Essay zur Geschichte islamischer Reformbewegungen
1. Islamische Reformbewegungen
Islam-Fundamentalismus, Re-Islamisierung und »Islamismus« sind Schlagworte für islamische Reformbewegungen. »Reform« meint in den Offenbarungsreligionen (Parsismus, Judentum, Christentum, Islam) die Rückkehr zur »Reinform« der religiösen Lehre auf Grundlage der geoffenbarten Texte. Es handelt sich also stets um eine »Schriftfrömmigkeit«, wie auch im reformatorischen Christentum die Rückkehr zur Schrift als »Bibeltreue« verstanden wird.
Im Gegensatz zum Christentum kennt der Islam keine große Reformbewegung wie die lutherische, calvinistische oder zwinglianische Reformation. Dagegen gibt es von alters her kleinere Strömungen und »Sekten« (im Sinne von islamischen Schulen), die zurück wollen zu einem »reinen Islam« als Gegenbild des offiziellen, des »Kalifat-Islams«, der als »verderbt« abgelehnt wird. Kennzeichnend für diese Sektierer ist die Vermischung von Religion und religiöser Kultur mit politischen Zielen (was sie wiederum von der ursprünglichen christlichen Reformation unterscheidet): islamische Reformbewegungen münden von jeher in politischen Aktivismus.
Anstelle des Begriffs Reformbewegung spricht die westliche Welt – allerdings in zunehmend ideologisierender Weise – von »Islamismus« oder einer »Fundamentalbewegung«, u.a. um positive Konnotationen, die im Westen mit dem Wort »Reform« verbunden sind, gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Drei Hauptmerkmale kennzeichnen die islamischen Reformbewegungen:
- I. Transzendenter Gottesbegriff (im Gegensatz zu einem »immanenten«, den die mystischen Sufi-Orden pflegen): Der Mensch versteht die Gebote Gottes nur über die Offenbarung der (des) Propheten, also nicht durch innere Anschauung (Mystik). Das Prophetentum stellt den einzigen Berührungspunkt des Schöpfers mit der Menschheit dar. Doch religiöse Vermittler mit Heiligenstatus existieren nicht.
Daher leitet sich die Forderung des Ijtihād ab, der selbständigen Auslegung von Koran und Sunna – die Sunna ist die »Gewohnheit« (Überlieferung) des Propheten, die in sich selbst zu einer Auslegung und Ergänzung des Korans geworden ist, Mohammeds Reden wurden gesammelt und durch die Generationen weitergegeben. Die Doktrin des Ijtihād richtet sich nicht nur gegen die Sufi-Orden, sondern auch gegen die Rechtsgelehrten-Schulen, die eine Koran-Exegese (Auslegung) nur unter Berufung auf gelehrte Vorbilder zulassen, sich dabei auf »Heilige« mit einzig unmittelbarem Zugang zu göttlichem Wissen (taqlīd) berufen. - II. Antihierarchische Struktur: Es herrscht eine Gleichheit aller Gläubigen vor Allah. Es stehen keine Mittler zwischen Gott und Mensch. Dieser Gedanke richtet sich gegen die offizielle sunnitische Lehre.
- III. Einheits- und Universalgedanke: Regionale und lehrspezifische Differenzen (z.B. im Ijtihād) sollen in der großen Einheit des Islams überwunden werden. Dies fordert den Ausgleich zwischen den tonangebenden islamischen Regionen: Indonesien vs. Arabien vs. Afrika vs. Türkei; den zwischen Mystikern und Rechtsgelehrten (Ulama), sowie den zwischen Sunniten und Schiiten.
Die islamischen Reformbewegungen sind ursprünglich antikonservative Strömungen v.a. junger Muslime, die überzeugt davon sind, daß »Islam« (Hingabe an Gott) Religion, Staat und Gesellschaft umfaßt, sowie daß Religion, Staat und Gesellschaft nach dem Beispiel der Sunna des Propheten ausgerichtet werden sollen. Die ältesten islam-fundamentalistischen Lehren stammen bereits aus dem 14. Jahrhundert, einer Zeit, in der das Kalifat politisch wie religiös abgewirtschaftet hatte. Sie gehen zurück auf die hanbalitische Reformtheologie, eine der vier großen Rechtsschulen des Islams, benannt nach Ahmad ibn-Hanbal (780–855), einem irakischen Gelehrten, der die Schrifttreue zum Maßstab islamischen Glaubens erhob und dafür sogar in Kerkerhaft kam.
