Eigentlich macht man das nicht: Über ein Buch schreiben, was man nicht gelesen hat. Aber manchmal reicht es auch, nur einen Teil gelesen zu haben, um festzustellen, dass das Leben viel zu kurz ist, sich weiter mit dem Gelesenen zu beschäftigen.
So ging es mir mit Kai Diekmanns Äusserungen aus seinem Buch »Der große Selbstbetrug«, welches nun – in durchaus kurioser Form – vorgestellt wurde. Michael Naumann erbarmte sich, begab sich in die Höhle des Löwen (des Löwen?) und bürstete den gegelten Autor ein bisschen gegen den Strich. Das ist vermutlich ganz schön hanseatisch abgelaufen und vielleicht wird es Naumann gelingen, bis zu den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft noch ein, zwei Mal in der »Bild«-Zeitung erwähnt zu werden. Das ist doch was.
Michael Ondaatje: DivisaderoZiemlich genau in der Mitte erfahren wir die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten des Begriffs Divisadero (und ganz am Ende erfahren wir, welche Musik diesem Buch mehr oder weniger zugrunde liegt). Einerseits ist das eine Strasse in San Francisco (eine der Protagonistinnen, Anna, wohnte dort). Andererseits kann es auch vom spanischen división – Teilung, Trennung kommen, denn früher einmal bezeichnete diese Strasse die Grenze zwischen San Francisco und den Feldern von Presidio. Oder – und da kommt man der Sache vermutlich ganz nahe – der Name leitet sich her von ‘divisar’, was bedeutet: »etwas aus der Ferne betrachten«…Er bezeichnet also eine Stelle, von der aus man weit in die Ferne sehen kann.
Im Moment macht das neue Layout der FAZ mächtig Furore. Kommentare werden nun nicht mehr in Fraktur überschrieben und es gibt jetzt wohl täglich ein buntes Bild auf der Titelseite. Dies wiederum führt in anderen Zeitungen zu Kommentaren (und gelegentlich Häme) über den neuen Weg der FAZ. Und vielleicht entdeckt der geneigte Leser ja nach »Original und Fälschung«-Manier noch andere Kleinigkeiten.
Jens Jessen befand diese äusserlichen Änderungen vor einigen Wochen schon als »Normalisierung nach unten«. Er meinte dabei das Niveau und seine Befürchtungen klangen sogar echt. Und irgendwie glauben wir doch alle, dass eine Lockerung des äusseren Erscheinungsbilds auch immer mit einer Lockerung der Sitten zu tun hat; hier: der Qualität.
Es gibt nun einen sehr schönen Vortrag von Gunther Nickel mit dem Titel Kein Einzelfall, abgedruckt im »Titel-Magazin«, der akribisch anhand dreier von der FAZ massgeblich geführten Kampagnen belegt, dass es auch mit Fraktur und ohne bunte Bildchen schon Elemente des Boulevardjournalismus gab, die höchst zweifelhafte Urteile gebar. Leser wurden, so Nickels Urteil, tendenziös informiert und insbesondere die Journalisten Frank Schirrmacher und Hubert Spiegel kümmerten sich nicht um elementare journalistische Sorgfaltspflichten.
Als die Kahlschlagliteraten der Gruppe 47 sich wohlfeil um Petitessen stritten oder an ihren Legenden strickten oder »Aufarbeitung« betrieben – da sass Walter Kempowski in Bautzen im Zuchthaus. Als er 1956 entlassen wurde, kümmerte er sich erst einmal um sein Privatleben. Ein ehemaliger Häftling aus der »Zone« hätte auch nicht besonders gut ins politische Konzept gepasst. Der Zweck der Gruppe 47 war rund zwanzig Jahre später erfüllt – das Spinnen eines literarischen Netzwerkes, dass bis heute noch anhält (sofern die beteiligten Personen noch leben). Kempowski kam zu spät und aus der falschen Richtung. Aber es bedarf wenig prophetischer Kraft anzunehmen, dass er sich unter den Selbstdarstellern dort nicht besonders wohlgefühlt hätte.
