Tim Finch: Frie­dens­ge­sprä­che

Tim Finch: Friedensgespräche

Tim Finch:
Frie­dens­ge­sprä­che

Ed­vard Beh­rends ist ein nor­we­gi­scher Di­plo­mat, 59 Jah­re alt und lei­tet ei­ne Ver­mitt­lung zwi­schen zwei Bür­ger­kriegs­par­tei­en aus dem Na­hen oder Mitt­le­ren Osten (ge­naue­re An­ga­ben gibt es nicht). Als Kon­fe­renz­ort wur­de ein Berg­dorf ir­gend­wo im öster­rei­chi­schem Ti­rol ge­wählt. Nicht nur er, son­dern auch ei­ner der Teil­neh­mer kommt da so­fort auf die »Zauberberg«-Assoziation. Dies ist das Set­ting, mit dem der Ver­lag Tim Finchs »Frie­dens­ge­sprä­che« (über­setzt von Jo­hann Chri­stoph Ma­ass) be­wirbt. Kurz er­in­nert man sich an »Der Wald­spa­zier­gang«, ein Thea­ter­stück von Lee Bles­sing aus den 1980er Jah­ren, in dem die Ge­sprä­che zwi­schen Paul Nit­ze und Ju­lij Kwizin­ski über die Mit­tel­strecken­ra­ke­ten der USA und der UdSSR als dra­ma­ti­sches Kam­mer­spiel ge­spie­gelt wur­den.

Zu­nächst be­ginnt der Ro­man auch mit dem Ver­mitt­lungs­ge­sche­hen. Es gibt ei­ne de­le­ga­ti­ons­über­grei­fen­de Wan­der­grup­pe, in der die stei­fe At­mo­sphä­re der ver­fein­de­ten Par­tei­en et­was auf­ge­lockert wer­den soll. Beh­rends kommt ei­nem und sich sel­ber vor wie ein Rich­ter – er hat zwar ei­nen Ham­mer, ist aber mehr ein Ko­or­di­na­tor von Dis­kus­si­ons­ab­läu­fen, der pein­lich ge­nau dar­auf be­dacht sein muss, nichts zu tun, was ei­ne Sei­te als Be­vor­zu­gung oder Be­nach­tei­li­gung auf­fas­sen könn­te. Die­se Dif­fi­zi­li­tät zeigt sich an ei­ner Sze­ne. Bei­de Par­tei­en zei­gen sich ab­wech­selnd Fo­tos und Vi­de­os der von der je­weils an­de­ren Sei­te ver­üb­ten Gräu­el­ta­ten. Sie wer­den kurz an­ge­deu­tet und sind scheuß­lich. Plötz­lich re­kla­miert ei­ne Par­tei, die Son­nen­blen­de im Raum leicht zu ver­schie­ben. Dies wie­der­um ge­fällt der an­de­ren Par­tei nicht, weil da­durch Ein­zel­hei­ten der ge­ra­de ge­zeig­ten Sze­ne deut­li­cher sicht­bar wer­den könn­ten. Es gibt ein all­ge­mei­nes Hin und Her, schließ­lich der Ab­bruch der Sit­zung. Meh­re­re Ta­ge schmol­len nun die De­le­ga­tio­nen in ih­ren Zim­mern. Beh­rends kommt zu­fäl­lig bei ei­nem Spa­zier­gang mit ei­nem Dr. Noor ins Ge­spräch, der ihm so­gar fast ver­stoh­len ei­nen Ko­ran vor die Tü­re legt. Ei­ne zar­te An­nä­he­rung, die rasch en­det – Noor, der ei­gent­lich kei­ne be­son­ders ex­po­nier­te Po­si­ti­on in sei­ner De­le­ga­ti­on hat­te, wird plötz­lich ab­ge­zo­gen.

Lang­sam aber ste­tig ent­fernt sich der Ich-Er­zäh­ler Beh­rends von den Schil­de­run­gen der Ver­mitt­lungs­be­mü­hun­gen. Man be­merkt, dass sie ei­ner Per­son er­zählt wer­den. Es ist sei­ne Frau An­na. Im­mer tie­fer wird der Le­ser in die­se pri­va­te Ge­schich­te hin­ein­ge­zo­gen. Denn An­na, ei­ne be­rühm­te Psy­cho­lo­gin, ist, wie man dann er­fährt, seit zwei Jah­ren tot. Beh­rends’ Auf­zeich­nun­gen wid­men sich nun fast aus­schließ­lich den Re­fle­xio­nen auf sein Le­ben mit An­na, dem ken­nen­ler­nen, dem Le­ben in Nor­we­gen, Lon­don und Genf, den Rei­sen (be­son­ders das bel­gi­sche Gent hat es ih­nen an­ge­tan), den klei­nen und gro­ßen Kon­flik­ten, dem heim­li­chen Fremd­ge­hen, den Kar­rie­ren, den schö­nen Mo­men­ten. Der ge­sam­te Text wird nun zum »Frie­dens­ge­spräch« mit An­na und äh­nelt ei­ner Be­wäl­ti­gungs­schrift.

