Marc De­gens: Sel­fie oh­ne Selbst

Marc Degens: Selfie ohne Selbst

Marc De­gens: Sel­fie oh­ne Selbst

Er wol­le mich auf sein neu­es Buch auf­merk­sam ma­chen, so Marc De­gens in ei­ner Mail. Das The­ma könn­te mich in­ter­es­sie­ren und auch Wolf­gang Welt kom­me vor. Und da mich (fast) al­les zu Wolf­gang Welt in­ter­es­siert und man ir­gend­wie wei­ter­ma­chen muss (oder es zu­min­dest glaubt), gab ich ihm mei­ne neue Adres­se (die er auch hät­te im Im­pres­sum nach­schau­en kön­nen, aber egal). Zwei Ta­ge spä­ter war »Sel­fie oh­ne Selbst« da. Aus dem Wasch­zet­tel ent­nahm ich dann, es um die »in­tel­lek­tu­el­le Ge­gen­wart Ber­lins« und die Ta­ge­bü­cher von Mi­cha­el Rutsch­ky geht. Zu bei­dem ha­be ich nun lei­der über­haupt kei­ne Be­zie­hung. We­der in­ter­es­siert mich die Ber­li­ner Sze­ne noch ha­be ich die Ta­ge­bü­cher von Rutsch­ky ge­le­sen. Die Aus­sicht auf Klatsch stimm­te mich al­ler­dings hoff­nungs­froh und man wird tat­säch­lich nicht ent­täuscht.

Zu­nächst er­zählt der Ich-Er­zäh­ler, der Marc De­gens heißt, ehr­furchts­voll von ei­ner Be­geg­nung mit Mi­cha­el Rutsch­ky in Ber­lin, wel­ches wohl das letz­te Tref­fen der bei­den war, denn Rutsch­ky starb 2018. Dann der Sprung zum Dreh- und An­gel­punkt, zu »Ge­gen En­de«, dem drit­ten Band der Ta­ge­bü­cher. Das Buch er­schien 2019 so­zu­sa­gen dop­pelt post­hum, weil auch der Her­aus­ge­ber Kurt Scheel kurz vor Ver­öf­fent­li­chung starb (durch Frei­tod). Marc De­gens ge­hör­te trotz sei­ner ge­le­gent­li­chen Tref­fen nur am Ran­de dem »Rutsch­ky-Kreis« an (An­lei­hen an ei­nen an­de­ren Kreis nicht ganz un­ge­wollt). Aber er ver­ehr­te den Au­tor, vor al­lem als Sti­list.

De­gens er­hält für ei­ne Prä­sen­ta­ti­ons­ver­an­stal­tung in Ber­lin die Fah­nen des Bu­ches vor­ab per pdf, Meh­re­re Au­toren sol­len aus dem Buch et­was vor­tra­gen. Rasch sucht De­gens nach Ein­tra­gun­gen zu sei­ner Per­son. Die Fun­de des­il­lu­sio­nie­ren ihn; Rutsch­kys Aus­füh­run­gen sind un­ge­nau, falsch und ver­let­zend. Er fühlt sich als »dümm­li­chen Dampf­plau­de­rer« dar­ge­stellt. Auch sei­ne »Freun­din­nen und Freun­de« (die­sen Gen­der­quatsch macht De­gens durch­gän­gig mit) wer­den »bloß­ge­stellt«. Soll er über­haupt teil­neh­men (es gibt auch we­der Ho­no­rar noch Spe­sen­er­satz)? Wie re­agiert man auf die­se Grenz­über­schrei­tun­gen Rutsch­kys? (Wie ha­ben die Men­schen ei­gent­lich auf Knaus­gård re­agiert?)

Aber, so möch­te man er­wi­dern, das ist eben auch Li­te­ra­tur – frei­lich mit Echt­na­men und das ist das Pro­blem. Spä­ter wird De­gens dar­über nach­den­ken, ob dies un­ter sei­ner er­wei­ter­ten De­fi­ni­ti­on von Au­to­fik­ti­on fällt und wel­che Kon­se­quen­zen das ha­ben könn­te. Hier­zu hät­te ich ger­ne mehr ge­le­sen, weil ich das Ge­fühl ha­be, De­gens hat hier in­ter­es­san­tes zu sa­gen, aber der bleibt lie­ber bei der Ge­schich­te.

Er geht dann doch zur Buch­pre­mie­re(?) und liest ei­nen Ab­schnitt. Die Aus­füh­run­gen des Ver­le­gers Be­ren­berg in­spi­rie­ren ihn zu neu­en kon­zep­tio­nel­len Über­le­gun­gen zu Rutsch­kys Buch. Aber statt es in Gän­ze zu le­sen, in­ha­liert De­gens nun die Re­zen­sio­nen, ana­ly­siert Face­book-Th­reads und schmie­det psy­cho­lo­gi­sche Pro­fi­le, die er dann wie­der ver­wirft.

Weil Marc De­gens ir­gend­wann frei­mü­tig be­kennt, dass er al­les im Le­ben Do­nald Duck zu ver­dan­ken ha­be und er sich zu den Do­nal­di­sten zu zäh­len scheint, wer­de ich von nun an »in­tel­lek­tu­el­le Ge­gen­wart Ber­lin« ein­fach »En­ten­hau­sen« nen­nen. Kei­ne Fra­ge, die­ses Buch ist un­ter­halt­sam. Et­wa über die un­ter­schied­li­chen An­sich­ten und In­ter­pre­ta­tio­nen in­klu­si­ve all der Spe­ku­la­tio­nen z. B. über se­xu­el­le Avan­cen zu bzw. von die­sem oder je­nem zu le­sen. De­gens kommt da­bei ent­ge­gen, dass er in­ten­siv über To­te schreibt, die sich nicht mehr echauf­fie­ren kön­nen (Scheel, die Rutsch­kys, auch Wolf­gang Welt, der aber sehr gut weg­kommt, was dar­an lie­gen könn­te, dass er mit den Be­woh­nern von En­ten­hau­sen nie et­was an­fan­gen konn­te und De­gens das zu be­wun­dern scheint, ob­wohl auch er ei­gent­lich durch sei­ne di­ver­sen Auf­ent­hal­te in Ar­me­ni­en und Ka­na­da ge­feit sein müss­te). Aus dem Freund Mi­cha­el Rutsch­ky wird im Lau­fe der Ge­schich­te »Herr Rutsch­ky«.

