Lá­szló Kra­szn­ahor­kai: Herscht 07769

László Krasznahorkai: Herscht 07769
Lá­szló Kra­szn­ahor­kai: Herscht 07769

Rasch kom­men sie, die Ana­lo­gien. Da ist der fu­rio­se Ro­man »Zo­ne« von Mat­thi­as Énard, der 2010 ins Deut­sche über­setzt wur­de. Der Text ent­steht im Kopf ei­nes ehe­ma­li­gen Söld­ners wäh­rend ei­ner Zug­fahrt von Mai­land nach Rom; ein ein­zi­ger in­ne­rer Mo­no­log ei­ner zwie­lich­ti­gen Fi­gur (viel­leicht ein Kriegs­ver­bre­cher?) mit wil­den As­so­zia­tio­nen, hi­sto­rio­gra­phi­schen Ein­schü­ben, Ge­dan­ken­ket­ten, (Liebes-)Beichten, Göt­ter­be­schwö­run­gen, Schimpf‑, Hass‑, Ekel- und Schmäh­ti­ra­den, ei­ne Blei­wü­ste auf 600 Sei­ten aus nur we­ni­gen Sät­zen, viel­leicht drei oder vier, ei­ner Re­vue der Bar­ba­ren, die am und um das Mit­tel­meer in den letz­ten tau­send Jah­ren ge­haust, ge­herrscht, ge­vö­gelt und vor al­lem ge­mor­det ha­ben, ei­ne un­end­li­che Ge­schichts­stun­de, die man so schnell nicht ver­ges­sen wird und die man nicht auf­hö­ren kann zu le­sen.

Dar­an denkt man so­fort wenn man »Herscht 07769« zu le­sen be­ginnt, die­sen Mo­nu­men­tal­ro­man des 1954 ge­bo­re­nen Lá­szló Kra­szn­ahor­kai. Lei­der wur­de man in­zwi­schen vor­ge­warnt, dass die­se rund 400 Sei­ten tat­säch­lich nur aus ei­nem Satz be­stehen. Ein Apo­ka­lyp­ti­ker sei der Au­tor, so le­se ich, der noch nie et­was von ihm ge­le­sen hat­te, so als sei dies in die­sen hy­ste­ri­schen Zei­ten, die in­zwi­schen in na­he­zu je­der Nach­rich­ten­sen­dung klei­ne­re und gro­ße Apo­ka­lyp­sen in Aus­sicht stellt, noch et­was Be­son­de­res. Aber dies hier sei ein deut­scher Ro­man sagt ei­ner der­je­ni­gen, des­sen li­te­ra­ri­sche Ur­tei­le ich schät­ze, und es geht tat­säch­lich um Deutsch­land, ge­nau­er um Thü­rin­gen, den Ort Ka­na mit der Post­leit­zahl 07769, den es na­tür­lich nicht gibt, es ist ein fik­ti­ver, ein ver­wun­sche­ner Ort im Osten, den ir­gend­wie al­le ken­nen, ob­wohl kaum je­mand dort war, ein Syn­onym für Ost­deutsch­land, wie man es sich vor­stellt, denn »Ka­na mach­te nachts nicht den Ein­druck ei­nes Or­tes, an dem die Men­schen schön ru­hig schlie­fen, son­dern den ei­nes, aus dem man schon weg­ge­zo­gen war«. Spä­ter wird man mer­ken, dass der Na­me nicht nur ein Wort­spiel zum re­al exi­stie­ren­den Ort Kahla ist (Post­leit­zahl 07766), son­dern na­tür­lich auch an das Land Ka­na­an er­in­nert, in dem wahl­wei­se Milch und Ho­nig flie­ßen oder (und) Je­sus Was­ser in Wein ver­wan­del­te. Die­se As­so­zia­ti­on wird ein biss­chen ein­ge­hegt, denn die gan­ze To­po­gra­phie Thü­rin­gens in die­sem Buch kommt mit »Klar­na­men« vor, al­so ist das Drum­her­um erst ein­mal au­then­tisch (wie es die Kri­tik liebt).

