Rasch kommen sie, die Analogien. Da ist der furiose Roman »Zone« von Matthias Énard, der 2010 ins Deutsche übersetzt wurde. Der Text entsteht im Kopf eines ehemaligen Söldners während einer Zugfahrt von Mailand nach Rom; ein einziger innerer Monolog einer zwielichtigen Figur (vielleicht ein Kriegsverbrecher?) mit wilden Assoziationen, historiographischen Einschüben, Gedankenketten, (Liebes-)Beichten, Götterbeschwörungen, Schimpf‑, Hass‑, Ekel- und Schmähtiraden, eine Bleiwüste auf 600 Seiten aus nur wenigen Sätzen, vielleicht drei oder vier, einer Revue der Barbaren, die am und um das Mittelmeer in den letzten tausend Jahren gehaust, geherrscht, gevögelt und vor allem gemordet haben, eine unendliche Geschichtsstunde, die man so schnell nicht vergessen wird und die man nicht aufhören kann zu lesen.
Daran denkt man sofort wenn man »Herscht 07769« zu lesen beginnt, diesen Monumentalroman des 1954 geborenen László Krasznahorkai. Leider wurde man inzwischen vorgewarnt, dass diese rund 400 Seiten tatsächlich nur aus einem Satz bestehen. Ein Apokalyptiker sei der Autor, so lese ich, der noch nie etwas von ihm gelesen hatte, so als sei dies in diesen hysterischen Zeiten, die inzwischen in nahezu jeder Nachrichtensendung kleinere und große Apokalypsen in Aussicht stellt, noch etwas Besonderes. Aber dies hier sei ein deutscher Roman sagt einer derjenigen, dessen literarische Urteile ich schätze, und es geht tatsächlich um Deutschland, genauer um Thüringen, den Ort Kana mit der Postleitzahl 07769, den es natürlich nicht gibt, es ist ein fiktiver, ein verwunschener Ort im Osten, den irgendwie alle kennen, obwohl kaum jemand dort war, ein Synonym für Ostdeutschland, wie man es sich vorstellt, denn »Kana machte nachts nicht den Eindruck eines Ortes, an dem die Menschen schön ruhig schliefen, sondern den eines, aus dem man schon weggezogen war«. Später wird man merken, dass der Name nicht nur ein Wortspiel zum real existierenden Ort Kahla ist (Postleitzahl 07766), sondern natürlich auch an das Land Kanaan erinnert, in dem wahlweise Milch und Honig fließen oder (und) Jesus Wasser in Wein verwandelte. Diese Assoziation wird ein bisschen eingehegt, denn die ganze Topographie Thüringens in diesem Buch kommt mit »Klarnamen« vor, also ist das Drumherum erst einmal authentisch (wie es die Kritik liebt).
Hauptperson ist Florian Herscht, altersmäßig nicht näher bestimmt, der von einem Rechtsradikalen und Judenhasser, den alle nur »Boss« nennen (sein richtiger-fiktiver Name erscheint nur einmal) aus dem Waisenheim geholt und aufge- und erzogen wurde und von dem er noch heute ab und an einige Nackenschläge bekommt, wenn er etwas falsches sagt oder macht, aber trotzdem mag Florian seinen »Boss«, ja, er liebt ihn und fügt sich, weil dieser sich um ihn kümmert, ihm eine Wohnung besorgt hat, mit einem Tisch und Stühlen, in dem Hochhaus, jetzt ein »Schandfleck«, einst für die Vietnamesen gebaut, die in der Porzellanfabrik arbeiten sollten, aber dann machte die Porzellanfabrik pleite, die Vietnamesen zogen fort und es blieben diejenigen, die sonstwo keine Wohnung bekamen und fast alle, die dort wohnen, beziehen Hartz-IV, nur damit das klar ist.
