Al­les Kä­se

Seit ei­ni­gen Ta­gen wird der zu er­war­ten­de An­stieg bei Milch und Milch­pro­duk­ten un­ter an­de­rem auch ei­ne er­höh­te Nach­fra­ge für die­se Pro­duk­te aus Asi­en – spe­zi­ell aus Chi­na – an­ge­führt.

So­eben mel­de­te im­mer noch die ZDF-»heute«-Sendung da­von (»An­de­rer­seits steigt die Milch­nach­fra­ge in Schwel­len­län­dern wie Chi­na.«) – und auch die Ta­ges­schau schloss sich dem Te­nor der Mel­dung an. Von der »Bild«-Zeitung ist man ja nichts an­ders ge­wöhnt. Und die »FTD« er­klärt, dass Chi­ne­sen mit Kä­se kei­ne Pro­ble­me hät­ten. Das Ge­gen­teil ist der Fall. Wei­ter­le­sen

Die neue In­qui­si­ti­on

Die In­qui­si­to­ren der Ge­sin­nungs­ma­fia ma­chen, das zeigt die Dis­kus­si­on um den Schau­spie­ler Tom Crui­se und des­sen Stauf­fen­berg-Film, in­zwi­schen auch nicht vor den re­pro­du­zie­ren­den Künst­lern halt.

Das Tribunal ist bereit

Das Tri­bu­nal ist be­reit


So ab­strus und über­flüs­sig die Ein­zel­hei­ten des hoch emo­tio­nal be­han­del­ten The­mas auch sein mö­gen – es ist ein wei­te­res Mo­sa­ik­stein­chen für ei­ne zu­neh­mend ge­sin­nungs­äs­the­tisch ur­tei­len­de Mei­nungs­lob­by.

Die Pro­duk­ti­on ei­nes Kunst­wer­kes ge­nügt da­bei nicht mehr nur rein äs­the­ti­schen Kri­te­ri­en, die dann von der Kul­tur­kri­tik ent­spre­chend be­spro­chen wer­den. Statt­des­sen wird ein Ge­sin­nungs­kon­sens ein­ge­for­dert, des­sen im­ma­nen­te Kri­te­ri­en werk­fremd sind. Vom Künst­ler wird qua­si ei­ne Prä­am­bel ver­langt; ei­ne Art »Zu­las­sung« zum Kul­tur­be­trieb. Wei­ter­le­sen

Wie­der eine(r) we­ni­ger

Ich ha­be Ali­ce Schwar­zer nie be­son­ders »ge­mocht«. Sie war mir oft zu mi­li­tant, zu laut, zu po­le­misch. Aber viel­leicht muss­te man das sein, um ihr The­ma – die Eman­zi­pa­ti­on der Frau­en in un­se­rer Ge­sell­schaft – er­folg­reich an­zu­packen und dau­er­haft in den Köp­fen der brei­ten Mas­se zu ver­an­kern. Rück­wir­kend er­scheint es da­bei, dass Ali­ce Schwar­zer al­lei­ne ge­stan­den hät­te, was nach­weis­lich falsch ist (auch wenn es im­mer wie­der be­haup­tet wird – und neu­lich so­gar durch ei­nen ei­gent­lich re­nom­mier­ter Hi­sto­ri­ker wie Hans-Ul­rich Wehl­er). Es ist in­zwi­schen vie­les Le­gen­de ge­wor­den, was das Wir­ken von Ali­ce Schwar­zer an­geht. Den­noch sind ih­re Ver­dien­ste nicht zu leug­nen. Und die Ver­su­che, sie in di­ver­sen Kam­pa­gnen zu de­nun­zie­ren, ha­ben mich im­mer an­ge­wi­dert. Man kann sa­gen, ich ha­be Ali­ce Schwar­zer re­spek­tiert.
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Die Ab­schrei­ber

Am Sonn­tag wur­de in Kla­gen­furt im Rah­men der »31. Ta­ge der deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur« der In­ge­borg-Bach­mann-Preis ver­ge­ben. Die neun Ju­ro­ren be­nen­nen den­je­ni­gen, dem sie den In­ge­borg-Bach­mann-Preis ge­ben wol­len. Je­der lie­fert ei­ne kur­ze Be­grün­dung. Gibt es beim er­sten Mal kei­ne Mehr­heit, dann fin­den Stich­wah­len statt.