2. Frühe fundamentalistische Reformbewegungen ab 1750
Muhammad ibn ‘Abd al-Wahhāb (1703/4–1792). Gebürtig aus Innerarabien, wird der Theologe zum Begründer der aktionistischen »Wahhabiten«-Bewegung. Seine Anhänger nennen sich Muwahhidun, Bekenner der Einheit Gottes. Sie treten mit dem Ziel auf, den Islam in seiner ursprünglichen Gestalt wieder herzustellen und alle nachkoranischen Neuerungen auszumerzen.
Wahhāb verbindet religiösen Eifer auf geschickte Weise mit politischem Machtstreben: seine Union mit dem Stammesscheich Emir Muhammad ibn Sa‘ud (gest. 1765) führt zur erfolgreichen Eroberung der arabischen Halbinsel und zur andauernden Herrschaft der Sa‘ud-Dynastie, die Wahhābs religiöse Lehren doktriniert. Diese sind gekennzeichnet durch die Praxis des Ijtihād – jeder soll selbständig, d.h. ohne Führung durch einen Lehrer, Rechtsgelehrten oder Derwisch, Koran und Sunna verstehen und auslegen –, durch einen strengen Monotheismus – Heilige (einschließlich der Person Mohammeds) werden als versteckte Relikte des Polytheismus grundsätzlich abgelehnt, es gibt keine Mittler zwischen Schöpfer und Kreatur –, sowie durch aktiven Glaubenskampf (Jihād), um den islamischen Fatalismus, den Glauben, alles sei göttlich vorherbestimmt (Kismet), zurückzudrängen.
Wahhābs Reformen führen vor allem zur altarabischen Kultur zurück: die strikte Anwendung der Strafgesetze, bei Diebstahl beispielsweise das Abhacken der Diebeshand, sowie die Ausdehnung des koranischen Verbots des Alkoholgenusses als Verbot jeglicher Genußmittel, auch Kaffee oder Tabak, ist keineswegs genuiner Teil der islamischen Religion und des islamischen Rechts (Scharia), sondern lediglich der altarabischen Kultur.
Muhammad ibn ‘Ali as-Sanūsi (1787–1859). Aus Algerien gebürtig, in Mystikerorden ausgebildet, gründet Sanūsi seinen aktionistischen »Sanūsīya«-Orden, eine Bruderschaft, die ebenfalls mit dem Ziel auftritt, den Islam in seiner »ursprünglichen Gestalt« wieder herzustellen, im Unterschied zu den ihnen theologisch verwandten Wahhabiten jedoch einer eigenen (einer libysch-saharanischen) Rechtstradition folgt.
Die Sanūsīya verbindet mystische Gebetsinnerlichkeit – die Vereinigung des Gläubigen mit Mohammeds Geist (im Gegensatz zu den Derwisch-Orden, die die Verschmelzung mit Allah selbst anstreben) – mit praktischer Tätigkeit in Landwirtschaft, Handwerk und Handel und achtet dabei auf die strenge Einhaltung der Sunna, die ekstatische Elemente wie Tanz und Musik, in Sufi- und Derwisch-Orden ansonsten üblich, ablehnt. Die Sanūsīya gründet vom Mittelmeer bis in den Sudan politisch einflußreiche Ordenshäuser. So herrscht der Orden zum Beispiel in Libyen zwischen 1843 und 1969.
3. Klassischer Modernismus ab 1850
Verfall und Marginalisierung der islamischen Welt hängen im Zeitalter des Kolonialismus unmittelbar mit dem Verlust der Vormachtstellung des Osmanischen Reichs zusammen. Islamische Staaten geraten zunehmend in Abhängigkeit vom Westen. In dem Maße, wie die westliche Expansion voranschreitet, breitet sich im Orient panislamisches Gedankengut aus, vorwiegend in Ägypten, Indien und der Türkei, in Ländern also, die am stärksten und nachhaltigsten unter intellektuellen und kulturellen Einfluß des Westens geraten. Panislamisch meint: die Gesamtheit der Muslime, die Umma betreffend, jenseits historischer, sprachlicher und kultureller Unterschiede (früher: »Dar al-islam«, das Gebiet des Islams, gegen »Dar al-harb«, das Gebiet des Krieges).