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Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung
Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung

Es gibt in­zwi­schen un­zähl­ba­re ana­ly­tisch-hi­sto­ri­sche Be­trach­tun­gen zu der Epo­che, die all­ge­mein ver­kür­zend mit »1968« be­zeich­net wird (und die ei­gent­lich 1966 be­gann). In den letz­ten Jah­ren sind nun ver­mehrt Pu­bli­ka­tio­nen er­schie­nen, die ein­zel­ne Jah­re aus dem 1970er-Jahr­zehnt un­ter­su­chen und hi­sto­ri­sche Zä­su­ren ent­deck­ten, die maß­geb­lich den Vor­gang der Ge­schich­te be­stimm­ten. So ana­ly­sier­te Kar­sten Kram­pitz das Jahr 1976 als An­fang vom En­de der DDR (und so­mit in­di­rekt auch des »re­al exi­stie­ren­den So­zia­lis­mus«) . Der Hi­sto­ri­ker Frank Bösch li­ste­te in Zei­ten­wen­de 1979: Als die Welt von heu­te be­gann wich­ti­ge welt­po­li­ti­sche Er­eig­nis­se des Jah­res 1979 als rich­tungs­wei­send auf. Und der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Phil­ipp Sa­ras­sin un­ter­such­te un­längst mit 1977- Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart, die »tie­fen ge­sell­schaft­li­chen, po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len, wis­sen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Ver­schie­bun­gen und Brü­che in West­eu­ro­pa und den USA«, die sich, so die The­se »im Jahr 1977 bün­deln las­sen« (das Er­geb­nis über­zeugt eher we­ni­ger).

Der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger nimmt sich nun auf fast 500 Sei­ten (mit 37 Ab­bil­dun­gen) des gan­zen Jahr­zehnts an. In Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung (an­ge­lehnt an den Ti­tel ei­ner Er­zäh­lung von Pe­ter Hand­ke) re­sü­miert er die 1970er-Jah­re als ei­ne »wil­de Blü­te­zeit der deut­schen Li­te­ra­tur« (so der Un­ter­ti­tel). Im Un­ter­schied zu den oben ge­nann­ten Bü­chern sucht Böt­ti­ger nicht zwang­haft nach hi­sto­ri­schen Wen­de­punk­ten, son­dern ver­sucht zu be­schrei­ben, wie die 68er-»Revolution« und ih­re Aus­wir­kun­gen in die Li­te­ra­tur po­li­tisch und vor al­lem äs­the­tisch über­führt wur­de.

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Zit­tern und Lust

»Die be­vor­ste­hen­de Ka­ta­stro­phe wird mit Zit­tern und zu­gleich mit Lust be­schwo­ren, mit Angst und zu­gleich mit Sehn­sucht er­war­tet. So wie in der deut­schen Ge­sell­schaft zwi­schen den bei­den Welt­krie­gen Kla­ges und Speng­ler den apo­ka­lyp­ti­schen Ton an­ga­ben, so fun­gie­ren heu­te […] die öko­lo­gi­schen Kas­san­dras als Buß­pre­di­ger ei­ner Klas­se, die nicht mehr an die ei­ge­ne Zu­kunft glaubt; ver­än­dert ...

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Ste­fan Aust: Zeit­rei­se

Stefan Aust: Zeitreise
Ste­fan Aust: Zeit­rei­se

Ir­gend­wie kennt man Ste­fan Aust im­mer schon. Zu­min­dest die­je­ni­gen, die sich En­de der 1970er/Anfang der 1980er Jah­re po­li­tisch so­zia­li­sier­ten. In der Nach­be­ar­bei­tung des RAF-Ter­ro­ris­mus galt Aus­ts »Der Baa­der-Mein­hof-Kom­plex«, 1985 zum er­sten Mal er­schie­nen, früh als Stan­dard­werk. Er schlug da­mit ei­nen Pflock in die Ge­schich­te des deut­schen Links­ter­ro­ris­mus ein, was an sei­ner spe­zi­el­len Ver­fah­rens­wei­se nicht nur in die­sem Pro­jekt liegt: Aust war und ist im­mer be­reit, in sei­nen Bü­chern Feh­ler zu ent­fer­nen und sie auf den ak­tu­el­len, neu­en Stand der Re­cher­chen zu brin­gen. »Der Baa­der-Mein­hof-Kom­plex« ist in­zwi­schen rund 1000 Sei­ten stark.