Im Ge­gen­satz zu den spä­te­ren Prei­sen (so­zu­sa­gen dem 2. bis 4. Preis) war die Kü­rung des Haupt­preis­trä­gers in die­sem Jahr schnell er­le­digt. Im er­sten Wahl­gang er­reich­te Lutz Sei­ler 6 von 9 Stim­men. Wei­ter­le­sen

Kla­ge über den ab­ge­holz­ten Wald

Klei­ne Weg­zeh­rung für Kla­gen­furt.

Ein fast my­ste­riö­ser Ar­ti­kel des »Al­fred-Kerr-Preis­trä­gers« 2007, dem Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hu­bert Win­kels im »Ta­ges­spie­gel«: Der Kri­ti­ker als drit­ter Gott.

In der Be­schwö­rung der gu­ten, al­ten (Kerr-)Zeit (die es – wie im­mer bei sol­chen Rück­blen­den – nie ge­ge­ben hat) und der Aus­lo­bung des grö­ssen­wahn­sin­ni­gen, apo­dik­ti­schen Kri­ti­kers mag ja ein ge­wis­ser Phan­tom­schmerz ei­nes 68er-Ver­fech­ters aus­zu­ma­chen sein. Win­kels’ ei­ge­ne Kri­ti­ken sind üb­ri­gens oft ge­nug – gut for­mu­lier­te, aber eher sprö­de – In­halts­an­ga­ben, die ir­gend­wann dann in ei­nen rou­ti­niert-ger­ma­ni­sti­schen Jar­gon mün­den, den Le­ser je­doch mehr oder we­ni­ger in­dif­fe­rent zu­rück­las­sen. Ihm ei­nen Preis zu ver­lei­hen, der ei­nen der gröss­ten Po­le­mi­ker deut­scher Spra­che als Na­mens­pa­tron hat, ver­blüfft schon. (Aber die­ses Pro­blem ist ge­ne­rell vi­ru­lent – ein »ge­kauf­ter« Na­mens­pa­tron, der sich nicht mehr weh­ren kann.) Der Un­art vie­ler sei­ner Kol­le­gen, dass re­zen­sier­te Werk gar nicht oder nur an­ge­le­sen zu ha­ben, ver­fällt Win­kels of­fen­sicht­lich nicht. Im­mer­hin das.

Vor ei­ni­gen Jah­ren mo­de­rier­te er im Fern­se­hen ein­mal mo­nat­lich ei­ne ein­stün­di­ge Li­te­ra­tur­sen­dung, die an der »Be­sten­li­ste« des SWR an­ge­lehnt war, auf 3sat Sonn­tag früh um 10 Uhr aus­ge­strahlt wur­de und die Bü­cher die­ser »Be­sten­li­ste« vor­stell­te. Die Sen­dung war sehr viel­sei­tig kon­zi­piert: mal gab es ei­ne kur­ze fil­mi­sche Vor­stel­lung ei­nes Bu­ches, mal ein Ge­spräch mit dem Au­tor, mal ein Ge­spräch mit ei­nem Kri­ti­ker und manch­mal ein Kri­ti­ker­streit­ge­spräch. Aus Ly­rik­bän­den wur­de auch schon ein­mal vor­ge­le­sen. Die Sen­dung wur­de nach rund zwei Jah­ren ein­ge­stellt – man mag schnell er­ra­ten, war­um. Das »For­mat« (man nennt die Art der Sen­dung wohl so) war we­nig fern­seh­kom­par­ti­bel; was kein Wun­der ist, da Win­kels un­ter an­de­rem Ra­dio­re­dak­teur beim Deutsch­land­funk ist. Da Qua­li­tät grund­sätz­lich un­ter »For­mat«- und Quo­ten­re­ge­lun­gen im Fern­se­hen ran­gie­ren, war die Ein­stel­lung nur lo­gisch. Als Al­ter­na­ti­ve hat man seit­dem die Sen­dung »Li­te­ra­tur im Foy­er« teil­wei­se tri­via­li­siert, in dem die be­müh­te, aber weit­ge­hend ah­nungs­lo­se Thea Dorn über gän­gi­ge Main­stream­best­sel­ler mit Au­toren spricht – na­ja, das was man im Fern­se­hen so »tal­ken« nennt – in der Re­gel be­lang­lo­ser Small­talk.