Diese panislamischen Positionen bauen meist auf wahhabitischen Grundgedanken auf, suchen indes einen Ausgleich mit westlichen Ideen. Rationalismus, Sozialreformen (allerdings fernab der in Europa virulenten industriellen Sozialreformen) und die Stellung der Frau in der Gesellschaft stehen dabei im Mittelpunkt und führen zu einem verschärften Problembewußtsein innerhalb der Religion.
Sir Saiyid Ahmad Khān (1817–1898). Der Inder strebt eine politische Annäherung seines Landes an Großbritannien an und rät vom Jihād ab. Beeinflußt von der europäischen Naturphilosophie betreibt er eine Rationalisierung des Islams. Zwar lehnt er die textkritische Koranexegese nach dem Vorbild der Bibelkritik ab, verwirft aber zugleich die Hadithen, eine kanonische Textsammlung der prophetischen Überlieferung, abgeschlossen im 9. und 10. Jahrhundert, als volkstümlichen Aberglauben.
Jamāl ad Din al-Afghāni (1838/39–1897). Der gebürtige Iraner, zeitlebens ein rastloser Reisender zwischen westlichen und östlichen Metropolen, bezeichnet sich selbst als sunnitischen Afghanen. Er wird zum Gegenspieler Ahmad Khāns und zum politischen Aktivisten mit aggressiver Grundhaltung. Al-Afghāni trachtet danach, den islamischen Quietismus, einer der Mystik verwandten religiösen Haltung, die in vollkommener Passivität die innere Ruhe (»Seelenruhe«) anstrebt, mitsamt dessen Jenseitsbetonung in eine anti-imperialistische Solidarität islamischer Nationen zu wandeln. Ziel ist es, die islamische Einheit herzustellen, um die Muslime aus ihrem desolaten Zustand zu führen: »Sie sind unwissend, uneinig und unfähig, den richtigen Weg des Fortschritts einzuschlagen.«
Typisch für den Modernismus ist auch bei al-Afghāni die Übernahme europäischen Gedankenguts: so unterliegt der Ijtihād den Gesetzen des Verstands (rationalistischer Ijtihād), daneben rät al-Afghāni, sich am technologischen Fortschritt des überheblichen Europa zu schulen. Der moderne Muslim solle indes seine Bewunderung und Identifikation mit dem Kolonialherrn überwinden lernen.
Sowohl Ahmad Khān als auch al-Afghāni verwerfen westliche Neuerungen nicht, suchen vielmehr, durch eine Reform des Islam dessen Grundgehalt mit zeitbestimmenden westlichen Elementen zu verbinden. Allerdings sind diese stark intellektuell ausgerichteten Bewegungen kaum von Erfolg gekrönt, die Traditionalisten lehnen sie als verwestlicht und verderbt ab und agieren in den aggressiveren Bewegungen wahhabitischer Prägung.
4. Neuerer Fundamentalismus und Neomodernismus ab 1930
Der Neomodernismus des 20. Jahrhunderts betont noch stärker den universalen Charakter des Islams in der Einheit von Religion und Politik. Nach einem Jahrhundert zunehmender Säkularisierung streben vereinzelte Gruppierungen danach, die Kalifat-Herrschaft zu erneuern. Es kommt zu verschärften Spannungen zwischen Traditionalisten und Modernisten: diese suchen, den Islam noch weiter nach dem westlichen Vorbild der Trennung von Staat und Religion zu säkularisieren, nehmen dabei v.a. liberaldemokratisches Gedankengut auf, während jene den Gegensatz zu den okzidentalen Konzepten hervorheben.
