Kleine Wegzehrung für Klagenfurt.
Ein fast mysteriöser Artikel des »Alfred-Kerr-Preisträgers« 2007, dem Literaturkritiker Hubert Winkels im »Tagesspiegel«: Der Kritiker als dritter Gott.
In der Beschwörung der guten, alten (Kerr-)Zeit (die es – wie immer bei solchen Rückblenden – nie gegeben hat) und der Auslobung des grössenwahnsinnigen, apodiktischen Kritikers mag ja ein gewisser Phantomschmerz eines 68er-Verfechters auszumachen sein. Winkels’ eigene Kritiken sind übrigens oft genug – gut formulierte, aber eher spröde – Inhaltsangaben, die irgendwann dann in einen routiniert-germanistischen Jargon münden, den Leser jedoch mehr oder weniger indifferent zurücklassen. Ihm einen Preis zu verleihen, der einen der grössten Polemiker deutscher Sprache als Namenspatron hat, verblüfft schon. (Aber dieses Problem ist generell virulent – ein »gekaufter« Namenspatron, der sich nicht mehr wehren kann.) Der Unart vieler seiner Kollegen, dass rezensierte Werk gar nicht oder nur angelesen zu haben, verfällt Winkels offensichtlich nicht. Immerhin das.
Vor einigen Jahren moderierte er im Fernsehen einmal monatlich eine einstündige Literatursendung, die an der »Bestenliste« des SWR angelehnt war, auf 3sat Sonntag früh um 10 Uhr ausgestrahlt wurde und die Bücher dieser »Bestenliste« vorstellte. Die Sendung war sehr vielseitig konzipiert: mal gab es eine kurze filmische Vorstellung eines Buches, mal ein Gespräch mit dem Autor, mal ein Gespräch mit einem Kritiker und manchmal ein Kritikerstreitgespräch. Aus Lyrikbänden wurde auch schon einmal vorgelesen. Die Sendung wurde nach rund zwei Jahren eingestellt – man mag schnell erraten, warum. Das »Format« (man nennt die Art der Sendung wohl so) war wenig fernsehkompartibel; was kein Wunder ist, da Winkels unter anderem Radioredakteur beim Deutschlandfunk ist. Da Qualität grundsätzlich unter »Format«- und Quotenregelungen im Fernsehen rangieren, war die Einstellung nur logisch. Als Alternative hat man seitdem die Sendung »Literatur im Foyer« teilweise trivialisiert, in dem die bemühte, aber weitgehend ahnungslose Thea Dorn über gängige Mainstreambestseller mit Autoren spricht – naja, das was man im Fernsehen so »talken« nennt – in der Regel belangloser Smalltalk.
Winkels, dessen Anspruch also unbestreitbar ist, vermisst in seinem Artikel den weltbewegende[n], ekstatisch-grandiose[n], größenwahnsinnige[n] Anspruch der Kritik. Anschliessend lässt er rund einhundert Jahre Kunst- und Kulturkritik Revue passieren, benennt kenntnisreich die unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Kunst – um dann in einem seltsamen Umkehrschluss das Fehlen der pointierten Kritik eben der Kunst bzw. Literatur selber anzukreiden.
Da klingt dann in kriegsveteranenhafter Weise eine »Früher war alles besser«-Klagerhetorik an, die auch noch nonchalant die aktuellen Protagonisten als Schimären pauschal denunziert ( das Reaktionäre bei Botho Strauß und neuerdings bei Martin Mosebach, ein bisschen Katholizismus bei Arnold Stadler und Patrick Roth und eine politisch-mediale Totalverirrung bei Peter Handke). Auch Grass und Walser sind Winkels nicht mehr Widmung wert. Es fehlen ihm die gesellschaftlichen Anknüpfungspunkte, um ethische und ästhetische Auflehnungen vom Zaun zu brechen. Man kann sich den Propheten förmlich im Sessel bei einer Tasse Kaffee vorstellen, wie er sein gegenüber fragt Was geht uns triftig, schmerzlich wirklich an – ausser wir uns selbst?
Natürlich liegt er mit dieser Diagnose nicht ganz falsch. Aber Winkels kommt wie ein Förster daher, der den Wald abgeholzt hat und jetzt beklagt, dass es keinen Schatten mehr gibt. Die Produkte dessen, was er (und nicht nur er) beklagen, sind für das breite Publikum alljährlich beispielsweise im Bachmannpreis zu sehen: Grösstenteils blutleere Prosa, die mit germanistischen Kniffen manchmal noch gerettet werden kann. Das Urteil der Kritiker erscheint dabei häufig genug tagesformabhängig.
Texte von Autoren, die etwas »riskiert« haben, die dem gängigen Mainstream etwas entgegensetzen wollen, haben in den letzten zehn Jahren in Klagenfurt einen schweren Stand gehabt. Die von Winkels bemühten postmodernen Zitatenspieler reüssierten; sie entfachten jedoch nur ephemere Strohfeuer (und meistens einen veritablen Kater).