Das Buch en­det mit der Ver­ga­be des Ber­li­ner Ver­lags­prei­ses 2019. De­gens, DER Kopf des SUKUL­TUR-Ver­lags, rech­net sich Chan­cen auf ei­nen Preis aus. Von sechs No­mi­nier­ten gin­gen dann am En­de zwei leer aus, d. h. le­dig­lich mit Ur­kun­de und ei­ner Art Auf­wands­ent­schä­di­gung. Ei­ner da­von ist tat­säch­lich SUKULTUR. Die Ver­zweif­lung, die De­gens da er­greift, ist die ein­zi­ge Stel­le im Buch, in der er nicht in die­sen Rainald-Goetz-»loslabern«-Sound ver­fällt. Man könn­te es, wenn der Be­griff nicht so ab­ge­grif­fen wä­re, au­then­tisch nen­nen. Ein Blick auf die Preis­ge­win­ner zeigt, wo und wie die Prio­ri­tä­ten lie­gen. Man zeich­net eben un­gern ei­nen Do­nald Duck aus (lie­ber z. B. Ver­bre­cher). Da­bei hät­te SUKULTUR schon längst Prei­se er­hal­ten müs­sen. Schließ­lich klapp­te es dann 2021 mit der Gieß­kan­nen­aus­schüt­tung durch Frau Grüt­ters, in der 63 Ver­la­ge prä­miert wur­den. Aber da war »Sel­fie oh­ne Selbst« schon fer­tig, wie an der Be­mer­kung »Ham­burg, Früh­jahr bis Win­ter 2020« zu se­hen ist.

Bis­wei­len hat­te ich Mü­he all die zi­tier­ten Wort­mel­der, die ir­gend­wann nur mit Vor­na­men ge­nannt wer­den, aus­ein­an­der­zu­hal­ten, wur­de aber im­mer fro­her, nie­mals auch nur ein Staub­korn in die­sem En­ten­hau­sen ge­we­sen zu sein; weit ent­fernt von die­sen Kul­tur­po­seu­ren, die sich ih­re An­er­ken­nun­gen ge­gen­sei­tig ge­konnt zu­schie­ben. Da bin ich lie­ber je­mand, der war­um auch im­mer, sein be­lang­lo­ses Zeug schreibt, das, so ehr­lich muss man sein, nie­man­den län­ge­re Zeit in­ter­es­siert. Die­ser Froh­sein hin­dert mich dar­an, die Fein­hei­ten der Be­schrei­bun­gen (zum Bei­spiel wie und war­um je­mand auf die Aus­sa­ge ei­nes an­de­ren re­agiert) ad­äquat ein­zu­ord­nen. Ich bin al­so der fal­sche Mann für die­ses Buch und möch­te dar­auf ver­wei­sen, an­de­re Re­zen­sio­nen zu le­sen. Oder – es klingt wahn­sin­nig, ich weiß – di­rekt das Ori­gi­nal.

11 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich ken­ne über­haupt nichts von Marc De­gens, aber heu­te kam die neue »Voll­text« mit vol­len fünf drei­spal­ti­gen Sei­ten aus sei­nem Büch­lein (von 96 Print-Sei­ten – was bleibt dann noch?).

    Im­mer­hin mehr oder min­der schnör­kel­los ge­schrie­ben, rand­voll mit Gos­sip und In­dis­kre­tio­nen, und ich er­ken­ne die Rutsch­ky-Schu­le.
    (Dass er an ei­ner Stel­le auch nicht un­er­wähnt lässt, dass er sich die Fin­ger­nä­gel schnei­det ... lässt mich dann aber doch an Reich-Ra­nickis Vor­wurf ge­gen In­ge­borg Bach­manns Si­mul­tanden­ken.)

    Auch ich moch­te Rutsch­ky. We­gen dem »All­tag«. We­gen sei­nen Fo­to-Ro­ma­nen. Weil er kein bor­ing Aka­de­mi­ker­tum raus­hän­gen ließ. Weil er sein Hun­di-Spie­ßer­tum nicht ver­steckt hat. Und dann noch we­gen »Er­run­gen­schaf­ten. Ei­ne Ka­su­istik«, das selt­sa­mer­wei­se kaum noch ir­gend­wo er­wähnt wird, aber sei­ner­zeit [1982] nicht nur für mich mal wich­tig war (weil es das vor­her­ge­hen­de Jahr­zehnt und über­haupt die Re­pu­blik so­weit gut zu­sam­men­fass­te und half, sie zu ver­ab­schie­den).

    Au­ßer­dem moch­te ich Rutsch­kys Idee von »Die Stadt als Ro­man«. Das konn­te ich we­gen ei­ner per­sön­lich ein­schnei­den­den Sa­che gut ad­ap­tie­ren für da­mals neu zu be­gin­nen­de frag­men­ta­ri­sche Welt­erkun­dung. Na­tür­lich ist un­ser Düs­sel­dörf­chen nicht Ber­lin, und so gro­ße Ge­schich­te wie dort kann es hier auch gar nicht ge­ben. (Am be­sten bleibt man ja doch von der oft gleich auf­dring­lich wer­den­den Ge­schich­te ver­schont. 1989 war ich far east und far out, und das hat­te sehr viel Gu­tes. 1992 hat­te ich dann die Ge­le­gen­heit nach Ber­lin zu ge­hen, aber ich folg­te lie­ber mei­ner West­bin­dung: Ich ging nach Brüs­sel.)