Florian scheint ein bisschen einfältig, in seinen »Augen änderte sich das Leben nie, alles lief immer genauso, die Morgen, die Abende, die Jahreszeiten, die Jahre, alles, immer, genauso«, ein »guter Junge«, den man mag, nicht zuletzt wegen seiner Bärenkräfte und weil er stets hilfsbereit ist, wenn man irgendwo anpacken muss. Bei Herrn Köhler, dem Physiklehrer, nimmt er Unterricht und wird konfrontiert mit quantenphysikalischen Problemstellungen, die er missdeutet und von nun an glaubt, der Menschheit drohe eine Katastrophe, das Nichts, die Auslöschung. Florians Verzweiflung ist so groß, dass er beginnt, an Angela Merkel zu schreiben; mit ihrem Namen beginnt das Buch. Merkel, die als Physikerin, so glaubt er, das Problem erkennen und den Sicherheitsrat einberufen müsse. Als Absender schreibt er nur »Herscht 07769« (was den Titel ergibt) und man verlacht Florian ein wenig, als er den Brief und später auch all die anderen Briefe auf der Post aufgibt und besonders am Anfang ständig nachfragt, ob eine Antwort gekommen sei, dabei sagen doch alle, dass solche Leute nie antworten und das Briefe sinnlos sind und dann fährt er tatsächlich nach Berlin, will zu Angela Merkel, aber sie ist nicht da und etwas später erkundigen sich zwei Fremde danach, was er in Berlin wollte.
Den Boss (zu Beginn 53 Jahre alt) schätzt man weniger, weil er mit seinen Neo-Nazi-Kumpels, der »Einheit«, eine leerstehende Burg besetzt hält und ihnen erzählt, sie sollen auf DEN Tag warten wenn der »Kampf für das Vierte Reich« beginnt, und der kommt dann auch, und auch Florian soll »Mitglied eines Einsatzes von sehr großer Tragweite« werden, dabei hat er keine Ahnung was das bedeutet, genau so wenig wie er das Gegröle um »Achtundachtzig« nicht versteht, aber es gibt plötzlich überall Waffen und langsam kommt die Erzählung in Schwung. Es beginnt mit einem Graffiti auf dem Bach-Geburtshaus und der Boss, dessen Firma Graffiti entfernt, ist nicht nur erbost, sondern wütend, weil er doch Johann Sebastian Bach so verehrt, sogar ein Orchester, die »Kanaer Symphoniker«, gegründet hat, das jetzt unter Führung von Herrn Feldmann Bachstücke probt, dabei aber häufig scheitert, wobei man dann doch lieber Schlager einübt oder die Beatles, was aber dem Boss wiederum missfällt.
Dann sind es Wölfe, die den Ort in Angst und Schrecken versetzen, eine Frau wird angegriffen und beinahe getötet und es gefällt den Bewohnern nicht, dass es ausgerechnet der Boss ist, der die Frau rettet und den Wolf erschießt. Und die Naturschützer vom BUND kommen in die Stadt und versichern, dass das alles nicht sein kann, das Wölfe nie Menschen anfallen und als es sich dann herausstellt, dass es doch so war, erklären sie, warum das eine Ausnahme ist und das alles stärkt nicht den Glauben an die sogenannten Wissenschaftler, aber das kennt man ja.
Streckenweise fühlt man sich an Thomas Bernhard erinnert, an das »Kalkwerk« beispielsweise, dieser Kriminalgeschichte über einen Doppelmord zu Weihnachten, an die Reden der Bewohner übereinander, die in bisweilen indirekter Rede wiedergegeben werden und an die Fixierung und bisweilen absurde Verehrung von Bernhards Protagonisten in so vielen Büchern und Dramen auf bestimmte Künstler (hier ist es jetzt Bach) oder Anschauungen (hier Annihilation), an das Pseudo- und Halbwissen der Figuren ihren Passionen gegenüber und auch Florian wird Bach im Laufe des Romans beginnen zu verehren, er wird ihn so lange hören, bis er ihn auch noch hört, als der Akku seines Laptop längst leer ist. »Bach ist das Geheimnis des Lebens« und »in Johann Sebastian Bach gab es NICHTS BÖSES« heißt es fast beschwörend, aber dann kommen die Stellen im Roman, die das Gegenteil aufzeigen, der Kontrast zu der Musik von Bach und den Taten könnte nicht größer sein.
Hier ist der Moment, dass man über dieses Buch nicht mehr sprechen kann, ohne wesentliche Teiles des Fortgangs der Geschichte zu verraten, die sich zuspitzt und in gnadenlosen Morden mündet, die die ganze Gegend in Angst und Schrecken versetzt. Wer sich die Spannung erhalten möchte, lese also besser nicht weiter.