Win­kels, des­sen An­spruch al­so un­be­streit­bar ist, ver­misst in sei­nem Ar­ti­kel den weltbewegende[n], ekstatisch-grandiose[n], größenwahnsinnige[n] An­spruch der Kri­tik. An­schlie­ssend lässt er rund ein­hun­dert Jah­re Kunst- und Kul­tur­kri­tik Re­vue pas­sie­ren, be­nennt kennt­nis­reich die un­ter­schied­li­chen Strö­mun­gen in­ner­halb der Kunst – um dann in ei­nem selt­sa­men Um­kehr­schluss das Feh­len der poin­tier­ten Kri­tik eben der Kunst bzw. Li­te­ra­tur sel­ber an­zu­krei­den.

Da klingt dann in kriegs­ve­te­ra­nen­haf­ter Wei­se ei­ne »Frü­her war al­les besser«-Klagerhetorik an, die auch noch non­cha­lant die ak­tu­el­len Prot­ago­ni­sten als Schi­mä­ren pau­schal de­nun­ziert ( das Re­ak­tio­nä­re bei Bo­tho Strauß und neu­er­dings bei Mar­tin Mo­se­bach, ein biss­chen Ka­tho­li­zis­mus bei Ar­nold Stad­ler und Pa­trick Roth und ei­ne po­li­tisch-me­dia­le To­tal­ver­ir­rung bei Pe­ter Hand­ke). Auch Grass und Wal­ser sind Win­kels nicht mehr Wid­mung wert. Es feh­len ihm die ge­sell­schaft­li­chen An­knüp­fungs­punk­te, um ethi­sche und äs­the­ti­sche Auf­leh­nun­gen vom Zaun zu bre­chen. Man kann sich den Pro­phe­ten förm­lich im Ses­sel bei ei­ner Tas­se Kaf­fee vor­stel­len, wie er sein ge­gen­über fragt Was geht uns trif­tig, schmerz­lich wirk­lich an – au­sser wir uns selbst?

Na­tür­lich liegt er mit die­ser Dia­gno­se nicht ganz falsch. Aber Win­kels kommt wie ein För­ster da­her, der den Wald ab­ge­holzt hat und jetzt be­klagt, dass es kei­nen Schat­ten mehr gibt. Die Pro­duk­te des­sen, was er (und nicht nur er) be­kla­gen, sind für das brei­te Pu­bli­kum all­jähr­lich bei­spiels­wei­se im Bach­mann­preis zu se­hen: Gröss­ten­teils blut­lee­re Pro­sa, die mit ger­ma­ni­sti­schen Knif­fen manch­mal noch ge­ret­tet wer­den kann. Das Ur­teil der Kri­ti­ker er­scheint da­bei häu­fig ge­nug ta­ges­form­ab­hän­gig.

Tex­te von Au­toren, die et­was »ris­kiert« ha­ben, die dem gän­gi­gen Main­stream et­was ent­ge­gen­set­zen wol­len, ha­ben in den letz­ten zehn Jah­ren in Kla­gen­furt ei­nen schwe­ren Stand ge­habt. Die von Win­kels be­müh­ten post­mo­der­nen Zi­ta­ten­spie­ler re­üs­sier­ten; sie ent­fach­ten je­doch nur eph­eme­re Stroh­feu­er (und mei­stens ei­nen ve­ri­ta­blen Ka­ter).