    Aber »Die Stadt als Ro­man« war ei­ne For­mel und ei­ne Mu­ster­form, all die Ecken und Ge­gen­den und mei­ne dort spie­len­den Ge­schich­ten, in ein neu zu be­ar­bei­ten­des, hand­hab­ba­res Mo­dell zu trans­fe­rie­ren. Ich er­in­ne­re mich, dass et­wa zu der Zeit auch (für mich von ei­ner in­spi­rier­ten Ro­wohlt-Rei­he her) der Fla­neur in Mo­de kam, die neu zu se­hen­de (al­te: ber­li­ne­ri­sche) Ur­ba­ni­tät, fri­sche Les­ar­ten des (nach den längst ent­leert da­ste­hen­den Ant­ago­nis­men Öko und Punk) sich wie­der un­ver­krampft mo­dern zu ge­ben er­lau­ben­den Le­bens. Da­mit pass­te nun al­les noch ein biss­chen bes­ser zu­sam­men, und half, sich von dem noch schwer do­mi­nan­ten The­we­leit ein Stück weit zu »eman­zi­pie­ren« wie auch von der sich dau­ernd selbst über­ho­len­den Post­mo­der­ne à la fran­cais. Ein an­ders­wie ak­zen­tu­ier­tes Leit­mo­tiv.

    Dass Rutsch­ky mit sei­nem Wirk­kreis dann doch letzt­lich zwei­te Rei­he war (al­ler­dings si­cher­lich re­le­vant über Ber­lin hin­aus, zu­mal ja auch Ber­lin, nach Boh­rer, nur Pro­vinz ist; sie­he auch das Degens’sche Na­mens­dröp­peln), das ist als Schmerz nach­zu­füh­len. Aber muss­te der sich spä­ter tat­säch­lich so schä­big zei­gen? Was so­gar mich, als ich den Scheel-Text da­mals las, mehr als selt­sam be­rühr­te, im Blick auf die Rutsch­ky-Qua­li­tä­ten. In­so­fern hal­te ich die­sen Rutsch­ky & Adep­ten-Kom­plex und sei­ne Im­plo­si­on zwar nicht für be­deut­sam, aber doch lehr­reich.

    Was mich auf mein Ver­ständ­nis der Sa­che bringt, auf die mut­maß­li­che De­for­ma­ti­on durch den ei­gen­blut-ge­dop­ten und doch un­auf­halt­sam al­les ver­schlin­gen­den Be­trieb (ei­ne Krank­heit durch Krän­kung, die so­gar ich, ein Nie­mand noch von den Rand­fi­gu­ren, früh durch Be­rüh­rung mit den ein­schlä­gi­gen Krei­sen wahr­ge­nom­men ha­be).

    Ein­mal – ich mei­ne, das war 2003 – ha­be ich die Stuck­rad-Bar­re-Fi­gur auf der Buch­mes­se in Leip­zig er­lebt. Ich muss­te elen­dig lan­ge auf Je­man­den war­ten, und hat­te drei ra­sche Be­geg­nun­gen hin­ter­ein­an­der von ihm gut im Blick. Nach mei­ner Wahr­neh­mung war er nach Ver­hal­ten und Mi­mik drei­mal hin­ter­ein­an­der ei­ne kom­plett an­de­re Per­son. Das war ei­ni­ger­ma­ßen ver­blüf­fend an­zu­se­hen, gab aber auch schwer zu den­ken. Er hat sich, so­weit ich das mit­be­kom­men ha­be, dann spä­ter ja auch über ein gro­ßes Co­ming out in die Wahr­haf­tig­keit (oder ei­ne neue­re, als näch­stes Buch Be­deu­tung hei­schen­de Ver­si­on da­von) von die­ser ad­ap­tier­ten dé­for­ma­ti­on pro­fes­sio­nel­le zu be­frei­en ver­sucht. Und ich brin­ge das al­les mit Rutsch­kys un­ge­si­cher­tem, ins Krän­ken­de ab­rut­schen­den Ta­ge­bau-Buch in Zu­sam­men­hang. Da muss­te, un­ter all den Ge­bir­gen von Kul­tur­theo­rie, et­was aus­ge­gra­ben und ab­ge­baut wer­den, und sei es ge­gen die ei­ge­ne, be­stens lan­cier­te Fi­gur, ge­gen de­ren Zu- und Bei­trä­ger und Pro­mo­to­ren, und zu­letzt ge­gen sich selbst. Die Welt stirbt an das Ge­sicht ge­klam­mert, das man ihr ab­reißt. (Da­ni­elle Sar­ré­ra)

    Aber noch mal De­gens. Die stärk­ste Stel­le in sei­nem Text ist für mich die: »Frü­her hät­te ich mich da­für wo­chen­lang ge­schämt und bei je­dem Ge­dan­ken an die Nacht ei­nen Mi­grä­ne­an­fall be­kom­men. Heu­te den­ke ich, es ist gut im Ge­dächt­nis zu blei­ben.«

    Frü­her wa­ren wir mal Stars. Heu­te sind wir al­le Em­ma­nu­el Car­rè­res.
    Al­ler­dings auch längst zu Vie­le, als dass es auch nur den 15-Mi­nu­ten-Ruhm für Je­der­mann noch ge­ben kann.
    Die Höl­le, das ist der Nach­ruhm der an­de­ren.

  2. Dan­ke für die­se Ein­blicke.

    Ist es schä­big ge­we­sen von Rutsch­ky sich so­zu­sa­gen post­hum noch an sei­nen In­ner­cir­cle durch In­dis­kre­tio­nen zu rä­chen? Ich stel­le die­se Fra­ge ehr­lich. Denn ir­gend­wie liebt doch je­der sol­chen Klatsch – es sei denn, man ist nicht be­trof­fen. Oder? Im De­gens-Buch geht es ja auch dar­um, ob es noch ei­nen vier­ten Band ge­ben wird, der die letz­ten Jah­re Rutsch­kys zeigt. Und wie er­leich­tert al­le sind, als dies (u. a. vom Ver­le­ger) ne­giert wird. Weil es kei­nen Her­aus­ge­ber gä­be. Was ich nur be­grenzt schlüs­sig fin­de. Und das sa­ge ich, der ja wirk­lich gar kein In­ter­es­se an In­ter­na aus die­ser Sze­ne hat.