Als die ARAL-Tankstelle mit den beiden Brasilianern Nadir und Rosario, die den besten Kaffee in der Stadt servieren, in die Luft fliegt und Florian zufällig herausbekommt, wer hinter diesem Anschlag steckt, beginnen »diese furchtbaren Zeiten«, in denen es »keinen Frieden mehr gab« und die Verwandlung dieses angeblich so harmlosen Parzival zu einem Rächer wie in einem Film von Quentin Tarantino. Die Muskeln, so heißt es im Buch, übernehmen die Kontrolle bei Florian, er sucht den Boss auf, und mit »nur zwei Bewegungen brach er [dem Kampfhund] sofort das Genick und warf ihn irgendwohin in die Dunkelheit, dann trat er die Tür ein und erschlug den Boss, der hatte keine Chance, das Ganze geschah innerhalb von ein paar Sekunden«. Später werden dann zu Bachs Musik auch die einstigen »Einheit«-Mitglieder aufgespürt und ebenfalls kalt und emotionslos ermordet. Florian lebt nun im Wald, wagt sich immer seltener unter Menschen, verwahrlost; man erkennt ihn nicht. Der Polizei wird »totale Ohnmacht« attestiert und die Menschen sperren ihre Türen zu, man schließt die Schulen, niemand geht mehr aus dem Haus, wenn er nicht unbedingt muss.
Dabei bleibt die Motivation, die Ursache für die Metamorphose vom braven Florian zum blutrünstigen »Guerillakämpfer« unklar. Genau wie die parallelen Aktionen einer gewissen Karin (mit tätowiertem Kopf und Glasauge), die ebenfalls die Neonazis exekutieren möchte und sich mit Florian in einem Wettbewerb zu befinden scheint, bevor dann am Ende nur die beiden übrig bleiben und man ist überrascht, dass sie sich ein langes, trickreiches Fintenspiel liefern, welches in einem kruden Showdown endet, weil der eine warum auch immer den anderen umbringen will. Und da jetzt alles egal ist, schreckt Krasznahorkai nun auch vor mythischen Märchenmotiven nicht zurück. So erscheint, wenn Florian droht von Karin erschossen zu werden, ein »gewaltiger Steinadler«, der Karin rechtzeitig anfällt und die Kugel umleitet, bis dann der Vogel von ihr erschossen wird und theatralisch stirbt und man denkt, dass der Tod des Adlers vielleicht der Tod der Bundesrepublik sein könnte. Etliche der von den beiden Kämpfern nicht niedergemetzelten Protagonisten lässt der Autor an anderen Ursachen sterben (Autounfall, Schlaganfall); man kommt kaum mit. Auch der einzige Bewohner, der den Neonazis Paroli geboten hatte und daher lange verdächtigt wurde, der Rächer zu sein kommt um – er kommt nicht mehr aus seiner Depression und erhängt sich. Am Schluss ist das Personal also merklich ausgedünnt (wieder Tarantino) – so als wäre der Tod die beste Fluchtmöglichkeit. Immerhin eröffnet eine Person wieder die Bibliothek. Versuch, eine Normalität aufzubauen oder nur ein Apfelbäumchen?
Schon klar, dass hier literarische Genres wie Satire, Splatter, Krimi, Groteske und Gesellschaftsroman wild durcheinander gewirbelt werden. Dieser Roman ist alles, nur keine realistische Darstellung Thüringens oder der Neonazi-Szene in Ostdeutschland, auch wenn es Anspielungen gibt, wie etwas auf eine »Timo-Brandt-Sache« – ein leicht zu entschlüsselnder Hinweis auf die Causa des Neonazis, Verfassungsschutz-V-Manns und Sexualverbrechers Tino Brandt. Denn bei aller Fiktionalisierung greift der Roman durchaus die Probleme so mancher ostdeutscher Region auf. Zwischenzeitlich wird man an die Städte in den Western erinnert, in denen ein paar Desperados die Bewohner tyrannisieren. Der deutsche Osten als wilder Westen. Ein veritables Staatsversagen, oder besser: Staatsverlassen. So hat beispielsweise die Polizei im Regelfall nur zwei Mal die Woche Sprechstunde, was zu ausufernden rechtsfreien Räumen führt. Zwischenzeitlich steigt zwar die Präsenz, aber irgendwann wird wieder alles zurückgefahren. Und auch der öffentliche Nahverkehr ist ein Witz. Nur die Autostraßen sind top.