Na­tür­lich ist Kerrs Ide­al vom drit­ten Gott, den die Kri­tik zu sein ha­be, in vie­ler­lei Hin­sicht we­der prak­ti­ka­bel noch wün­schens­wert. Den Göt­tern, die in der deut­schen Kri­tik in den letz­ten 50 Jah­ren den Wald suk­zes­si­ve ab­ge­holzt ha­ben, muss man al­ler­dings at­te­stie­ren, dass sie ei­ne »gu­te Ar­beit« ge­lei­stet ha­ben. Fai­rer­wei­se muss man je­doch an­mer­ken, dass sie vor al­lem von ei­ner ei­gent­lich un­wis­sen­den Schicke­ria zu Päp­sten und/oder Göt­tern ge­macht wur­den: Mit ih­nen liess sich dann ein äs­the­ti­sches Pro­gramm ver­mit­teln, was dem po­ten­ti­el­len Le­ser dann zum Frass vor­ge­wor­fen wur­de.

Ich re­de nicht nur vom Fern­se­hen. In den 70er Jah­ren gab es – auch und ge­ra­de dort – zahl­rei­che Ex­pe­ri­men­te, zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur nicht nur kri­tisch zu be­leuch­ten, son­dern – zu­nächst ein­mal – über­haupt in den Fo­kus der Be­trach­tung zu rücken. Die­ser auf­klä­re­ri­sche Fu­ror per­ver­tie­re Jahr­zehn­te spä­ter voll­ends in tri­bu­nal­ähn­li­chen Ver­an­stal­tun­gen wie das »Li­te­ra­ri­sche Quar­tett«. Dass es auch an­ders ging, konn­te man par­al­lel im schwei­zer »Li­te­ra­tur­club« der Nach-Hei­den­reich-Ära se­hen. Und dass es noch schlim­mer geht, zeigt das ZDF im Mo­ment just mit je­ner He­roi­ne El­ke Hei­den­reich, die sich auch schon mal nicht ent­blö­det, Bü­cher und de­ren Au­toren, die sie, wie sie sel­ber zu­gibt, gar nicht ge­le­sen hat, pau­schal zu ver­un­glimp­fen.

Das sind die »Göt­ter« der Kri­tik der Ge­gen­wart, Herr Win­kels. Und in die­sem Sin­ne ha­ben Sie na­tür­lich mit ih­rem Auf­schrei recht: Wie tief ist die­ser Be­ruf ge­sun­ken, der sich in gro­ssen Tei­len zum Trend­set­ter des Mas­sen­ge­schmacks ein­fach kon­su­mier­ba­rer Li­te­ra­tur ge­macht hat.

Ge­ra­de­zu ei­ne Ver­keh­rung der Wahr­heit ist Win­kels’ Fest­stel­lung (und Dik­tum), man ha­be um­ge­schal­tet von ideo­lo­gi­scher, auch stil-ideo­lo­gi­scher Au­ßen­steue­rung auf im­ma­nen­te Text­steue­rung. Das pu­re Ge­gen­teil ist der Fall: der »Text« (an­de­re Vo­ka­beln fal­len den Kri­ti­kern nicht ein) wird nur im je­wei­li­gen ge­sell­schaft­lich-po­li­tisch-li­te­ra­risch kor­rek­ten Um­feld als sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig an­ge­se­hen. Das schränkt – na­tur­ge­mäss – nicht nur den Kreis der kri­ti­schen Re­zep­ti­ons­mög­lich­kei­ten (al­so »Tex­te«) enorm ein – son­dern lässt auch je­nen an­fangs so em­pha­tisch ver­miss­ten Grö­ssen­wahn der Kri­tik nicht ein­mal theo­re­tisch auf­kom­men. Das zu re­zen­sie­ren­de ist be­reits vor­her ei­nem Do­me­sti­zie­rungs­akt un­ter­wor­fen wor­den, der fast zwangs­läu­fig in ei­ne Dres­sur des Au­tors aufs strom­li­ni­en­för­mi­ge hin­aus­läuft.