Sei­nen Schreib­stil sieht er an­ge­lehnt am an­gel­säch­si­schen Vor­bild der »Non­fic­tion Li­te­ra­tu­re«, d. h. ei­ne »Er­zäh­lung, be­stehend aus Re­cher­chen, so dicht wie ir­gend mög­lich an den Er­eig­nis­sen, aber les­bar wie ein Ro­man«. Sei­ne Ar­bei­ten er­he­ben, so Aust sel­ber, nie den An­spruch der Wis­sen­schaft­lich­keit. Das ist al­ler­dings nicht im­mer un­pro­ble­ma­tisch.

Aust hat »Zeit­rei­se« als ei­ne Art Ar­beits­bio­gra­phie kon­zi­piert, in, wenn ich rich­tig ge­zählt ha­be, 182 Häpp­chen, weit­ge­hend chro­no­lo­gisch er­zählt. Es ist auch ei­ne Re­mi­nis­zenz an die Nach­kriegs-Bun­des­re­pu­blik und de­ren mehr oder we­ni­ger hef­ti­gen po­li­ti­schen Erup­tio­nen und Skan­da­le. Aust, 1946 ge­bo­ren, An­ge­hö­ri­ger der »Ge­ne­ra­ti­on Glück ge­habt« (oder auch »Be­zie­hun­gen ge­habt« – denn schon die Bun­des­wehr blieb ihm auf­grund sei­ner Kon­tak­te er­spart), er­zählt zu­nächst ein biss­chen von sei­ner Fa­mi­lie, ins­be­son­de­re vom Va­ter, der et­li­che Jah­re in Ka­na­da war, be­vor er dann 15 Jah­re spä­ter nach Deutsch­land zu­rück­kehr­te. So ganz er­folg­reich wa­ren sei­ne El­tern mit ih­ren Pro­jek­ten (zu­letzt ei­nem Ho­tel) nicht, aber das wird nur ge­streift. In­ten­si­ver be­schäf­tigt sich Aust im Buch mit sei­nen Reit­pfer­den, die im Lau­fe der Zeit zu ei­nem Ret­tungs­an­ker für den Men­schen Ste­fan Aust wer­den.

Aber es geht um die Kar­rie­re. Und die be­ginnt als Re­dak­teur in ei­ner Schü­ler­zei­tung recht früh. Aust und sei­ne Freun­de be­kom­men Pro­ble­me mit der Schul­lei­tung. Es droht »Zen­sur«. Aber man ist um­trie­big: Die Zei­tung wird nicht in son­dern vor der Schu­le ver­kauft; un­ter­stützt von lo­ka­ler Wer­bung, die er im lo­ka­len Ein­zel­han­del ak­qui­riert. Da­mit will er den Ein­fluss der Schul­lei­tung ban­nen. Die Schwie­rig­kei­ten der Schü­ler wer­den im Ma­ga­zin »Pan­ora­ma« An­lass ei­nes Bei­tra­ges. Und schon ist Aust im Ge­schäft. Vom Prak­ti­kan­ten bei »kon­kret« ar­bei­tet er sich rasch zum »Chef vom Dienst« hoch, arg­wöh­nisch be­trach­tet von Ul­ri­ke Mein­hof, die dort Ko­lum­nen schreibt. Aust ist der so­zi­al und po­li­tisch en­ga­gier­ten Lin­ken zu bür­ger­lich. Was das Ehe­paar Röhl/Meinhof nicht da­von ab­hält, Ur­laub in ih­rem Haus auf Sylt zu ma­chen. Spä­ter wird Aust die Mein­hof-Kin­der aus der Ob­hut des RAF-Um­fel­des nach Deutsch­land über­füh­ren – was na­tür­lich noch ein­mal aus­führ­lich ge­schil­dert wird.