    Wie auch an Stuck­rad-Bar­re. Ih­re Schil­de­rung vom mul­ti­plen Dar­stel­ler ist be­ein­druckend. Ich ha­be ihn vor ei­ni­gen Jah­ren mal in ei­ner TV-Sen­dung ge­se­hen. Mein Ein­druck war, dass er nicht ganz bei sich war – und nun fra­ge ich mich, was das be­deu­tet. Schrift­stel­ler-Dar­stel­ler? Oder ist das echt? Und was be­deu­tet das für das Werk?

    Den 15-Mi­nu­ten-Ruhm gibt es den­noch, weil er für je­den in un­end­li­chen Me­di­en mög­lich ist. Wer es nicht so ri­chig ge­schafft hat, wird im­mer noch ei­ne Vier­tel­stun­de bei RTL 2 be­kom­men. Nur, dass das im­mer we­ni­ger mit­be­kom­men. Car­rè­re woll­te ich im­mer mal le­sen, aber es kam im­mer et­was da­zwi­schen. Ich er­tap­pe mich zu­sen­hends da­bei, in al­te Ge­wohn­hei­ten zu ver­fal­len. Zwei­fel­los ein Ma­kel.

  3. Für Stuck­rad-Bar­re möch­te ich mich ver­wen­den: er hat ADHS, und ist au­ßer­dem der po­ly­to­xi­schen Selbst­me­di­ka­ti­on zu­ge­tan. Da kann man schon mal 3 ganz und gar ver­schie­de­ne Per­sön­lich­kei­ten, ver­mut­lich als Re­so­nanz auf die wech­seln­den Be­geg­nun­gen (mir­ro­wing) mit ver­schie­de­nen Teil­neh­mern auf der Buch­mes­se be­ob­ach­ten. Kein leich­tes Le­ben, sieht nur von au­ßen span­nend aus.
    Ge­stern auf ARTE ein Spielf­im, da muss­te ich an die Re­zen­si­on zu­rück­den­ken: Dou­bles Vies, auf deutsch: Zwi­schen den Zei­len. Das­sel­be The­ma, Au­to­fik­ti­on. Der ein­falls­lo­se Au­tor Le­onárd ist da­zu ver­dammt, sein Le­ben hin­ter Pseud­ony­men zu er­zäh­len. Er kann nichts an­de­res, er hat kei­ne Phan­ta­sie (oh­ne Ko­ket­te­rie dies­mal, nicht wie Proust). Sei­ne Er­zäh­lun­gen wer­den von al­len Be­kann­ten leicht de­ko­diert, nur sei­ne ero­ti­sche Fi­gur »Xe­nia« bleibt auf­grund ei­nes glück­li­chen Miss­ver­ständ­nis­ses un­ent­deckt. Es ist die Frau des Lek­tors, der ei­nen an­spruchs­vol­len Ver­lag lei­tet, und mit der Di­gi­ta­li­sie­rung kämpft. Er will nicht, aber er muss. Die gan­ze Bran­che, Buch, Film, Rund­funk, Po­li­tik, etc. be­fin­det sich in Auf­ruhr. Je­der der schrei­ben kann, muss blog­gen, um die Auf­merk­sam­keit für sei­ne Bü­cher zu ge­ne­rie­ren. In­for­ma­ti­on gilt als ent­wer­tet, weil das »Ver­trau­en weg ist«. Sehr schön die Par­al­le­le zur Po­li­tik: der Ab­ge­ord­ne­te, ver­mut­lich So­zia­list, hat ein ana­lo­ges Pro­blem. Er muss sei­ne Af­fai­ren ver­ber­gen, weil er das »Rest­ver­trau­en«, mit dem er sich durch die Öf­fent­lich­keit be­wegt, kei­ne Skan­da­le ver­trägt. Ei­ne dum­me Po­li­zei­ak­ti­on im Bo­is de Bou­lo­gne, und das könn­te es ge­we­sen sein. Sei­ne As­si­sten­tin ist die Frau von Le­onárd. Sie wird ihm die Af­fai­re mit Se­le­na (Ju­li­et­te Bi­no­che) ver­zei­hen. Der Au­tor Le­onárd ist der ba­nal­ste Mensch, den man sich den­ken kann. Au­ßer sei­ner Af­fai­re hat er nichts zu ver­ber­gen. Er hul­digt der Selbst­gei­selung, wor­aus er das Recht ab­lei­tet, auch al­le an­de­ren run­ter­zu­put­zen. Sein letz­tes Buch stößt beim Ver­le­ger auf Ab­leh­nung; nur Se­le­nas Schüt­zen­hil­fe bringt den Schmö­ker in die Re­ga­le. Die Af­fai­re kühlt sich ab, und Le­onárd bleibt nichts an­de­res üb­rig, als auch die­se Er­fah­rung zu Li­te­ra­tur zu ma­chen.
    Dou­bles Vies hat für die Li­te­ra­tur ins­ge­samt ei­ne schlech­te Pro­gno­se: die Zei­ten, wo der Mensch in­ter­es­sant war, weil er ei­ne Af­fai­re hat­te, sind vor­bei. Das Ge­heim­nis Num­mer 1 in Frank­reich, wel­che Iro­nie, lockt nie­man­den mehr hin­ter dem Ofen her­vor. Die Ba­na­li­tät der Zeit­ge­nos­sen ist die letz­te Wahr­heit. Wie sag­ten zahl­rei­che Gei­ster so schön: man schlägt ja ein Buch auf in der Er­war­tung, we­nig­stens ei­nen in­ter­es­san­ten Men­schen zu tref­fen. Ganz gleich, ob die Zen­tral­fi­gur oder den Ich-Er­zäh­ler. An­son­sten wä­re es nicht der Mü­he wert!