Und wenn das von Win­kels so pau­schal mit dem Eti­kett Schi­mä­re ver­se­he­ne, ge­nau das ist, wes­sen es sich der­zeit lohnt zu strei­ten? Kon­kret: Ist nicht in Zei­ten der fort­schrei­ten­den Ba­na­li­sie­rung ge­ra­de ei­ne Kri­tik so­wohl der me­dia­len Ver­mitt­lung (bzw. auch der li­te­ra­ri­schen Um­set­zung die­ser me­dia­len Ver­mitt­lung) als auch der ka­no­ni­sier­ten Be­trach­tungs­wei­sen, das neue The­ma? Sind da nicht Au­toren wie bei­spiels­wei­se Hand­ke und Wal­ser ex­akt je­ne ver­miss­ten Auf­leh­ner (bei al­ler ver­ein­zelt viel­leicht stö­ren­den Schrul­lig­keit)? »Stö­ren­frie­de«, die frei­lich nur ob ih­res Oeu­vres über­haupt ge­hört wer­den; ein »jun­ger« Au­tor mit ähn­li­chen The­sen wä­re nie­mals zur Tee­stun­de (nebst an­schlie­ssen­dem Raus­schmiss) im »Gross­feuil­le­ton« ge­la­den wor­den.

Ist nicht Win­kels’ Rück­griff auf den bel­li­zi­sti­schen Ernst Jün­ger in An­be­tracht der ak­tu­el­len Ge­menge­la­ge ge­ra­de­zu ei­ne ob­szön an­mu­ten­de Ge­ste? Ernst­haft: Was kann ei­nen Li­te­ra­tur­kri­ti­ker des 21. Jahr­hun­derts zu die­ser Flucht trei­ben – au­sser die Ka­pi­tu­la­ti­on vor ei­ner zeit­ge­nös­si­schen Blüm­chen­li­te­ra­tur, die aber letzt­lich nur brav den Im­pe­ra­ti­ven des Li­te­ra­tur­be­triebs folgt?

Es ist ja nicht so, dass die so schmerz­lich ver­miss­te Li­te­ra­tur (oder auch Kunst) nicht exi­stiert. Sie ist frei­lich im in­züch­ti­gen Treib­haus des Feuil­le­tons ei­ne ver­nach­läs­sig­te Pflan­ze, die nur ge­le­gent­lich zu Re­prä­sen­ta­ti­ons­zwecken müh­sam auf­ge­pep­pelt ans Licht ge­zerrt wird. Das Gross­feuil­le­ton be­spricht in ei­nem Jahr viel­leicht ein­hun­dert bel­le­tri­sti­sche Bü­cher – mehr Aus­wahl exi­stiert sel­ten (da täu­schen auch die pom­pö­sen „Son­der­aus­ga­ben“ nur Quan­ti­tät vor). Schnell wer­den die Kri­ti­ken zu Me­ta-Kri­ti­ken über Kri­ti­ken. Die Na­men der Au­toren sind über die Jah­re im­mer die glei­chen. Ame­ri­ka­ni­sche Wri­tin­g­school-Ak­ti­vi­sten ge­ben im­mer mehr den Ton an. Ver­ständ­lich, dass da die Em­pha­se in der Re­zep­ti­on fehlt.

Was der Kri­tik fehlt, ist schlicht­weg der Mut. Mut zur Selbst­re­fle­xi­on, Mut zur Kri­tik, die vor al­lem auch an den ei­ge­nen bis zur Ar­ro­ganz über­zeich­ne­ten Grund­fe­sten rüt­telt und zu­nächst ein­mal den ab­ge­holz­ten Wald auf­for­stet. Das ist ein eher lang­fri­sti­ges Pro­jekt in ei­ner auch in der Li­te­ra­tur im­mer schnelllebi­ge­ren Zeit. Aber ge­ra­de dies wä­re not­wen­dig; auch um neue Schich­ten lang­fri­stig an Li­te­ra­tur (an Li­te­ra­tur und nicht an »Schmö­ker«) zu bin­den. Hier­für war Win­kels’ Auf­satz aber lei­der kei­ne gro­sse Hil­fe.