Es ist die Zeit der Stu­den­ten­un­ru­hen, des Um­bruchs. Aust ist mit­ten­drin, aber ir­gend­wie nie in­vol­viert; ver­bleibt in der Be­ob­ach­ter­rol­le. Ei­ne be­son­de­re po­li­ti­sche Fi­xie­rung hat er, wie er schreibt, nicht. »Man war nicht ei­gent­lich links, eher ein we­nig an­ar­cho-li­be­ral, kri­tisch nach al­len Sei­ten.« Merk­wür­dig an die­ser Stel­le das »man«, zu­mal Aust an­son­sten recht ger­ne mit dem »ich« zur Hand ist. Ge­gen En­de des Bu­ches, in den 2010er Jah­ren sagt er ehe­ma­li­gen lin­ken Jour­na­li­sten­kol­le­gen: »Ich muss nicht so rechts wer­den wie ihr, weil ich nie so links war wie ihr.«

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Kö­nigs­ma­cher und Kon­troll­freak

Ei­ne Be­mer­kun­gen zum Film »Ke­vin Küh­nert und die SPD« von Ka­tha­ri­na Schie­le und Lu­cas Strat­mann

Ir­gend­wann 2019 trifft sich Ke­vin Küh­nert im Rah­men ei­ner Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tung mit Phil­ipp Amt­hor, dem vier Jah­re jün­ge­ren Nach­wuchs­star der CDU. Die Le­bens­läu­fe äh­neln sich. Bei­de ha­ben ihr gan­zes bis­he­ri­ges Be­rufs­le­ben in Gre­mi­en von po­li­ti­schen Par­tei­en ver­bracht und dort re­üs­siert. Amt­hor hat im­mer­hin die »Er­ste Ju­ri­sti­sche Prü­fung« ab­sol­viert, Küh­nert ist Stu­di­en­ab­bre­cher. Der auf­merk­sa­me Zu­schau­er er­in­nert sich an ei­ne Sze­ne im Film, dass ein Bild des Kop­fes von Amt­hor an ir­gend­ei­ner Pinn­wand im Wil­ly-Brandt-Haus im Hin­ter­grund se­hen war als sich Küh­nert und sei­ne En­tou­ra­ge Hoch­rech­nun­gen an­schau­ten – ver­mut­lich als Scherz­mit­tel. Amt­hor er­kun­digt sich, war­um ein Film­team da­bei ist und Küh­nert klärt ihn auf, dass dies für ei­ne Lang­zeit-Do­ku­men­ta­ti­on sei; ge­plant bis zur Bun­des­tags­wahl 2021. Er ha­be das auch schon mal über­legt, so Amt­hor, der sich ver­mut­lich sor­gen wür­de, dass die Pri­vat­heit zu kurz kommt. Kein Pro­blem, klärt ihn Küh­nert auf, »wenn ich sa­ge ‘ist nicht’ – dann ist nicht«.

Ge­nau dies muss man in den mehr als drei Stun­den, den der Film »Ke­vin Küh­nert und die SPD« dau­ert (or­dent­lich por­tio­niert auf sechs Fol­gen), im­mer im Au­ge ha­ben: Es ist die ste­ri­le Au­then­ti­zi­tät ei­nes »Best of«, wel­ches Ka­tha­ri­na Schie­le und Lu­cas Strat­mann von Ke­vin Küh­nert zwi­schen 2018 und 2021 mit des­sen Er­laub­nis zei­gen. Es ist ei­ne Si­mu­la­ti­on von Rea­li­tät, ein be­stimm­tes Image trans­por­tie­rend. Ge­zeigt wird je­mand, der per­ma­nent Me­di­en kon­su­miert und sich in den Me­di­en Prä­senz ver­schafft, eben weil er in ei­ner Po­si­ti­on als Ju­so-Vor­sit­zen­der (bis En­de 2020) ge­nau die­se Prä­senz er­hält. Küh­nert, der stän­dig un­ter Strom zu sein scheint, ist Ak­teur in ei­ner selbst­re­fe­ren­ti­el­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­spi­ra­le ei­ner Po­lit­bubble, die nur ei­nen Fix­punkt hat: Ke­vin Küh­nert.