  4. Dan­ke für den Hin­weis auf den Film, den ich mir dann doch an­schau­en wer­de (die Vor­ankün­di­gung fand ich nicht so in­ter­es­sant).

    Au­to­fik­ti­on ist ja kein Schrei­ben mehr hin­ter Pseud­onym, son­dern die Selbst­aus­stel­lung – al­ler­dings mit Aus­las­sun­gen und/oder Aus­schmückun­gen. Das li­te­ra­ri­sche dar­an ist nicht das Le­ben des Prot­ago­ni­sten (al­so meist ein Schrift­stel­ler), son­dern die sprach­li­che Um­set­zung. Für den Au­tor ist die Au­to­fik­ti­on meist ein Se­gen, weil er sich kei­nen Plot mehr aus­den­ken muss. Je­mand wie Wolf­gang Welt hat­te das ganz klar so ge­se­hen. Er be­kann­te, kei­ner­lei Phan­ta­sie zu ha­ben, um ein Buch über je­mand an­de­ren zu schrei­ben als sich sich sel­ber. Es sei auch 99% (oder wa­ren es 99,9%) wahr, was er schrei­be. Es macht dann der Stil, die Spra­che. Den kann man ab­leh­nen oder mö­gen...

    Für die Li­te­ra­tur­kri­tik ist die Au­to­fik­ti­on ein Se­gen: Sie kann so­fort ih­rem Gott Au­then­ti­zi­tät hul­di­gen und braucht nur die wirk­lich fik­tio­na­len Ele­men­te her­aus­zu­fil­tern und, was man be­son­ders ger­ne tut, das Per­so­nal ab­glei­chen. Au­to­fik­tio­nen wer­den da­mit zu er­wei­ter­ten Home-Sto­ries. Sie ver­stär­ken in der Öf­fent­lich­keit auch die Au­ra des Schrift­stel­lers als pro­mi­nen­te und wich­ti­ge Per­son. Li­te­ra­ri­sche Qua­li­tä­ten spie­len da kaum noch ei­ne Rol­le. Für die Phan­ta­sie gibts dann »Fantasy«-Bücher mit Mon­stern oder El­fen.

    Der Au­tor in dem Film scheint dem­nach ei­ne Tra­gik zu ha­ben: Das ein­zi­ge Er­leb­nis, wel­ches sei­nem Le­ben in ir­gend­ei­ner Form ei­nen Sinn gibt und für an­de­re von In­ter­es­se sein könn­te, muss er ver­schwei­gen. Der ein­zi­ge Aus­weg wä­re die »Flucht« in den Ro­man, die Er­zäh­lung, die »Ge­schich­te«. Dies wür­de ei­nen ho­hen Auf­wand be­deu­ten. Aber ich schau es mir erst ein­mal an...

  5. Ro­man oder Le­ben?

    Wie­so ‘Flucht’ in den Ro­man, frag­te ich mich ge­ra­de un­will­kür­lich – war­tet dort nicht ei­nes der letz­ten ver­blie­be­nen Aben­teu­er? (Vor al­lem in sa­tu­rier­ten Welt­ver­hält­nis­sen, wenn man Hi­ma­la­ja-Wan­de­run­gen und der­glei­chen hin­ter sich hat.)

    Auch au­ßer­halb des Roman­ge­sche­hens, scheint die Es­senz (Stoff und Durch­drin­gung) eher in der Fik­ti­on. Selbst­ent­äu­ße­run­gen sind es, die uns zu uns sel­ber brin­gen. Oder auch: ‘Ich sel­ber bin die frei er­fun­de­ne Fi­gur’. (Ul­la Ber­ké­wicz)

    Das ha­be ich mal lan­ge ge­dacht, und auch et­li­che be­rei­chern­de Jah­re da­mit zu­ge­bracht, al­so Ro­ma­ne zu kon­zi­pie­ren und sie auch nach und nach zu schrei­ben. Ir­gend­wann, als sie schon weit­ge­hend ge­die­hen wa­ren (und ich auch noch durch­aus an sie ge­glaubt hat­te), wur­de mir klar, dass, selbst wenn ich sie zu En­de brin­gen wür­de, sie doch kaum je­mand lä­se (weil es ei­ner­seits ein­fach längst zu viel Ge­schrie­be­nes gibt ... und mir an­de­rer­seits ein wei­te­res, heu­te un­ab­ding­ba­res Nar­ra­tiv da­zu fehlt, sie zu ver­tre­ten). Das Aben­teu­er dar­an war eben­so ir­gend­wann weit­ge­hend er­schöpft. Trotz­dem, so das Ge­fühl bis heu­te, war es die An­stren­gung wert ge­we­sen, weil ich zu­min­dest ei­ne Zeit lang ein un­be­kannt er­wei­ter­tes Le­ben leb­te.

    Als post­ma­te­ri­el­ler (und post­he­roi­scher) wahr­schein­lich all­zu ab­ge­klär­ter Zeit­ge­nos­se scheint mir auch heu­te noch der Ro­man oft das Wesentliche(re). (Wi­der­stre­be, ent­zücke, fra­ge, kämp­fe, ar­beit ... mich ge­ra­de durch die Bü­cher von Pierre Guy­o­tat, und ha­be wie­der die­sen Ge­dan­ken: Wie auf­re­gend kann al­les noch ein­mal sein!). Sol­che sin­gu­lä­ren Li­te­ra­tu­ren (ja, Gott sei Dank noch im Plu­ral) ho­len ei­nen noch mal aus dem Mid­cult her­aus.