Al­ban Ni­ko­lai Herbst: Mee­re

Alban Nikolai Herbst: Meere (bei VOLLTEXT)

Al­ban Ni­ko­lai Herbst: Mee­re (bei VOLLTEXT)

Ju­li­an Kal­k­reuth und Fich­te sind ein und die­sel­be Per­son. Ir­gend­wann be­schloss Ju­li­an, Fich­te zu wer­den. Nein, nicht »be­schloss« – Ju­li­an ver­wan­del­te sich in Fich­te. Un­ter­schied­li­cher könn­ten bei­de nicht sein.

»Mee­re« ist auch Er­zäh­lung die­ses Fich­te-Le­bens. Als bil­den­der Künst­ler und als Mensch. Als Mann. Wir er­fah­ren in dia­lo­gi­schen Re­tro­spek­ti­ven zwi­schen Ju­li­an und Fich­te über das Le­ben des gna­den­los pro­duk­ti­ven Künst­lers und Lieb­ha­bers Fich­te und über Ju­li­ans Le­bens­krän­kun­gen (Vam­pi­re), die Fich­te doch nicht los­wird. Und wir le­sen die Ge­schich­te sei­ner gro­ssen Lieb­schaf­ten, der Lie­be zur ab­ge­klärt wir­ken­den, fast gleich­alt­ri­gen Lu, die sieb­zehn Jah­re hielt (ei­ne Art ehe­li­cher Kul­tur­kon­stan­te) und – vor al­lem – der Lie­be zu Ire­ne, der mehr als zwan­zig Jah­re jün­ge­ren per­si­schen Göt­tin mit den ägyp­ti­schen Lip­pen, dem lang­sam­sten Geschöpf…das ihm je be­geg­net ist (aus­ge­rech­net ihm, dem von Arg­wohn ge­pei­nig­ten, no­to­risch Un­ge­dul­di­gen, schnell Er­reg­ba­ren und in hei­li­gem Zorn fal­len­den). Ei­ne Ge­schich­te ei­ner Ob­ses­si­on, ei­ner Be­ses­sen­heit. Und die Ge­schich­te des Schei­terns, weil Fich­tes Ma­nie, die ihn in der Kunst zu Hö­hen­flü­gen treibt (»Höl­len­pa­lä­ste«), ei­ne Lie­be nicht ent­wickeln, nicht »aus­hal­ten“ kann, son­dern sie zer­stört. Die Hin­ga­be Ire­nes, die aus dem Stolz kommt, ver­geht; sie trennt sich un­ver­söhnt – er bleibt zu­rück, fas­sungs­los; un­ver­stän­dig.

Al­ban Ni­ko­lai Herbst ver­mei­det Lar­moy­anz und Sen­ti­men­ta­li­tät. Es wird nicht kon­ven­tio­nell li­ne­ar er­zählt, son­dern in as­so­zia­ti­ven Zeit­sprün­gen. Die be­son­ders im er­sten Drit­tel dra­sti­schen Se­xu­alsze­nen er­schie­nen mir trotz ih­rer teil­wei­se de­tail­lier­ten Schil­de­run­gen nie­mals ob­szön. Sie ge­hö­ren zur Er­zäh­lung. Oh­ne sie fehlt dem Le­ser die Mög­lich­keit der Ein­ord­nung der Di­men­si­on die­ser rausch­haf­ten Be­ses­sen­heit, die Fich­te tra­gi­scher­wei­se mit Lie­be ver­wech­selt. Oh­ne sie wür­de das Aus­mass des Schei­terns nicht ver­steh­bar und blie­be blo­sse Be­haup­tung. Das an­fangs halb scherz­haf­te halb dro­hen­de Du wirst mich nie wie­der los wird zum Fa­tum: Selbst als Ire­ne ihn »phy­sisch« ver­las­sen hat­te, wur­de er sie nicht mehr los. Wei­ter­le­sen

