Mi­cha­el On­da­at­je: Di­vi­sade­ro

Michael Ondaatje: Divisadero

Mi­cha­el On­da­at­je: Di­vi­sade­ro

Ziem­lich ge­nau in der Mit­te er­fah­ren wir die un­ter­schied­li­chen Deu­tungs­mög­lich­kei­ten des Be­griffs Di­vi­sade­ro (und ganz am En­de er­fah­ren wir, wel­che Mu­sik die­sem Buch mehr oder we­ni­ger zu­grun­de liegt). Ei­ner­seits ist das ei­ne Stra­sse in San Fran­cis­co (ei­ne der Prot­ago­ni­stin­nen, An­na, wohn­te dort). An­de­rer­seits kann es auch vom spa­ni­schen di­vi­sión – Tei­lung, Tren­nung kom­men, denn frü­her ein­mal be­zeich­ne­te die­se Stra­sse die Gren­ze zwi­schen San Fran­cis­co und den Fel­dern von Pre­si­dio. Oder – und da kommt man der Sa­che ver­mut­lich ganz na­he – der Na­me lei­tet sich her von ‘di­vi­sar’, was be­deu­tet: »et­was aus der Fer­ne betrachten«…Er be­zeich­net al­so ei­ne Stel­le, von der aus man weit in die Fer­ne se­hen kann.


Die­ser (vir­tu­el­le) Aus­sichts­punkt ist der Ro­man. Mi­cha­el On­da­at­je er­mög­licht es, weit in die Fer­ne zu se­hen – wo­bei hier mei­stens Ver­gan­gen­heit ge­meint ist. Am An­fang glau­ben wir an ei­ne Va­ria­ti­on zwi­schen den »Walt­ons« und »Aus der Mit­te ent­springt ein Fluß« (auch wenn die zeit­li­che Ver­or­tung ei­ne an­de­re ist) und wir hö­ren schon die Gei­gen und Rolf Schults so­no­re Stim­me und sieht den un­nah­ba­ren, al­lein­er­zie­hen­den Va­ter (sei­ne Frau starb bei An­nas Ge­burt), der hier zwei Töch­ter hat, An­na und Clai­re (wo­bei Clai­re ei­ne Ad­op­tiv­toch­ter ist) und zu­sam­men mit Coo­per (»Coop«) ei­ne Farm be­treibt. Und wir er­le­ben in Zeit­raf­fer das Her­an­wach­sen der Mäd­chen und die sel­te­nen, in­ni­gen Mo­men­te mit dem Va­ter, wenn man ihn in dem Nie­mands­land zwi­schen Mü­dig­keit und Ein­schla­fen er­wisch­te, je­nem Däm­mer­zu­stand, wenn er auf der ka­rier­ten So­f­a­decke die Kon­trol­le ab­ge­ge­ben hat­te und sei­ne Töch­ter in bei­den Ar­men an sich ge­drückt hielt.

Coop, der Knecht auf der Farm, ist nur vier Jah­re äl­ter als die bei­den Mäd­chen, und es kommt, wie es kom­men muss: Sie him­meln ihn heim­lich an. Er ist ziem­lich ver­schlos­sen, geht in sei­ner frei­en Zeit nur sel­ten aus, ist ein biss­chen kau­zig, träumt vom Gold­su­chen in den Ber­gen, bringt Clai­re fast wie ne­ben­bei das Au­to­fah­ren bei – wie ein gro­sser Bru­der. Und dann er­liegt er An­nas Charme und sie be­gin­nen ein Ver­hält­nis; sie war 16 Jah­re alt, fast nichts. Ei­nes Ta­ges ent­deckt der Va­ter die bei­den in fla­gran­ti und es kommt zu ei­ner ent­setz­li­chen Schlä­ge­rei, die Coop fast das Le­ben ko­stet und die drei für im­mer aus­ein­an­der­treibt.

Coo­per wird Be­rufs­po­ker­spie­ler und wir be­kom­men ei­nen Ein­blick in die Welt der Po­ker­spie­ler, Kar­ten­zin­ker und Trick­ser. Und de­ren Me­lan­cho­lie. Coop will den ganz gro­ssen Coup lan­den – und schafft ihn auch. Und da­nach zer­streu­en sich die Spie­ler in al­le Rich­tun­gen. In­zwi­schen sind wir in den 90er Jah­ren.

