
Er wolle mich auf sein neues Buch aufmerksam machen, so Marc Degens in einer Mail. Das Thema könnte mich interessieren und auch Wolfgang Welt komme vor. Und da mich (fast) alles zu Wolfgang Welt interessiert und man irgendwie weitermachen muss (oder es zumindest glaubt), gab ich ihm meine neue Adresse (die er auch hätte im Impressum nachschauen können, aber egal). Zwei Tage später war »Selfie ohne Selbst« da. Aus dem Waschzettel entnahm ich dann, es um die »intellektuelle Gegenwart Berlins« und die Tagebücher von Michael Rutschky geht. Zu beidem habe ich nun leider überhaupt keine Beziehung. Weder interessiert mich die Berliner Szene noch habe ich die Tagebücher von Rutschky gelesen. Die Aussicht auf Klatsch stimmte mich allerdings hoffnungsfroh und man wird tatsächlich nicht enttäuscht.
Zunächst erzählt der Ich-Erzähler, der Marc Degens heißt, ehrfurchtsvoll von einer Begegnung mit Michael Rutschky in Berlin, welches wohl das letzte Treffen der beiden war, denn Rutschky starb 2018. Dann der Sprung zum Dreh- und Angelpunkt, zu »Gegen Ende«, dem dritten Band der Tagebücher. Das Buch erschien 2019 sozusagen doppelt posthum, weil auch der Herausgeber Kurt Scheel kurz vor Veröffentlichung starb (durch Freitod). Marc Degens gehörte trotz seiner gelegentlichen Treffen nur am Rande dem »Rutschky-Kreis« an (Anleihen an einen anderen Kreis nicht ganz ungewollt). Aber er verehrte den Autor, vor allem als Stilist.
Degens erhält für eine Präsentationsveranstaltung in Berlin die Fahnen des Buches vorab per pdf, Mehrere Autoren sollen aus dem Buch etwas vortragen. Rasch sucht Degens nach Eintragungen zu seiner Person. Die Funde desillusionieren ihn; Rutschkys Ausführungen sind ungenau, falsch und verletzend. Er fühlt sich als »dümmlichen Dampfplauderer« dargestellt. Auch seine »Freundinnen und Freunde« (diesen Genderquatsch macht Degens durchgängig mit) werden »bloßgestellt«. Soll er überhaupt teilnehmen (es gibt auch weder Honorar noch Spesenersatz)? Wie reagiert man auf diese Grenzüberschreitungen Rutschkys? (Wie haben die Menschen eigentlich auf Knausgård reagiert?)