Der Stallgeruch fehlte
In seinen letzten Interviews sprach der todkranke Kempowski viel von seiner späten Anerkennung. Von der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Seine Augen blitzten, als damals alle Leute für ihn aufgestanden waren. Späte Genugtuung eines Schriftstellers, der wie kaum ein anderer die Kluft zwischen »Kritik« und »Publikum« widerspiegelte. Jahrelang verramschte die Kritik seine Bücher – auch noch, als »Tadellöser & Wolff« von Eberhard Fechner kongenial und wunderbar verfilmt wurde. Man rümpfte in bestimmten Kreisen die Nase, weil Kempowski keinen »Stallgeruch« hatte. Den Büchnerpreis hat er nie bekommen – ein Skandal! Seine Prosa war weder experimentell noch Betroffenheitskitsch und widersprach lange dem gesellschaftspolitischen Zeitgeist. Man hatte sich in einer Jugendzeit im Nationalsozialismus nicht irgendwie wohlzufühlen gehabt. Kempowski hat sich – glücklicherweise für die Literatur! – niemals diesen Imperativen gebeugt. Er war und blieb das, was man einen unabhängigen Geist nannte. Seine Flucht war nicht die in die Literatur, sondern – umgekehrt zu vielen anderen – die in den Schuldienst. Kempowski war aber kein Studienrat, der auch schrieb – er war ein Schriftsteller, der Lehrer war.
1990 wurde Kempowski in einer üblen Kampagne des Plagiats bezichtigt. Endlich nahm sich die Grosskritik seiner an – Hellmuth Karasek stellte die Fakten klar und entlastete Kempowski in einem fulminanten Artikel im »Spiegel«. Zu dieser Zeit steckte Kempowski in einem riesigen Projekt, dem »Echolot«. 1999 erschienen die ersten vier Bände dieses »Echolots«. Es sollten noch weitere acht Bände folgen.
»Der Gotteswahn« ist ein Missionierungsversuch, eine Kampfschrift wider alles und allem, was in irgendeiner Form mit Transzendenz in Verbindung gebracht werden kann. Der rationalistische Furor des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins ist eine Mischung zwischen krudem Weltverbesserungspathos, der Paranoia frommer Exorzisten, die überall nur noch Besessene sehen, die von ihrer Krankheit zu heilen sind und einem archaisch-jakobinischem Moralverständnis. Der monotheistischen Chauvinismus speziell des Christentums hat es ihm angetan (früh werden Konfuzianismus und Buddhismus ausgeklammert; sie werden flugs als ethische Systeme eingeordnet) und sein Bildersturm für einen radikalen Atheismus nimmt im Laufe des Buches wahrhaft kulturrevolutionärere Züge an (verflacht dann allerdings auf den letzten 50 Seiten).
Religion ist eine »psychiatrische Krankheit«
Es ist eigentlich ganz einfach. Zunächst einmal wird der Atheismus als tapferes, grossartiges Ziel ausgegeben. Dann verweigert Dawkins ausdrücklich und dezidiert den religiösen Gefühlen von Menschen seinen Respekt – vermutlich, um historische Ungerechtigkeiten ein für allemal auszugleichen (der bewusstseinserweiternde Feminismus der 68er ist da sein »Lehrmeister«). Eigentlich also ein Vorgehen, welches dem freimütig bekannten Zweck der Bekehrung zuwiderläuft, denn gemeinhin gewinnt man einen Menschen für eine Idee nicht dadurch, in dem man seine bisherigen Überzeugungen in den Dreck zieht. Nachdem dann Albert Einstein und – etwas später ‑Thomas Jefferson als Gesinnungsgenossen vereinnahmt wurden (bei Jefferson unterschlägt Dawkins allerdings dessen Bewunderung dem Neuen Testament gegenüber, welches in der sogenannten »Jefferson Bible« mündete) geht es dann los: Religion ist eine psychiatrische Krankheit, ein Virus, sie entsteht durch Fehlfunktionen einzelner Gehirnmodule; ihre Verfechter sind sehr viel dümmer als Atheisten (gläubige Katholiken haben – immer noch nach Dawkins – eine unterdurchschnittliche Intelligenz).