Er macht es den Me­di­en leicht, ist ein dank­ba­rer In­ter­view­part­ner, (fast) stän­dig ver­füg­bar und re­ak­ti­ons­schnell, wenn es dar­um geht, Aus­sa­gen sei­ner Ge­nos­sen und/oder des po­li­ti­schen Geg­ners schlag­zei­len­träch­tig zu kom­men­tie­ren. Wenn er den säch­si­schen Mi­ni­ster­prä­si­den­ten Kret­schmer als »Sprech­au­to­mat« be­zeich­net, so ist dies durch­aus als Di­stanz zu den Phra­sen des Po­lit­be­triebs ge­meint, die Küh­nert im­mer ver­sucht ist, zu um­ge­hen um ei­ge­ne Punk­te zu set­zen.

Bei al­ler In­sze­nie­rung – es gibt sie eben doch, die ehr­li­chen Mo­men­te. Als Küh­nert im Eu­ro­pa­wahl­kampf in der ober­ber­gi­schen Pro­vinz vor­fährt und für ein paar Stun­den das Ba­sis­par­füm in ei­ner Gast­stät­te ein­at­met, bricht er sich noch vor dem Buf­fet auf. Man ver­ab­schie­det ihn herz­lich; er ist wirk­lich ei­ne Art von Hoff­nungs­trä­ger. Als die Au­to­tür zu­schlägt ent­fleucht ihm ein Seuf­zer: »Mei­ne Gü­te«. Und da blitzt die Ver­ach­tung des Funk­tio­närs dem Klein­bür­ger ge­gen­über auf.

Als er in ei­nem ZEIT-In­ter­view 2019 die Kol­lek­ti­vie­rung von Un­ter­neh­men als lang­fri­sti­ges Ziel aus­gibt, um den Ka­pi­ta­lis­mus zu über­win­den, kon­tert er den Wi­der­spruch auch in den ei­ge­nen Rei­hen mit ei­nem trot­zi­gen »das muss­te mal ge­sagt wer­den« und mo­niert, dass der Bei­trag im Netz im­mer noch hin­ter ei­ner Be­zahl­schran­ke ver­bor­gen ist. Wenn hier­zu die In­ter­view­an­fra­gen an­de­rer Me­di­en ex­plo­die­ren, kon­tert Küh­nert dies mit »Aas­geie­rei«, weil die zu er­war­ten­den Fra­ge­stel­lun­gen nicht nach sei­nem Ge­schmack aus­fal­len dürf­ten. Wenn er könn­te, wür­de er auch noch die Fra­gen an sich sel­ber for­mu­lie­ren wol­len. Im­mer­hin wird der »Volks­ver­pet­zer« ge­lobt, der als Si­de­kick zu Küh­nerts Pres­se­spre­cher die In­ter­view-Pas­sa­ge ent­spre­chend deu­tet.

Bei DWDL steht zu le­sen, was Küh­nert zur Do­ku­men­ta­ti­on sag­te: »Vie­le lei­ten ihr Ver­ständ­nis von po­li­ti­schen Pro­zes­sen und Par­la­men­ta­ris­mus von dem ab, was sie in Fil­men und Se­ri­en se­hen, wäh­rend das kon­kre­te Ver­ständ­nis des ei­ge­nen na­tio­na­len oder re­gio­na­len Par­la­ments sehr ge­ring aus­ge­prägt ist.« Wei­ter steht dort, er, al­so Küh­nert, »ha­be zei­gen wol­len, ‘wie Po­li­tik aus­se­hen kann, wenn sie nicht aus dem par­la­men­ta­ri­schen Zu­sam­men­hang her­aus kommt’ «.