    Was al­ler­dings dem al­ler­mei­sten Ge­schrie­be­nen heu­te fehlt, ist die Tra­gik. Selbst de­nen, de­nen et­was Be­deu­ten­des zu­stößt, selbst de­nen, die ein ‘Schick­sal’ ha­ben, weil die Schick­sa­le und die Ex­tre­me, wie al­les, auch auf ei­nem längst schon da­mit über­reich be­schick­ten Markt kon­kur­rie­ren. Oder an­ders ge­sagt: ‘Al­les ist schon von al­len ge­sagt, nur sind noch nicht al­le ge­bo­ren’. (Go­dard) Das Frag­wür­dig­ste an den Din­gen bleibt eben doch im­mer wie­der ih­re Dar­stel­lungs­form – Kunst.

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    Den kom­plet­ten Wolf­gang Welt ha­be ich mal in ei­ner Bü­cher­vi­tri­ne ge­fun­den (wo es üb­ri­gens auch ei­nen Kras­no­hor­kai gab, an­schei­nend kein ent­sorg­tes Ge­burts­tags­ge­schenk, son­dern mit et­li­chen Le­se-/Ge­brauchs­spu­ren), sah mich aber au­ßer Stan­de ihn zu le­sen. Der Si­gnal-Rausch-Ab­stand, die Ra­tio von durch­leb­ter Mi­se­re und da­für ge­fun­de­ner Spra­che, stimm­te für mich nicht. Ich brach­te das Buch brav zu­rück.

    Dann doch lie­ber hoch­ge­jazz­te Au­to­fik­ti­on. Für tat­säch­lich ge­lun­gen hal­te ich ‘Li­mo­now’ von be­sag­tem Em­ma­nu­el Car­rè­re (‘Yo­ga’ wer­de ich wohl nicht le­sen). Der re­al-exi­stie­ren­de Li­mo­now hat­te ein wirk­lich spek­ta­ku­lä­res Le­ben, über des­sen Er­zäh­lun­gen (und Ein­blicken in die rus­si­sche Bar­ba­rei) man sich blen­dend er­stau­nen und wun­dern kann ... und dann auch noch je­de Men­ge über uns, den so schil­lernd an­ders kor­rup­ten ‘We­sten’ ler­nen. Sol­che Lek­tü­re führt dann al­ler­dings auch zu der Art von Bla­siert­heit, dass man sich die Ge­schich­ten hier­zu­lan­de pu­bli­zier­ten Aus­ge­dacht­hei­ten und Mi­gra­ti­ons-Ge­schich­ten und Co­ming-of-Arsch-Dra­men nicht mehr an­tun will.

    Oder ich Arsch eben. Ei­nes mei­ner Schlüs­sel­er­leb­nis­se der letz­ten Jah­re: Man­golds Re­zen­si­on von ‘Al­le­gro Pa­stell’ : Ich ent­brann­te ge­wis­ser­ma­ßen ob solch li­te­ra­ri­scher Lu­zi­di­tät, und war mit zwei, drei Klicks auf der Le­se­pro­be – und was für ein blut­lee­res, ela­bo­rier­tes Zeug ich fand. Das In­ge­nieurs­sta­di­um des Ro­mans – aber oh­ne In­ge­ni­um, da­für so­zu­sa­gen im wei­ßen Kit­tel und mit ei­ner ex­akt aus­ge­rich­te­ten Rei­he Ku­gel­schrei­ber in der Hemd­ta­sche.

  6. Man­gold kann tat­säch­lich bis­wei­len aus ei­nem Esel ein Renn­pferd ma­chen. »Al­le­gro Pa­stell« woll­te ich le­sen, aber nicht kau­fen; der Ver­lag hat mich nicht ei­nes Le­se­ex­em­plars für wür­dig er­ach­tet, was ver­mut­lich gut war. Ich wur­de neu­gie­rig dar­auf durch das Mid­cult-Buch, wo­bei ich sa­gen muss, dass auch die­se Lek­tü­re am En­de ver­lo­re­ne Zeit war. Ab­ge­se­hen da­von hat es der »Coming-of-Arsch«-Schreiberei ein hüb­sches Eti­kett ver­passt. Im­mer­hin.

    Ihr Ver­mis­sen der Tra­gik ist in­ter­es­sant. Tat­säch­lich müss­te hier­für der Be­griff erst ein­mal de­fi­niert bzw. ab­ge­grenzt wer­den. Denn der Mid­cult hat ja sehr wohl ei­nen Be­griff des Tra­gi­schen. Die­ser ist al­ler­dings in höch­stem Ma­ße tri­via­li­siert, er­gießt sich fast im­mer in All­tags­lar­moy­an­zen, was per se nicht falsch wä­re, wenn es – rich­tig! – als Kunst er­zählt und nicht ein­fach nur »zu Pro­to­koll« ge­ge­ben wür­de. Das Pro­blem des au­to­fik­tio­na­len Schrei­bens be­steht ja in der feh­len­den Di­stanz zu den ei­ge­nen Be­find­lich­kei­ten. Al­les mün­det in ei­ne Be­richts­form und wird durch die Sug­ge­sti­on der Au­then­ti­zi­tät für jeg­li­che Kri­tik als sa­kro­sankt er­klärt. Das hat am Ran­de eben auch mit den iden­ti­täts­po­li­ti­schen De­bat­ten zu tun (nicht un­be­dingt bei Car­rè­re [hier wohl eher im Ge­gen­teil], aber bei den Gän­se­blüm­chen-Schrei­bern).

    Und wo soll denn auch die Tra­gik her­kom­men? Der sa­tu­rier­te West­ler kennt sie – wenn über­haupt – aus dem Dra­ma. Sie schrei­ben sel­ber vom »post­he­roi­schen« Zeit­al­ter. Aber kei­ne Tra­gik oh­ne ei­nen Hel­den. Wir se­hen ge­ra­de wie­der bei­des; zwei Flug­stun­den ent­fernt. He­ming­way ging noch in den spa­ni­schen Bür­ger­krieg. Hier le­sen »Autor:innen«.

