt werden. Auf diese Art und Weise sind alle Länder des ehemaligen Jugoslawien sozusagen »vereinnahmt« worden. Aber es geht eben auch weiter bis zur Ukraine. Am umstrittensten sind die Verhandlungen mit der Türkei.
Zwar wird immer betont, dass die EU mehr sei als eine Freihandelszone, aber am Ende läuft es zumeist darauf hinaus. Kern ist, dass der Personen- wie der Warenverkehr frei zirkulieren kann. Die Wirtschaft begrüsst das sehr, da sie auf Billigfachkräfte wird zurückgreifen können, die die teuren einheimischen Angestellten in die Frühverrentung treibt. Daher auch die nimmermüde Klage des »Fachkräftemangels«; ein vollkommener Blödsinn bei Licht betrachtet.
Natürlich wird die EU dadurch mit der Zeit auch zum politischen Spieler. Die Grenzen sind aber mit Händen zu greifen: Es gibt keine Außen- und Sicherheitspolitik, weil die Interessen auch einfach zu unterschiedlich sind. Die Expansion der Europäischen Union ist die Schimäre ein paar durchgeknallter Politiker, die sich ihren Platz in den Geschichtsbüchern sichern wollen.
Die wirtschaftlichen Aspekte des Ukraineabkommens sicher nicht, aber warum wurden dort verteidigungs- und sicherheitspolitische mitverhandelt? Ich finde das eigenartig, zumal ein baldiger Beitritt nicht zur Debatte stand. Die Gründe für diese Abkommen und wirtschaftsliberalen Voraussetzungen sehe ich in den Wachstumsbedürfnissen der Wirtschaft, die sie im bestehenden Binnenmarkt nicht mehr hat (oder man befürchtet, dass dies so sein könnte und möchte vorsorgen).
Die gegen Russland verhängten Sanktionen wurden nie der politischen Lage angepasst, sondern immer (auch schon zu Zeiten der Verhandlungen) weiter ausgeweitet (ich habe nie verstanden welches Ziel damit verfolgt wurde). War Rasmussen als Generalsekretär nur ein Zufall, oder der richtige Mann zur richtigen Zeit (wenn man an seine Rhetorik denkt)?
Die Aufgabe der NATO war Russland während des Kalten Kriegs von Europa fernzuhalten (das scheint noch immer der Fall zu sein).
[Für eine Antwort auf den Kommentar im anderen Beitrag bitte noch etwas Geduld.]
Mir ist gerade über Twitter dieser Text zugekommen: Er ist in seinem Kern genau das Gegenteil der Argumentation oben und stellt – vermutlich aus Wohlwollen – die entscheidenden Fragen nicht, etwa jene nach der Trennung von Islam und Islamismus und jene nach der Rechtfertigung von Gewalt (ich meine damit nicht, die darin vorgebrachten Einwände gegen den Entwurf zur Novellierung des österreichischen Islamgesetzes; allerdings wäre hier noch mehr Aufwand zu treiben).
Naja, der Beitrag appelliert an Besonnenheit, was nicht schlecht ist. Andererseits werden Entwicklungen beschrieben, die man seit Jahrzehnten ignoriert hat – wie dort auch steht. Das ändert man natürlich nicht dadurch, dass man abermals zuwartet. Womöglich braucht man aber gar kein »Islamgesetz«, sondern nur eine konsequente Anwendung der bestehenden Gesetze. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang den Vorschlag, ein solches Gesetz mit den Islamverbänden zusammen zu konzipieren. Sofort wird sich nämlich die Frage stellen, welche Verbände wen repräsentieren und – vor allem – wer sich davon nicht repräsentiert fühlt und daher in jedes Resultat ablehnen wird. Die Islamkonferenzen in Deutschland sind dahingehend auch gescheitert, dass die Heterogenität der jeweiligen Interessengruppen zu groß war. (Hinzu kommt natürlich noch, dass auch die politischen Parteien divergierende Ziele verfolgten.)
Der Titel ist ziemlich lächerlich. Man stelle sich vor, jemand überschreibe einen Text »Wir brauchen das Christentum«...
Die immer wieder vorgebrachte Trennung zwischen Islam und Islamismus ist aus mehreren Gründen schwierig. Zum einen »trennt« die westliche (EU & USA) Außenpolitik selber nicht entsprechend – ansonsten dürfte man Saudi-Arabien und einige Golfstaaten nicht als »Verbündete« hoffieren. Zum anderen werden im Zweifel immer nur die anderen »Islamisten« sein.
Wir haben erleben derzeit eine Re-Islamisierung der muslimischen Welt. Interessant daran finde ich, dass man bei uns zutiefst verstört ist, wenn sich Jugendliche (Muslime oder auch Konvertiten) durch Propaganda-Videos der IS freiwillig in das Kampfgetümmel begeben. Hier wird schnell der Propaganda die Schuld gegeben. Ich würde mal fragen, warum sich Jugendliche, die fast alle in Europa aufgewachsen sind, von solchen Filmen infiltrieren lassen. Ich kann ja auch die Hitler- und Himmler-Reden hören, ohne danach zum Nazi zu werden.
Vielleicht bin ich mittlerweile übersensibilisiert, aber in der Überschrift klingt das schon an (Besonnenheit ist wichtig, an die wird viel zu selten erinnert, das stimmt): Der Islam. Eine weitere Differenzierung wird nicht vorgenommen oder nach dem Verhältnis zu den europäischen Gesellschaften gefragt (obwohl es bei uns gerade eine Diskussion über das saudiarabische König-Abdullah-Zentrum gab, siehe hier oder hier). Dass andere Kulturen eine Bereicherung darstellen können, sei damit keinesfalls abgestritten.
Die im Text geäußerte Kritik am Islamgesetz ist zutreffend, weil hier tatsächlich Paragraphen formuliert wurden, die sich ohnehin aus anderen Gesetzen ergeben (also auf die islamischen Gemeinschaften hin formuliert wurden). Auf der anderen Seite ist zu fragen, inwiefern die Situation der relativ jungen und inhomogenen islamischen Gemeinschaften nicht vielleicht doch in der einen oder anderen Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung ist (ich werde noch einmal in einem Text darauf zurückkommen). — Die Vertretungsansprüche divergieren, genau wie bei euch: Die IGGÖ stellt den Anspruch die Breite des Islam in Österreich zu vertreten, die Mitgliedszahlen sprechen vom Gegenteil. Das zeigt sich auch hinsichtlich der Zustimmung zu dem Entwurf: Die Aleviten begrüßen das Gesetz in der vorliegenden Form ausdrücklich.
Eine Teilantwort zu Deinem letzte Absatz: Die derzeitigen westlichen Gesellschaften können die »Erwartungen« (Bedürfnisse) etlicher Jugendlicher womöglich nicht erfüllen, und zwar aus prinzipiellen Gründen (auch dazu später mehr).