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Aus ei­nem Kran­ken­haus­ta­ge­buch

Au­gust-Sep­tem­ber 2021

In den Spi­tals­bet­ten ne­ben mir Grei­se oh­ne Le­bens­wil­len, mit hin­fäl­li­gem Kör­per, der für je­de klein­ste Ver­rich­tung auf As­si­stenz an­ge­wie­sen ist, selbst­stän­dig kön­nen sie nichts mehr tun, auch wenn noch ein Fun­ken Wil­le da sein soll­te. Ist es ih­nen recht, daß sie noch ei­ne Zeit­lang im Le­ben ge­hal­ten wer­den, wol­len sie das wirk­lich? Wo sie das Es­sen und das We­ni­ge, was sie ver­dau­en, nicht mehr be­hal­ten kön­nen, sich an­schei­ßen (in die Win­del, selbst kön­nen sie sich nicht säu­bern) und an­kot­zen (selbst kön­nen sie sich nicht säu­bern). Die Hilf­lo­sig­keit, in viel ge­rin­ge­rem Aus­maß, er­le­be ich jetzt an mir selbst, mit gu­ten Aus­sich­ten auf Wie­der­her­stel­lung.

Un­ter den Fin­ger­nä­geln der Schmutz der Pfüt­ze, in der ich saß, und das ge­trock­ne­te schwärz­lich-röt­li­che Blut, das da­mals, vor­ge­stern, aus mei­ner Wun­de an der Stirn tropf­te.

Ei­ner der Grei­se nimmt den Schmerz vor­weg, er stößt im vor­aus, so­bald sich die Pfle­ge­rin­nen nä­hern, die klei­nen Schreie aus, wahr­schein­lich spürt er den Kör­per­schmerz tat­säch­lich vor je­der Be­we­gung. Phan­ta­sie oder Phy­sio­lo­gie, es kommt aufs sel­be hin­aus. Er brüllt nicht, son­dern teilt be­hut­sam-rou­ti­niert sei­ne Ge­füh­le mit, in­dem er das längst ein­ge­üb­te Lied­chen vom Schmerz zum Be­sten gibt. Er weiß ge­nau, wie die Kran­ken­schwe­stern, die ihn im Bett an­he­ben und um­dre­hen, re­agie­ren wer­den: Sie fin­den ihn süß wie ei­nen hüb­schen klei­nen Jun­gen. Die­ses Sing­spiel wie­der­holt sich je­den Tag mehr­mals: itai-itaika­waii­neitaitaika­waiiii . . . Der Greis ge­nießt es wie ein jun­ger Geck, er wird wie­der zum ver­wöhn­ten Kna­ben auf der Schwel­le zum Man­nes­al­ter, der im­mer aufs neue die Kunst der Ver­füh­rung ent­deckt. Und trotz­dem lei­det er Schmer­zen, sie wer­den ihn nie mehr ver­las­sen.

Zwei Ta­ge oh­ne Bü­cher und zum Nichts­tun, zum reg­lo­sen Lie­gen ver­ur­teilt – ei­ne schreck­li­che Zeit, auch wenn ich kaum im­stan­de ge­we­sen wä­re, zu le­sen. We­nig­stens die Bü­cher ne­ben mir zu wis­sen, den Blick auf ir­gend­ei­ne Sei­te ge­hef­tet, wä­re mir ein Trost ge­we­sen.

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Ar­beit am Le­bens­ro­man

Ei­ni­ge Be­mer­kun­gen über Paul Ni­zon

Nein, er sei kein Er­zäh­ler. So Paul Ni­zon, un­ter an­de­rem im Au­gust die­ses Jah­res, im Ge­spräch mit Pe­ter Ste­phan Jungk. Als Ver­fas­ser von »Ak­ti­ons­pro­sa« möch­te sich der mitt­ler­wei­le 92jährige Ni­zon se­hen. Man nennt ihn Sprach­künst­ler oder Sprach­ma­gi­er. Und das ist er ja auch. Aber eben nicht nur.