    Nicht falsch ver­ste­hen, aber in die­sen Zei­ten könn­te man wie­der Ernst Jün­ger zur Hand neh­men. Schon als Kor­rek­tiv zu all dem seich­ten Mid­cult-Ge­schwa­fel de­rer, die sich dar­über auf­re­gen, wenn sie er­fah­ren, dass je­mand sie im Ta­ge­buch als »dumm« cha­rak­te­ri­siert hat.

  7. Stimmt: Es brauch­te wohl ei­nen Hel­den, oder viel­leicht auch nur ei­ne ent­spre­chend for­dern­de Auf­ga­be.
    Heu­te in der SZ: ‘Se­lens­kijs Männ­lich­keit: Der ukrai­ni­sche Staats­chef ist ein tra­gi­scher Held, weil er die­se Art Hel­den­tum nicht ge­wählt hat. Er setzt nicht auf phy­si­sche Stär­ke und er führt den Kampf, weil er muss. Über ei­ne neue Art von Leit­fi­gur. Ko­lum­ne von Ja­go­da Ma­ri­nic’

    Aber kann man tra­gisch sein, schon oh­ne et­was nicht ge­wählt zu ha­ben? Ich weiß nicht. Ist ei­ne schwe­re Krank­heit tra­gisch?
    (Ob­wohl Se­len­ski si­cher DER Held der Stun­de ist.)

    An­de­rer­seits sind die­se Bom­bar­de­ments so idio­tisch, so kläg­lich; und zu­gleich scheint es, dass auch der Krieg schon wie­der All­tag wird. (Bei Al­ja­ze­era und France24 ist er nun im­mer öf­ter nur noch zwei­te oder drit­te Schlag­zei­le.)
    Wahr­schein­lich steht es mir nicht zu, das zu sa­gen, aber es tri­via­li­siert zu­min­dest ei­nen An­spruch auf so et­was wie Jün­gers ‘exi­sten­zi­el­len Aus­nah­me­zu­stand’. Es bleibt nur Not, Wut und Hilf­lo­sig­keit an­ge­sichts dum­mer, in­fa­mer Ag­gres­si­on.

    An­son­sten ‘No mo­re he­roes’ bleibt für mich ei­ner der we­ni­gen üb­rig ge­blie­be­nen Leit­sät­ze aus den 80ern.

    Ich glau­be, be­züg­lich Tra­gik braucht es ei­ne grö­ße­re Per­spek­ti­ve, ei­ne grö­ße­re Di­men­si­on, nicht un­be­dingt ‘grie­chisch’ oder gar gött­lich – aber doch ir­gend­ei­ne das mensch­li­che Aus­maß Über­stei­gen­des – und da­mit auch ei­ne ent­spre­chen­de Sicht auf uns selbst. Das gibts viel­leicht erst wie­der in ei­ner pla­ne­ta­ren Sicht. Et­wa an­ge­sichts der Un­um­kehr­bar­keit der Zu­stän­de, auf dir wir zu­ge­hen. Aber so­gar Ka­ta­stro­phen schei­nen mit ih­rer Häu­fig­keit eben im­mer öf­ter ge­wöhn­lich zu wer­den. Ich stel­le mir dann manch­mal ei­ne Fern­seh­do­ku­men­ta­ti­on vor, die aus fer­ne­ren Jahr­zehn­ten auf un­se­re wil­den 20er zu­rück­blickt.

    Pa­so­li­ni war für mich tra­gisch. In den Jün­ger ha­be ich an­läss­lich ih­re Schwilk-Be­spre­chung prompt noch mal hin­ein­ge­se­hen. (‘Afri­ka­ni­sche Spie­le’, ei­nes der zwei Bü­cher von ihm, die ich be­hal­ten ha­be.) Al­lein die Di­stanz sol­cher Gei­ster, die von so fer­ne spre­chen, kön­nen manch­mal noch mal et­was er­öff­nen. Lei­der re­so­nier­te da aber sprach­lich nichts mehr.

    Ich fand Schwilk in­ter­es­sant, als ei­ne Ka­te­go­rie Kul­tur­ar­bei­ter, die sich ei­nem Hö­he­ren wid­men oder in den Dienst stel­len um da­von für ihr Le­ben zu pro­fi­tie­ren. Um sich dann zu ver­ir­ren, und doch an der ei­ge­nen Ge­ring­fü­gi­keit zu schei­tern wie Schwilk. Ist das tra­gisch? Wohl auch nicht.

    Das Ge­fühl ist, die Zei­ten müss­ten doch groß­ar­tig sein – aber sie sind (spä­te­stens seit der al­les ni­vel­lie­ren­den Pan­de­mie) ins­ge­samt so kläg­lich.

  8. Ob Se­len­skyi ein Held ist, weiß ich nicht. Er hat aber das Zeug, ei­ne tra­gi­sche Fi­gur zu wer­den. Zu Be­ginn fiel mir Tar­kow­skis Film »Op­fer« ein, in der Men­schen für den Er­halt der Er­de ein Op­fer brin­gen. Ich dach­te da­bei an Se­len­skyi oder so­gar an die Ukrai­ne, die die Welt op­fern wer­de, da­mit Pu­tin be­frie­digt ist. An ei­ne sinn­vol­le Ver­tei­di­gung durch die Ukrai­ne hat­te ich nicht ge­glaubt. Uns sind ja sol­che kämp­fe­ri­schen Idea­le, die auch et­was mit Selbst­ach­tung und Eh­re zu tun ha­ben, voll­kom­men fremd, nein: su­spekt ge­wor­den. Deutsch­land wür­de sich so­fort er­ge­ben – um der Men­schen­le­ben wil­len. (Wohl wis­send, dass dann erst recht ein Ter­ror-Re­gime be­gin­nen wür­de.)

    Jün­ger wird nicht li­te­ra­risch in­ter­es­sant, son­dern auf­grund sei­nes emo­ti­ons­lo­sen Blick­win­kels, den er bei der Be­trach­tung ei­nes Kä­fers wie auch im Krieg ein­nimmt. Da be­steht für ihn kein Un­ter­schied. Da­her ist er den mei­sten so un­heim­lich. Und Jün­ger lehnt ja auch das Hel­den­tum ab, aber nicht auf­grund ei­nes sub­ku­tan schwä­ren­den Pa­zi­fis­mus.