Ariane Breidenstein: Und nichts an mir ist freundlich
Ein Assoziationsrausch. Korallenbäume des Erzählens. Eine mitreissende Suada. Vielleicht ein Menetekel. Manchmal mit feiner Ironie und manchmal (wie die ganz frühe Jelinek) sprachspielerisch-kalauernd (Nahrung, Nehrung, Kurische). Und vor allem mit fast im wörtlichen Sinne wahnsinniger Sprache mit einer gleichzeitig anmutenden, anheimelnden Sprachmelodie; ein in den besten Szenen rhythmisch-poetisches Wutgedicht in Prosaform (die manchmal eigenwillige Kommasetzung will erst erlesen werden). Und dabei meilenweit von einer faulen Entrüstungsmetaphorik oder schalem Gewitzel entfernt. Ein Buch für die sprichwörtliche Insel – es verlangt nach mehrmaliger, intensiver Lektüre und jedes Mal erscheint ein neuer Aspekt, ein neues Detail, ein neuer Ton, der alles vorherige nicht konterkariert, sondern ergänzt und man wird und wird mit dem schmalen Büchlein so schnell nicht fertig.
Am Anfang begeht man vielleicht noch den Fehler, der Frau, der offensichtlich jedes soziale Verhalten fremd ist, einfach eine Krankheit anhängen zu wollen, nach ihr zu fahnden, zu diagnostizieren. Ihre Somnambulität einerseits und rastlose Unruhe andererseits; ihr animistisches Denken, ihre Betrachtungsversessenheit (wer hat jemals eine zermatsche Erdbeere am Boden so schön und metaphorisch geradezu zelebriert?), ihre Baumliebe, die in den Wunsch gipfelt, zu einem Baum zu werden (auch hier eine Bilderfülle), ihre Begeisterung für Jane Campions »Piano«. Man sammelt eine Zeit lang Indizien. So, als müsse man allem gleich einen Stempel aufdrücken, um es / um sie dann besser beherrschen zu können. Aber dann wird man glücklicherweise irgendwann endgültig verzaubert. Verzaubert und gebannt, hineingesogen in diese Wortkaskaden, in dieses wilde Getümmel, welches oft genug scheinbar unzusammenhängendes herbeiphantasiert und verbindet.
Die Demütigungen passierten immer unerwartet und wie nebenbei. Es waren ja nur Scherze, das Ganze war nicht so gemeint gewesen, der Betreffende – in diesem Falle ich – hatte es selbst durch seine Lügen, sein Selbstlob, sein »Eindruckschinden«, mit einem Wort: durch sein ganzes Wesen herausgefordert. Diejenigen, die sich im Quälen am meisten auszeichneten, stellte ...
Alice Schwarzer irrt, weil sie den letzten Satz nicht gelesen hat: In dem Artikel von Iris Radisch in der ZEIT über die neueste Anti-Pornographie-Kampagne der »Emma«-Herausgeberin dreht Radisch mehrere rhetorische Pirouetten, landet dann in den Armen des »Bild«-Girls – aber (und hier irrt Frau Schwarzer eben) sie stimmt ihr nicht zu: Die Kälte, die eine Durchsexualisierung der Gesellschaft zur Folge hat, lässt sich mit den alten Waffen des Geschlechterkampfes nicht mehr besiegen steht da. Heisst übersetzt: Frau Schwarzer, das schaffen wir auch ohne ihre antiquierten Methoden.