So as­so­zia­tiv-spie­le­risch, bis­wei­len her­me­tisch die Ro­ma­ne an­mu­ten – in sei­nen Jour­na­len ist das an­ders. Seit 1993 er­schei­nen sie, zu­nächst mit Auf­zeich­nun­gen aus den Jah­ren 1980–89. 2002 folg­te der Jour­nal­band der Jah­re 1961–72. Zwei Jah­re spä­ter dann die Auf­zeich­nun­gen von 1973–79. 2008 wer­den die Jah­re 1990–99 be­han­delt, be­vor 2012 der Band Ur­kun­den­fäl­schung mit den No­ta­ten von 2000–2010 er­scheint. Die Ein­tra­gun­gen sind nie apho­ri­stisch, son­dern kon­zi­piert wie klei­ne Feuil­le­tons oder Er­zäh­lun­gen. Aus­lö­ser sind An­läs­se wie Le­sun­gen, Rei­sen oder Be­su­che. Aber auch Nach­be­trach­tun­gen von Lek­tü­ren, Aus­stel­lun­gen (Ni­zon, der ehe­ma­li­ge Kunst­kri­ti­ker, bleibt hier hell­wach), Spiel­fil­men (Ki­no-Be­su­che wer­den sel­te­ner; er schätzt Fer­ra­ra und Felli­ni) und in jüng­ster Zeit vor al­lem (Fernseh-)Dokumentationen. Den Kern bil­den je­doch Re­fle­xio­nen und As­so­zia­tio­nen aus sei­nem (Schriftsteller-)Leben, ins­be­son­de­re der Kind­heit und der (län­ge­ren) In­itia­ti­on zum Schrift­stel­ler und ak­tu­el­le Schreib­vor­ha­ben.

Ni­zon hat­te frü­her sei­ne Tex­te zu­nächst auf Band ge­spro­chen. In­zwi­schen tippt er sie so­fort in ei­ne Schreib­ma­schi­ne, was bis­wei­len zu Pro­ble­men führt, da sei­ne Ap­pa­ra­te oft de­fekt sind. Er sucht stän­dig nach neu­en al­ten Ma­schi­nen, ist dann ir­gend­wann glück­lich, ei­ne Oli­vet­ti Let­te­ra 32 zu be­kom­men. Er braucht den »Krach« der Schreib­ma­schi­nen­an­schlä­ge; mit dem ver­gleichs­wei­se lei­sen Com­pu­ter kommt er nicht zu­recht. Ihm ist be­wusst, dass der Ge­brauch der Schreib­ma­schi­ne von ei­ni­gen Au­gu­ren als Sym­ptom sei­ner Pro­sa ge­se­hen wird. Aber Ni­zon hat sich nie um die Ur­tei­le an­de­rer ge­schert.

Paul Nizon: Der Nagel im Kopf
Paul Ni­zon:
Der Na­gel im Kopf

So­eben ist nun sein Jour­nal­band von Auf­zeich­nun­gen zwi­schen 2011 und 2020 mit dem viel­deu­ti­gen Ti­tel Der Na­gel im Kopf er­schie­nen. Viel­deu­tig des­halb, weil es ei­nen Do­ku­men­tar­film über Paul Ni­zon von Chri­stoph Kühn aus dem Jahr 2020 glei­chen Na­mens gibt. Und weil es der Ti­tel ei­nes jah­re­lan­gen Ro­man­pro­jekts von Ni­zon ist, dass nicht rea­li­siert wur­de. Be­reits in Ur­kun­den­fäl­schung, dem Band der 2000er-Jah­re, kann man die An­fän­ge die­ser Idee nach­le­sen, wel­che rasch in Stocken kommt. Par­al­lel zur Na­gel-Idee gibt es das zä­he­re, wie Wend Kä­s­sens im Nach­wort er­läu­tert, seit Jahr­zehn­ten im­mer neu auf­flam­men­de, Ma­ria-Pro­jekt. Ni­zon er­schafft su­chend ste­tig neue Be­trach­tun­gen und Text­frag­men­te, die sich im neu­en Band fort­set­zen. Im­mer­hin ist es 2004 zu­sam­men mit Co­let­te Fell­ous zu ei­nem Ge­mein­schafts­ro­man mit dem Ti­tel Ma­ria Ma­ria ge­kom­men, der bis­her (war­um ei­gent­lich?) nur auf fran­zö­sisch er­schie­nen ist. Im vor­he­ri­gen Jour­nal­band wird die Ge­ne­se die­ses Ro­mans ver­blüf­fend we­nig aus­ge­führt. Ins­ge­samt scheint Ni­zon mit die­sem Buch nicht zu­frie­den zu sein.