Neofundamentale Bewegungen wie die Muslimbruderschaft, gegründet 1928 in Ismailia (Ägypten), aus ihrem palästinensischen Zweig ging 1987 die islam-fundamentalistische Hamas hervor, fordern eine am Koran und den Hadithen orientierte Staats- und Gesellschaftsordnung und verlangen den dauerhaften Jihād gegen den Westen und die verwestlichten Eliten, die Schuld trügen am Verfall des städtischen Proletariats und der Landbevölkerung in den Staaten der islamischen Welt.
Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert sind diese Bewegungen nun jedoch meist nationalistisch orientiert, wie die von nationalistischen und neofundamentalistischen Kräften getragene Abspaltung Pakistans von Indien 1947 dokumentiert; ab und an sind sie panarabisch, was sich in Ägyptens Union mit Syrien in der »Vereinigten Arabischen Republik« (VAR) von 1958–61 darstellte (der Panarabismus ist ursprünglich bemüht um die Sicherung des arabischen Primats im Islam, seine Vordenker ‘Abd al-Rahman al-Kawakibi und Muhammad Rashid Rida lebten um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert); aber nur noch selten panislamisch.
5. Re-Islamisierung: Überwindung der Krise der islamischen Welt?
Seit Beginn der 70er Jahre hat das Ringen der islamischen Welt um eine eigene Identität, um die notwendige Modernisierung und eine klare Definition der Beziehungen zum Westen eine neue Dimension erfahren durch Bemühungen, den Islam und das islamische Gesetz (Scharia) in der gesamten dar al-islam wieder umfassend zur Geltung zu bringen. Diese Bemühungen werden religionswissenschaftlich und politologisch als Re-Islamisierung (seltener: Renaissance des Islams) bezeichnet.
Impulse zur Re-Islamisierungspolitik geben beispielsweise die erste islamische Gipfelkonferenz im Jahre 1965 unter Führung des progressiv-modernistischen Ägyptens und des konservativ-traditionalistischen Saudi-Arabiens. Erstmals seit dem Sturz des osmanischen Reichs in Person des Sultans Mehmed VI. durch Kemal Atatürk im Jahr 1922 sollte die islamische Welt als organisierte politische Größe in die internationale Politik zurückkehren. Die Konferenz führt u.a. zu einer Charta islamischer Staaten.
Die zunehmenden Öleinnahmen, die seit der Unabhängigkeit vieler islamischer Länder nach dem Ende des zweiten Weltkriegs unabhängigen Staaten zur Verfügung stehen, beschleunigen den Entwicklungs- und Industrialisierungsprozeß und führen zu Kartellbildungen (OPEC). Durch den diesseitigen Erfolg wird erstmals seit der raschen und erfolgreichen Ausbreitung des Islams im europäischen Mittelalter wieder die »Richtigkeit« des Glaubens bestätigt. Das steigert zugleich auch das Selbstbewußtsein vorwiegend arabischer Öl-Regimes.
Zugleich geraten zahlreiche säkular-nationalistische Regierungen Nordafrikas in immer größere wirtschaftliche Abhängigkeit vom »Westen« (das islamische Schlagwort schließt hier auch die Sowjetunion ein) und verpassen den wirtschaftlichen Fortschritt, den man durch Anlehnung an kapitalistische oder sozialistische Staatsziele erreichen will. Bewegungen, die sich einer Re-Islamisierung verpflichtet fühlen, machen sich diese Tatsache zunutze und betonen nun in einem Islam-Kulturalismus die kulturellen und sozialen Errungenschaften der vergangenen islamischen Welt und fordern einen neuen Panislamismus.
Obwohl diese Re-Islamisierung eigentlich die Fortsetzung der Bemühungen gemäßigter islamischer Erneuerer des 19. Jahrhunderts darstellt, die den politischen und sozialen status quo mit islamischen Inhalten zu verbinden trachtet, das islamische Gesetz zu überdenken anregt und von jedem einzelnen verlangt, Ijtihād (nicht Jihād!) zu betreiben, radikalisieren sich durch die Einflußnahme Saudi-Arabiens seit den 70er Jahren die islamischen Fundamentalbewegungen zusehends. Durch seine schier unbeschränkten Finanzmittel sucht der traditionalistische Staat auch kulturellen Einfluß in Afrika und Mittelasien zu gewinnen. Das heißt, man exportiert die wahhabitischen, saudischen Positionen. Aus einer gemäßigten Re-Islamisierung wird so der wahhabitische Islam-Fundamentalismus.