Der fa­ta­le Fehl­schluss

In je­der Dis­kus­si­on um Ver­bes­se­run­gen des Bil­dungs­sy­stems in Deutsch­land fällt nach we­ni­gen Sät­zen fast un­aus­weich­lich die Be­haup­tung: In kei­nem an­de­ren Land (der OECD) be­stim­men die Her­kunft und die fi­nan­zi­el­len Mit­tel die Bil­dungs­chan­cen der­art stark wie in Deutsch­land. Kin­der aus Ar­bei­ter­aus­hal­ten oder an­de­ren »pre­kä­ren« Mi­lieus ha­ben – so die The­se – sy­stem­be­dingt schlech­te­re Chan­cen auf hö­he­re Schul­ab­schlüs­se wie bei­spielsweise das Ab­itur oder gar ein Stu­di­um. Der Schluss hier­aus lau­tet, dass Haus­hal­te mit grö­sse­ren pe­ku­niä­ren Mit­teln per se ei­ne bes­se­re Bil­dung für ih­re Kin­der er­rei­chen. Dies be­deu­tet auch, so die gän­gi­ge Mei­nung, dass »är­me­re« Kin­der be­dingt durch ih­re »Ar­mut« schlech­te­re Bil­dungs­chan­cen hät­ten.

Ne­ben den gän­gi­gen OECD-Stu­di­en wird auch die PI­SA-Stu­die hier im­mer wie­der zi­tiert. Be­fragt wird die­se The­se und vor al­lem ih­re Er­he­bungs­me­tho­de gar nicht mehr; sie ist der­art ka­no­ni­siert, dass es of­fen­sicht­lich ein Fak­tum zu sein scheint.

Da­bei müss­ten die­se The­sen ei­gent­lich ver­wun­dern, denn in Deutsch­land exi­stie­ren we­der Schul­geld noch Zu­gangs­be­schrän­kun­gen, die an fi­nan­zi­el­le Zu­wen­dun­gen ge­bun­den wä­ren (lässt man jetzt ein­mal die we­ni­gen pri­va­ten In­ter­nats­schu­len bei­sei­te). Wie wird ei­gent­lich ge­nau die­se Aus­sa­ge be­legt? Und: Stimmt es tat­säch­lich in die­ser Ein­fach­heit, dass die öko­no­mi­sche Aus­rü­stung des El­tern­hau­ses den Grad der Bil­dung be­stimmt?
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Die Am­bi­va­lenz­ge­sell­schaft

Ge­stern He­ri­bert Prantl im In­ter­view in »Kul­tur­zeit«. Er be­klagt, dass der Staat den Bür­ger über­all be­vor­mun­det und die »Frei­heit« durch über­zo­ge­ne »Prä­ven­ti­ons­mass­nah­men« ein­schränkt. Prantl ver­such­te ei­ne Dif­fe­ren­zie­rung – die Schäub­le-Ge­set­zes­ent­wür­fe (die tat­säch­lich ei­ne grund­le­gen­de Neu­de­fi­ni­ti­on des Rechts­ver­ständ­nis­ses die­ses Staa­tes be­deu­ten wür­den) nicht in ei­nen Topf zu schmei­ssen mit Rauch­ver­bot und Di­ät­dis­kus­si­on. Dass die Süd­deut­sche Zei­tung we­sent­li­chen An­teil an der alar­mi­sti­schen »Deutschland-ist-zu-dick«-Diskussion durch Zi­tie­rung ei­ner du­bio­sen Stu­die hat, wur­de üb­ri­gens nicht the­ma­ti­siert. Wei­ter­le­sen