Natürlich ist Kerrs Ideal vom dritten Gott, den die Kritik zu sein habe, in vielerlei Hinsicht weder praktikabel noch wünschenswert. Den Göttern, die in der deutschen Kritik in den letzten 50 Jahren den Wald sukzessive abgeholzt haben, muss man allerdings attestieren, dass sie eine »gute Arbeit« geleistet haben. Fairerweise muss man jedoch anmerken, dass sie vor allem von einer eigentlich unwissenden Schickeria zu Päpsten und/oder Göttern gemacht wurden: Mit ihnen liess sich dann ein ästhetisches Programm vermitteln, was dem potentiellen Leser dann zum Frass vorgeworfen wurde.
Ich rede nicht nur vom Fernsehen. In den 70er Jahren gab es – auch und gerade dort – zahlreiche Experimente, zeitgenössische Literatur nicht nur kritisch zu beleuchten, sondern – zunächst einmal – überhaupt in den Fokus der Betrachtung zu rücken. Dieser aufklärerische Furor pervertiere Jahrzehnte später vollends in tribunalähnlichen Veranstaltungen wie das »Literarische Quartett«. Dass es auch anders ging, konnte man parallel im schweizer »Literaturclub« der Nach-Heidenreich-Ära sehen. Und dass es noch schlimmer geht, zeigt das ZDF im Moment just mit jener Heroine Elke Heidenreich, die sich auch schon mal nicht entblödet, Bücher und deren Autoren, die sie, wie sie selber zugibt, gar nicht gelesen hat, pauschal zu verunglimpfen.
Das sind die »Götter« der Kritik der Gegenwart, Herr Winkels. Und in diesem Sinne haben Sie natürlich mit ihrem Aufschrei recht: Wie tief ist dieser Beruf gesunken, der sich in grossen Teilen zum Trendsetter des Massengeschmacks einfach konsumierbarer Literatur gemacht hat.
Geradezu eine Verkehrung der Wahrheit ist Winkels’ Feststellung (und Diktum), man habe umgeschaltet von ideologischer, auch stil-ideologischer Außensteuerung auf immanente Textsteuerung. Das pure Gegenteil ist der Fall: der »Text« (andere Vokabeln fallen den Kritikern nicht ein) wird nur im jeweiligen gesellschaftlich-politisch-literarisch korrekten Umfeld als satisfaktionsfähig angesehen. Das schränkt – naturgemäss – nicht nur den Kreis der kritischen Rezeptionsmöglichkeiten (also »Texte«) enorm ein – sondern lässt auch jenen anfangs so emphatisch vermissten Grössenwahn der Kritik nicht einmal theoretisch aufkommen. Das zu rezensierende ist bereits vorher einem Domestizierungsakt unterworfen worden, der fast zwangsläufig in eine Dressur des Autors aufs stromlinienförmige hinausläuft.
Und wenn das von Winkels so pauschal mit dem Etikett Schimäre versehene, genau das ist, wessen es sich derzeit lohnt zu streiten? Konkret: Ist nicht in Zeiten der fortschreitenden Banalisierung gerade eine Kritik sowohl der medialen Vermittlung (bzw. auch der literarischen Umsetzung dieser medialen Vermittlung) als auch der kanonisierten Betrachtungsweisen, das neue Thema? Sind da nicht Autoren wie beispielsweise Handke und Walser exakt jene vermissten Auflehner (bei aller vereinzelt vielleicht störenden Schrulligkeit)? »Störenfriede«, die freilich nur ob ihres Oeuvres überhaupt gehört werden; ein »junger« Autor mit ähnlichen Thesen wäre niemals zur Teestunde (nebst anschliessendem Rausschmiss) im »Grossfeuilleton« geladen worden.
Ist nicht Winkels’ Rückgriff auf den bellizistischen Ernst Jünger in Anbetracht der aktuellen Gemengelage geradezu eine obszön anmutende Geste? Ernsthaft: Was kann einen Literaturkritiker des 21. Jahrhunderts zu dieser Flucht treiben – ausser die Kapitulation vor einer zeitgenössischen Blümchenliteratur, die aber letztlich nur brav den Imperativen des Literaturbetriebs folgt?
Es ist ja nicht so, dass die so schmerzlich vermisste Literatur (oder auch Kunst) nicht existiert. Sie ist freilich im inzüchtigen Treibhaus des Feuilletons eine vernachlässigte Pflanze, die nur gelegentlich zu Repräsentationszwecken mühsam aufgepeppelt ans Licht gezerrt wird. Das Grossfeuilleton bespricht in einem Jahr vielleicht einhundert belletristische Bücher – mehr Auswahl existiert selten (da täuschen auch die pompösen „Sonderausgaben“ nur Quantität vor). Schnell werden die Kritiken zu Meta-Kritiken über Kritiken. Die Namen der Autoren sind über die Jahre immer die gleichen. Amerikanische Writingschool-Aktivisten geben immer mehr den Ton an. Verständlich, dass da die Emphase in der Rezeption fehlt.
Was der Kritik fehlt, ist schlichtweg der Mut. Mut zur Selbstreflexion, Mut zur Kritik, die vor allem auch an den eigenen bis zur Arroganz überzeichneten Grundfesten rüttelt und zunächst einmal den abgeholzten Wald aufforstet. Das ist ein eher langfristiges Projekt in einer auch in der Literatur immer schnelllebigeren Zeit. Aber gerade dies wäre notwendig; auch um neue Schichten langfristig an Literatur (an Literatur und nicht an »Schmöker«) zu binden. Hierfür war Winkels’ Aufsatz aber leider keine grosse Hilfe.