Trotzdem sollte man mit dem Begriff »Islamismus« vorsichtig sein. Er kommt erst in den 90er Jahren als Kampfbegriff – dem »Kampf der Kulturen« beigeordnet – konservativer westlicher Kräfte auf, wird journalistisch rasch verbreitet, ist aber weder religionswissenschaftlich noch politologisch korrekt, da er bestehende Ressentiments verbreitet und negative Konnotationen trägt.
Ein kleiner Exkurs zum Iran: Eine Sonderrolle spielen in diesem Geschehen die schiitischen Staaten. Die iranische Revolution der Jahre 1978/79 unter Ayatollah Khomeini (1900–1989) nimmt die Kritik der gegen die verwestlichten Cliquen operierenden Neomodernisten auf und kombiniert sie mit extrem konservativen pseudo-wahhabitischen Positionen, was u.a. zu einer Wiedereinsetzung des islamischen Rechts führt. Beides allerdings unter schiitischen wie iranischen Vorzeichen – so wird ein Schiit beispielsweise schon lange darüber nachdenken müssen, wer der größere Feind des Propheten ist, der Heide oder der Sunnit; noch schwieriger aber wird die Entscheidung für den Iraner, wenn es sich beim Sunniten um einen dieser »hinterhältigen« Araber handelt, die für den Tod des für sie einzig rechtmäßigen Nachfolgers Mohammeds, des Imams ‘Ali, verantwortlich sind.
6. Abgrenzung des Begriffs der Re-Islamisierung
Der Begriff Re-Islamisierung wird konträr zum Begriff Islam-Fundamentalismus (oder gar Islamismus) gebraucht. Der Islam-Fundamentalismus in seiner Achse Saudi-Arabien-Pakistan-Afghanistan vertritt letztlich alte wahhabitische Positionen, lehnt ausländische »Ismen« (Kapitalismus und Sozialismus) gleichermaßen ab und strebt nach einer Neufundierung des Kalifatgedankens mit totalitärem Anspruch. Der Islam wird hier bewußt als politische Ideologie eingesetzt und verläßt den Bereich des Kulturell-Religiösen.
Re-Islamisierung versteht sich hingegen als eine kritische Hinterfragung westlicher Positionen mit dem Willen zur Modernisierung der islamischen Welt und ist Ausdruck einer Krise dieser islamischen Welt: so dokumentiert sich hierin nicht zuletzt die Angst vor dem kulturellen Identitätsschwund durch unreflektierte Verwestlichung; daneben zeigen sich darin Defensivreaktionen einer vor- oder semiindustriellen Kultur, die nicht mehr zurückkehren kann in die traditionelle Gesellschaftsform (auch wenn man dies beispielsweise in Afghanistan versucht hat, wie man nun sieht: mit geringem Erfolg), aber auch keine Brücke in die industrielle Gesellschaftsform zu schlagen vermag. Re-Islamisierung soll hierbei zu einem Brückenbauer werden, um den westlichen Entwicklungsvorsprung aufzuholen.
7. Abschluß: Der islamische Universalanspruch
Der Islam versteht sich als religiöse, soziale und politische Ordnung, darin drückt sich sein universaler Auftrag aus. Das bedeutet nicht zuletzt auch, daß der Kampf gegen religiöse Entfremdung und kulturelle Bevormundung immanente religiöse Pflicht ist, recht eigentlich zur Emanzipation des muslimischen Menschen gehört und als Jihād gedeutet wird (der Begriff meinte ursprünglich nur den ganz konkreten Selbstverteidigungskampf der Umma gegen Angriffe von außen, beispielsweise während der Kreuzzüge; von Mystikern schon früh innerseelisch als Kampf gegen den Schaitan – Satan – gedeutet, ist zwischenzeitlich soviel Schindluder damit getrieben worden, daß er zum am häufigsten mißbräuchlich verwendeten Begriff überhaupt geraten ist).