Vielleicht schwingt im Lob um den Roman auch ein Gran Erleichterung mit, dass es (1.) einen solchen Ort nicht gibt und wenn doch, dass man dann (2) nicht dort wohnt? Womöglich greifen die Kritiker auch sonst ein bisschen voreilig zu den Superlativen: Das sei nun endlich DER Ostroman, hört man; nicht Ingo Schulze habe ihn geschrieben und auch nicht Juli Zeh (Tellkamp kommt nicht mehr vor; er ist scheinbar entkanonisiert), sondern dieser ungarische Weltschriftsteller, der – immerhin – einige Jahre in Berlin gelebt habe. Immerhin versteht man sofort, warum Ingo Schulze von Florian Herscht so angetan ist – er, Florian, stillt die subkutan glimmende Sehnsucht des Intellektuellen nach dem Rachetier, das stellvertretend für ihn die Welt ein bisschen besser machen soll.
Literarisch ist dieses Buch durch seine Konstruktion als Ein-Satz-Werk (nur gelegentlich von besonders hervorgehobenen Satzgliedern halbwegs unterbrochen) überschattet. Krasznahorkai gelingt es mühelos vielleicht 30, 40 Protagonisten und deren Lebensgeschichten in je personalem Erzählen zu entwickeln und in eine spannende Geschichte zu überführen. Zusätzlich werden die Reden bestimmter Figuren in spezieller Lautprosa kenntlich gemacht, was beispielsweise die Dimension der Flüche abmildert (hier hat man die Vokale entfernt). Das alles lässt nur erahnen, welch’ übermenschliche Übersetzungsleistung Heike Flemming hier vollbracht hat (ihr bitte unbedingt hierfür einen Preis geben!).
Krasznahorkai legt auch falsche Fährten; er spielt mit dem Leser. So verschwindet etwa der Physiklehrer Köhler eines Tages spurlos, was das ganze Dorf inklusive der Neo-Nazis in Aufruhr versetzt. Man denkt an alles Mögliche, nur nicht daran, dass er nach etwas mehr als einem Jahr wieder unverrichteter Dinge (und ohne Erklärung) als sei nichts gewesen auftaucht. Dann allerdings setzt schnell ein geistiger Verfall ein, der mit dem Wachsen des Selbstbewusstseins Florians in eigenartiger Korrelation steht. Leicht störend, weil eigentlich überflüssig, sind die raunenden Andeutungen auf eine Pandemie, die allerdings im Verlauf des Buches keinerlei Auswirkungen zeitigt. Und wie Florian den Graffitisprayer findet ist wirklich unfassbar absurd und komisch. Am Ende denkt man für einen kurzen Moment, dass Florian es dem Steinadler gleichmacht und zu fliegen beginnt. Aber soviel dichterische Freiheit gibt sich Krasznahorkai doch nicht.
Bleibt die Frage, wer das liest. Oder doch eher: wann es verfilmt wird. Aber bitte nicht von und mit den üblichen Pastellzeichnern.
Wer das liest? Ich und viele Leute in meinem Umfeld, und bisher, etwa Seite 160, mit grosser Lese-Begeisterung....!
Es muss kein »Ost«-Roman sein, auch kein realistischer, aber er ist unerschöpflich – jede Figur, jedes Ereignis, jede Beschreibung von Typen und Orten und Szenen, vom Physkunterricht bis zu den Watschen des Bosses....kreiert Bilder und Assoziationsketten, die – noch, der Horror kommt ja erst, wie ich eben hier nur flüchtig überflogen habe, um nicht allzu viel schon zu wissen – grosses Lesevergnügen der speziellen Art auslösen.
Gerade in Zeiten wie diesen – wer will und kann sich da schon in eindeutiger Weise amüsieren, oder auch deprimieren lassen, beim Lesen...