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Karl Heinz Boh­rer: Was al­les so vor­kommt

Karl Heinz Bohrer: Was alles so vorkommt
Karl Heinz Boh­rer:
Was al­les so vor­kommt

»Drei­zehn all­täg­li­che Phan­ta­sie­stücke« wer­den in Karl Heinz Boh­rers neue­sten, post­hum er­schie­ne­nen Buch »Was al­les so vor­kommt« ver­spro­chen. Es be­ginnt auch so­gleich mit ei­ner für Boh­rer zum All­täg­li­chen ge­hö­ren­den Si­tua­ti­on: ei­ner Bahn­fahrt von Köln über Brüs­sel bis nach Lon­don. Nur, dass die in ei­nem Hit­zesom­mer statt­fin­det und, wie sich nach Stun­den her­aus­stellt, die Glei­se der­art von der Son­nen­ein­strah­lung mit­ge­nom­men sind, dass man gro­ße Um­we­ge und un­ge­wis­se Ver­spä­tun­gen zu er­tra­gen hat. »Das bis­her als si­cher­stes gel­ten­de Sy­stem, das so lan­ge Ver­trau­en er­wecken­de Ge­fährt, war au­ßer Kon­trol­le ge­ra­ten, oh­ne dass je­mand es er­klä­ren konn­te«, so die wahr­haft exi­sten­tia­li­sti­sche Er­fah­rung, die, wie er fast pa­the­tisch schreibt, auch sei­ne Er­fah­run­gen aus der Kriegs­zeit noch über­tref­fe.

Zwi­schen­durch fah­ren Boh­rer und (so nimmt man an) sei­ne Frau an Mön­chen­glad­bach vor­bei, pas­sie­ren im Schritt­tem­po Gei­len­kir­chen. Er kommt ins Schwär­men, wie er in der Ju­gend die­se Land­schaft für sich er­obert hat­te und rä­so­niert über die lei­der stark ge­sun­ke­ne Qua­li­tät der Rei­be­ku­chen vor dem Köl­ner Haupt­bahn­hof. Lang­sam ver­sa­gen die Kli­ma­an­la­gen; in der er­sten Klas­se zu­letzt. Schließ­lich er­rei­chen sie ei­nen Bahn­hof in Bel­gi­en, von dem er über die Dör­fer nach Brüs­sel geht. Auch hier kein Luft­aus­tausch mög­lich; brü­ten­de Hit­ze im Ste­hen. Statt am frü­hen Nach­mit­tag geht es um 23 Uhr ab Brüs­sel nach Lon­don. Ge­gen drei Uhr mor­gens sind die Boh­rers zu Hau­se.

Der Grund­ton die­ser klei­nen Ca­pric­ci­os – al­le zwi­schen 12 und 16 Sei­ten – ist hei­ter, aber nicht un­ernst, leicht und trotz­dem ge­halt­voll. Da­bei sind es häu­fig Re­mi­nis­zen­zen, Er­fah­run­gen, die Boh­rer kühn zwi­schen Oeu­vres von Fil­me­ma­chern, Li­te­ra­ten oder Künst­lern hin- und her­sprin­gen lässt und zu über­ra­schen­den Kreuz- und Quer-Ver­knüp­fun­gen und ‑Ab­lei­tun­gen führt. Ob er über Fil­me, Kin­der­bü­cher, Freund­schaf­ten, Schlaf­lo­sig­keit, das Res­sen­ti­ment, das Al­lein­sein oder Fuß­ball nach­denkt – vom all­ge­mei­nen geht es im­mer auch ins Per­sön­li­che. Und um Le­bens­bi­lan­zen, die et­was end­gül­ti­ges be­kom­men.

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