An­na, in Frank­reich, küm­mert sich um die Wer­ke des (fik­ti­ven) fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers Lu­ci­en Se­gu­ra (es muss ei­ne Art For­schungs­auf­trag sein). Sie lernt den Stra­ssen­mu­si­ker Ra­fa­el ken­nen; es ent­wickelt sich ei­ne Lie­bes­be­zie­hung. Wäh­rend On­da­at­je in der ka­li­for­ni­schen Ge­schich­te zärt­li­che und schö­ne Mo­men­te ein­fängt und ihm manch­mal so­gar epi­sches Er­zäh­len ge­lingt, trieft jetzt ein biss­chen der Kitsch (Ra­fa­el ist mit 53 im Spät­som­mer sei­nes Le­bens, ist jetzt ver­waist, denn er hat­te bei­de schüt­zen­de Flü­gel [die El­tern] ver­lo­ren).

Ir­gend­wann sind wir wie­der bei Coo­per. Clai­re be­geg­net ihm zu­fäl­lig. Sie ar­bei­tet bei ei­nem Rechts­an­walt, re­cher­chiert für ihn in ei­ner frem­den Stadt und sie ver­ab­re­den sich. In Rück­blen­den er­fah­ren wir von Coo­pers neu­en, fri­schen Lie­be­lei mit Bridget (wirk­lich er­grei­fend, wie On­da­at­je die­ses Er­zäh­len der Lie­be der rausch­gift­süch­ti­gen Frau ge­lingt und Coop spä­ter fest­stellt, dass ei­gent­lich nicht sie die Süch­ti­ge ist, son­dern er – nach Lie­be). Aber auch die­se Lie­bes­ge­schich­te en­det un­glück­lich (wie ge­nau, soll nicht ver­ra­ten wer­den) und Coop wird aber­mals fast tot ge­prü­gelt, als er sich wei­gert, ei­nen Spie­ler für ei­ne ma­fia­ähn­li­che Grup­pe mit Falsch­spie­le­rei aus­zu­neh­men. Clai­re fin­det ihn blut­über­strömt, als sie ihn sucht, weil er ih­re Ver­ab­re­dung nicht ein­ge­hal­ten hat. Er über­lebt, hat aber das Ge­dächt­nis ver­lo­ren; er­in­nert sich an fast gar nichts mehr; er­kennt Clai­re nicht und nun zeigt Clai­re ihm all das, was er in der Kind­heit und Ju­gend ihr bei­gebracht hat. Und gleich­zei­tig be­ginnt der Irak­krieg 2003.

Und da ist die­se Ge­schich­te un­wie­der­bring­lich aus und es be­ginnt Lu­ci­en Se­gu­ras’. Lu­ci­en hat im Al­ter das Kind Ra­fa­el ge­trof­fen, der jetzt An­nas Lieb­ha­ber ist und die­se Be­geg­nung hat Ra­fa­el sein gan­zes Le­ben ge­prägt. Wir er­fah­ren nun von dem un­glück­li­chen Dich­ter Se­gu­ra, sei­nen Pro­ble­men mit sei­ner Frau, die sich ihm im­mer mehr ent­frem­det; sei­nen Töch­tern, die trotz Hei­rat Ver­hält­nis­se mit an­de­ren Män­nern ha­ben; dem Krieg und der Diph­the­rie und dem Kran­ken­la­ger; sei­ner le­bens­lan­gen Lie­be zur viel jün­ge­ren, an­dro­gy­nen Ma­rie-Nei­ge, die bis auf ein­mal im­mer nur Schwär­me­rei bleibt und sei­nen Ro­ma­nen, in der er sie – nach ih­rem Tod – als fik­ti­ve Fi­gur ver­ewigt.

On­da­at­je er­zäh­le nicht li­ne­ar, son­dern in Per­spek­tiv- und Er­zähl­wech­seln, Rück­blen­den und Rück­blen­den von Rück­blen­den. Lei­der ana­ly­siert er da­bei manch­mal ein biss­chen zu oft statt ein­fach nur zu er­zäh­len. Fast scheint er zu sehr in sei­ne Kon­struk­ti­on ver­liebt. Fi­gu­ren wer­den ent­wickelt – und we­nig spä­ter wie­der fal­len­ge­las­sen. Schö­ne, fast ly­ri­sche Mo­men­te wech­seln mit eher alt­backe­nem Er­zähl­duk­tus. On­da­at­je ver­wen­det schö­ne, ru­hi­ge Pa­stell­tö­ne, zum Bei­spiel bei der Schil­de­rung von Lu­ci­ens Lie­be zur bäu­er­li­chen Ma­rie-Nei­ge, der er das Le­sen bei­bringt. Aber er macht da­bei auch schon ein­mal ei­nen Schnör­kel zu­viel, et­wa wenn in­mit­ten gröss­ter se­xu­el­ler Hin­ga­be das sorg­lo­se Ge­zir­pe der Zi­ka­den das ein­zig ver­nehm­ba­re bleibt. Da scheint sich die ze­le­brier­te Schüch­tern­heit der Fi­gu­ren auf den Au­tor über­tra­gen zu ha­ben und das wirkt ein biss­chen par­fü­miert.