    Schwilk ist das Ge­gen­teil ei­nes Tra­gi­kers. Er geht in ein Kriegs­ge­biet, weil er Jün­ger nach­ah­men will, weil er an sich sel­ber fest­stel­len möch­te, wie das ist, wenn ei­nem die Gra­na­ten um die Oh­ren flie­gen. Das zeigt mir, dass er ei­gent­lich nichts von Jün­ger ver­stan­den hat. Nach­her drückt er dann auf die an­ti­ame­ri­ka­ni­sche Drü­se (die über­all reich­lich Stoff ge­ben wür­de, aber eben nicht bei der Be­frei­ung von Ku­wait). Mit der Zeit ist Schwilk dann wie so ei­ni­ge an­de­re Feuil­le­to­ni­sten (Ma­tus­sek et­wa, dem ich auf Face­book nur fol­ge, um sei­nen in­tel­lek­tu­el­len und mo­ra­li­schen Ver­fall zu be­ob­ach­ten) in ei­ner Mis­si­on ver­fal­len, die über­all Kon­trol­le, PC oder Schlim­me­res wit­tert. Er wird da­mit de­nen, die er vor­gibt zu be­kämp­fen, im­mer ähn­li­cher.

    Tra­gisch ist viel­leicht Bo­rys Ro­mant­schen­ko, der Ho­lo­caust-Über­le­ben­de, der nach der Be­frei­ung für die Rus­sen Zwangs­ar­beit lei­sten muss­te und jetzt, mit 95, von ei­ner rus­si­schen Ra­ke­te ge­tö­tet wur­de.

  9. @die_kalte_Sophie
    Ich ha­be jetzt end­lich »Zwi­schen den Zei­len«, den fran­zö­si­schen Film über die­sen Leo­nard und die Li­te­ra­tur­sze­ne, ge­se­hen. Er ist ein biss­chen wie ein Roh­mer-Film ge­macht; die Dia­lo­ge sind wich­ti­ger als die ei­gent­li­che Hand­lung. Ih­re Be­schrei­bung trifft es ziem­lich ge­nau. Ei­nen ähn­li­chen Film über ei­ne deut­sche Li­te­ra­tur­sze­ne wird es den­noch nie so ge­ben, weil uns die Selbst­iro­nie fehlt. Die deut­sche­ste (?) Sze­ne ist, als Leo­nard in die­ser Buch­hand­lung vor Pu­bli­kum sitzt und man ihm er­zäh­len muss, dass sein letz­ter Ro­man im In­ter­net gro­ße Wel­len ge­schla­gen und schlecht weg­ge­kom­men ist. Er hat es we­der mit­be­kom­men noch hat es ihm je­mand er­zählt. Und das, ob­wohl al­le »blog­gen«...

  10. »wur­de aber im­mer fro­her, nie­mals auch nur ein Staub­korn in die­sem En­ten­hau­sen ge­we­sen zu sein; ...«

    Die ver­schie­de­nen (Kunst)Szenen hier in Ber­lin sind im Grun­de be­lang­los. Man nimmt sich wich­tig und ist es doch nicht. Man ze­le­briert Hy­bris. Mich ha­ben all die­se Li­te­ra­ten-Sze­nen, de­rer, die sich für be­deut­sam hal­ten, nie in­ter­es­siert, mich ha­ben die Mer­ve-Leu­te nicht in­ter­es­siert, mich hat der Rutsch­ky-Kreis nicht in­ter­es­siert. Und bei den mei­sten Men­schen, wenn man sie ken­nen­lernt, be­merkt man nach ei­ni­gen Stun­den, daß sie Arsch­lö­cher sind. Mer­ve ist ei­gent­lich nur we­gen sol­cher (durch­aus un­ter­halt­sa­men und in­tel­lek­tu­ell auch an­re­gen­den) Bü­cher wie von Phil­ip Felsch span­nend. Theo­rie als Le­bens­form – was ein we­nig auch ei­ne Re­mi­nis­zenz an die ei­ge­ne Stu­di­en­zeit ist.

    Aber den­noch ist Ber­lin ei­ne un­ge­heu­er span­nen­de und in Tei­len so­gar auch schö­ne Stadt – man muß nur wis­sen, wo und in wel­chen ge­hei­men Ecken das ist Fall ist. Und ich ver­ra­te schon­mal so­viel: es sind nicht Prenz­lau­er Berg, Fried­richs­hain, Kreuz­berg und Neu­kölln. Wer aber, ich nen­ne nur zwei Bei­spie­le, durchs Rhein­gau­vier­tel streift oder in Frie­den­au rund um die Nied­stra­ße sich be­wegt, wird Herr­li­ches fin­den.

  11. @bersarin
    Ich ha­be kei­nen Zwei­fel an Ih­ren Schil­de­run­gen und dass es in Ber­lin Herr­li­ches gibt – selbst­re­dend. Es ging mir eben nur um die­ses spe­zi­el­le Mi­lieu, wel­ches De­gens da be­schreibt und das na­tür­lich auch nur ein Aus­schnitt ist, frei­lich ei­ner, der die Feuil­le­tons be­stimmt (lei­der). Von da­her sind sie nicht be­lang­los, sie über­schüt­ten sich ge­gen­sei­tig mit Prei­sen uns Sti­pen­di­en, netz­wer­ken her­um. Am En­de sind sie nicht bes­ser oder schlech­ter wie all die an­de­ren Zunft­bün­de oder Klein­gar­ten­ver­ei­ne.

    (Ehr­lich ge­sagt war ich über­rascht, dass De­gens der­art ver­floch­ten ist. Sei­ne [Mit-]Schöpfung, der SUKUL­TUR-Ver­lag ist wirk­lich ver­dienst­voll.)