Denn An­na wur­de das Op­fer ei­nes Ver­bre­chens. Spä­ter wird es de­tail­lier­ter. Sie ist ent­haup­tet wor­den, mit­ten in Lon­don, am hellich­ten Tag, von ei­nem Mann, der dem Kampf­ruf der Is­la­mi­sten schrie (die im üb­ri­gen in Eu­ro­pa furcht­ba­re Ter­ror­an­schlä­ge ver­üben). Aber auch hier bleibt nichts beim ein­deu­ti­gen – vor­ei­li­ge Schlüs­se des Le­sers ver­bie­ten sich. Beh­rends er­zählt – un­ter ge­le­gent­lich ima­gi­nier­tem Wi­der­spruch An­nas – von der öf­fent­li­chen An­teil­nah­me am Tod sei­ner Frau, von sei­ner in den Me­di­en ge­lob­ten Be­son­nen­heit, von sei­nen Ver­stö­run­gen, den un­ge­len­ken Ver­su­chen, sich an­de­ren Frau­en an­zu­nä­hern, von sei­nen Sit­zun­gen bei der The­ra­peu­tin, die in die­se Mit­tei­lun­gen mün­den, die man als Buch in der Hand hält.

Nach ei­ner Rei­se kommt Beh­rends zu­rück nach Ti­rol; der Ne­ben­strang der Frie­dens­ge­sprä­che wird kurz wie­der auf­ge­nom­men. Der er­ziel­te Er­folg er­zeugt nur ei­ne kur­ze Eu­pho­rie; Beh­rends weiß um die Fall­stricke der Di­plo­ma­tie. Am En­de sitzt er in ei­nem Lu­xus-Re­sort ir­gend­wo auf den west­in­di­schen In­seln, han­delt mit sich und dem Bar­kee­per sei­nen Hap­py-Hour-Kon­sum aus und gibt sich dem »En­nui ei­nes Spät­nach­mit­tags in den Tro­pen« hin.

Tim Finch wird ge­führt als Jour­na­list, ehe­ma­li­ger Pres­se­chef beim IPPR, ei­nem »Pro­gres­si­ve Po­li­cy Think Tank« und in ähn­li­cher Po­si­ti­on beim »Re­fu­gee Coun­cil«. Sein Erst­ling »Hou­se of Jour­na­lists« von 2013 wur­de bis­her nicht ins Deut­sche über­setzt. »Frie­dens­ge­sprä­che«, 2020 er­schie­nen, liest sich zeit­wei­se schwer und hat trotz sei­ner ge­ra­de ein­mal 200 Sei­ten Län­gen, was am red­un­dan­ten, zweit­wei­se lar­moy­ant-sen­ti­men­ta­len Er­zähl­duk­tus sei­ner Fi­gur liegt. Schwer aus­zu­hal­ten sind die Sze­nen, in de­nen ver­sucht wird, die Ent­haup­tung der Frau und de­ren letz­te Sin­nes­ein­drücke zu ima­gi­nie­ren. Es gibt Pas­sa­gen, die na­he am Kitsch sind wie bei­spiels­wei­se die Va­ria­ti­on des Phi­le­mon-und-Bau­cis-Mo­tivs. Manch­mal ist Beh­rends ein biss­chen ge­schwät­zig. Aber wer wei­ter­liest, wird auch mit wun­der­bar me­lan­cho­li­schen Ein­schü­ben be­lohnt, die Ed­vard Beh­rends plötz­lich als je­man­den zei­gen, des­sen Da­sein nur noch durch Er­in­ne­run­gen le­bens­wert bleibt, des­sen ein­zi­ger Le­bens­zweck die Sehn­sucht nach der Wie­der-Ho­lung des Ver­gan­ge­nen ist. Ist die­ser Mo­tor erst ein­mal an­ge­lau­fen, dann er­schafft die Er­in­ne­rung den Frie­den mit der un­wirk­li­chen Ge­gen­wart.

Ich wür­de ger­ne le­sen, wie es mit Ed­vard Beh­rends wei­ter­geht.