Islam bedeutet wörtlich: Hingabe an Gott, Ergebung in Gottes Willen. Dieser offenbart sich im Koran. Um den rechten Weg zu finden, sucht der Mensch im Koran Gottes Willen und ergibt sich darein. Der Islam ist in seinem Selbstbild die letzte, endgültige und alleinige, gottgewollte Religion und stellt den Höhe‑, Umkehr- und Schlußpunkt der Prophetengeschichte dar. Jeder Prophet ist ein von Gott an (s)ein Volk Gesandter. Mohammed indes ist der Gesandte Gottes an die gesamte Menschheit, nicht mehr nur an ein bestimmtes Volk. Daher verlieren Juden- und Christentum, die frühere, überwundene Stufen des Prophetentums repräsentieren, ihre Universalansprüche.
Da es sich beim Islam um eine an alle Menschen gesandte Offenbarung handelt, ist die ursprüngliche und erste Pflicht des Islams, alle Menschen durch den Willen Gottes zum Willen Gottes zu bekehren.
Der Islam bringt die endgültige, verbindliche Gesetzgebung des Willens Gottes. Damit ist dessen Offenbarung abgeschlossen, es kann keine weitere Offenbarung oder Verkündung seines Willens geben (obwohl es in der Geschichte des Islams oder in Derivatbewegungen de facto immer wieder neue Offenbarungen gegeben hat). Diese endgültige Gesetzgebung des Willens Gottes ist auf das Weltganze der menschlichen Geschichte und auf das konkrete einzelne Menschenleben bezogen. Der Islam setzt den gesetzlichen Rahmen, in den das Leben des Gläubigen sich einfügt und erläßt die Ordnung, an der sich Familie, Gesellschaft, Staatswesen und internationale Beziehungen der Umma (der islamischen Welt) orientieren. Dies meint die berühmt-berüchtigte Einheit von Staat, Gesellschaft und Religion und erklärt hinlänglich den Anspruch der Re-Islamisierungsbewegung, daß der Islam eine echte Alternative zu allen westlichen und (ehemaligen) östlichen Systemen darstelle, die versagt hätten und zu Identitätskrisen im Orient wie im Okzident führten.
Die Länder der Umma sollen ihren eigenen Weg gehen im Einklang von Kultur und Identität, eine »florierende Gemeinschaft unter Gottes und seines Gesetzes Rechtleitung. Ein neues Gewissen der Menschheit.« (Charta islamischer Staaten)
© Martin von Arndt
Literatur:
Ende, Steinbach (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart. München 1984.
Khalid, D.: Re-Islamisierung und Entwicklungspolitik. München 1982.
Khoury, Adel Th.: Der Islam. Freiburg/Brsg. 1984.
Troll, Christian: Islam und islamisches Denken im Umbruch. In: Jahrbuch Mission Hamburg 1986.
Khoury, Adel Th.: Zur heutigen Renaissance des Islams. In: Fitzgerald, Khoury, Wanzura (Hrsgg.): Renaissance des Islams. Graz 1980.
Watt, W. Montgomery, Welch, Alford (Hrsgg.): Der Islam. Stuttgart 1980.
Aus: Martin von Arndt: Klassiker der Religionspsychologie – Neun religionswissenschaftliche Aufsätze – Shaker media Aachen 2008, ISBN 978–3‑86858–164‑5
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Guten Tag,
vielen Dank für ihren ausführlichen Essay Herr Martin von Arndt. Mit einer Aussage kann ich mich allerdings nicht ganz anfreunden und zwar mit dieser:
»Im Gegensatz zum Christentum kennt der Islam keine große Reformbewegung wie die lutherische, calvinistische oder zwinglianische Reformation....«
Für die Muslime sieht dies allerdings anders aus. Für die Muslime war Imam Ruhullah Chomeini ein großer Reformator des Islams. Und zur Zeit lebt ebenfalls ein großer Reformator, Imam Ali Chamenei.
Danke nochmals, dass sie ihr wisen mit uns teilen.
lg
Hassan Mohsen
Ich möchte eine evtl. Antwort des Autors nicht vorwegnehmen. Ich glaube nur, dass Sie Reformation mit Restauration verwechseln.