Dass die­ses Buch bei der Kri­tik gro­ssen Er­folg hat, ver­wun­dert zu­nächst. Viel­leicht liegt es aber dar­an, dass Kri­ti­ker ger­ne von lei­den­den Schrift­stel­lern und lei­den­den Lie­ben­den le­sen. Und durch das von On­da­at­je ge­wähl­te Er­zähl­ver­fah­ren wird ein ge­wis­ser An­spruch sug­ge­riert (oder doch eher si­mu­liert?), der die pro­fa­ne Schlicht­heit der Lie­bes­ge­schich­ten ver­deckt.

Aber Di­vi­sade­ro wirkt an­ge­strengt, fast über­am­bi­tio­niert in dem Fu­ror, et­was ganz be­son­ders künst­le­risch und/oder ge­spie­gelt aus­zu­drücken. Das wirkt ein biss­chen ar­ti­fi­zi­ell. Ein Buch kon­zi­piert für je­den und ein biss­chen auf die Wir­kung hin ge­schrie­ben – und da ist das Pro­blem: Al­le sol­len an­ge­spro­chen wer­den (und für das Bil­dungs­bür­ger­tum gibt es ein Nietz­sche-Zi­tat). Der Nach­teil die­ses Ver­fah­rens: Vie­le der schö­nen Bil­der wer­den noch er­klärt – da­mit es der Letz­te be­greift, was ge­meint ist. Da­bei wer­den sie je­doch lei­der ent­wer­tet, zum Bei­spiel wenn die Ver­sehrt­heit der Fi­gu­ren auch noch durch kör­per­li­che De­fek­te un­ter­stri­chen wird. Als müs­se das sein. War­um ver­traut On­da­at­je nicht sei­nem Er­zäh­len, lässt ihm frei­en Lauf, statt im­mer mehr in Epi­so­den zu ver­fal­len, die schon jetzt Film­schnit­ten glei­chen?

Ein In­ter­es­se für die Fi­gur des Lu­ci­en, die­ses lan­ge glück- und lieb­lo­sen Schrift­stel­lers, der erst am En­de zu schrift­stel­le­ri­schem Er­folg fin­det – al­ler­dings mit eher tri­via­lem (die Ge­dich­te schätz­ten nur die Ein­ge­weih­ten) -, der zur Licht­ge­stalt Ra­fa­els wird (war­um ei­gent­lich?) oder für die zu­rück­hal­ten­de Ma­rie-Nei­ge – die­ses In­ter­es­se wird nicht be­son­ders be­feu­ert; man liest es selt­sam kalt und fast ein biss­chen gleich­gül­tig, wenn sich der nost­al­gi­sche Schwer­mut, der in gro­ssen Let­tern auf­ge­bo­ten wird, nicht ein­stellt. Ger­ne wä­re man noch bei Coop und Clai­re ge­blie­ben. Hier trifft On­da­at­je den Ton bes­ser als in der Ima­gi­na­ti­on des Er­sten Welt­kriegs, aber der Au­tor hat­te es an­ders vor (Li­te­ra­tur ist kein Wunsch­kon­zert).

Der Fa­den, der Lu­ci­ens Le­bens- und Lie­bes­ge­schich­te mit der ame­ri­ka­ni­schen Ju­gend in der ka­li­for­ni­schen Pro­vinz mit­ein­an­der ver­bin­det, ist zwar sicht­bar, aber sehr dünn. Viel­leicht hängt aber On­da­at­je der Theo­rie des »Klei­ne-Welt-Phä­no­mens« von Stuart Mil­gram an und woll­te ein li­te­ra­ri­sches Bei­spiel hier­für ge­ben. Aber die Klam­mer wirkt arg be­müht, fast er­mü­det der Le­ser bei der Re­kon­struk­ti­on – nicht, weil die­se zu schwie­rig ist, son­dern zu do­mi­nant.


Epi­log zum Pro­log: Wie­so muss man ei­gent­lich vor dem Ro­man noch ei­ne Art Werks­in­ter­pre­ta­ti­on ab­lie­fern mit Re­kurs auf On­da­at­jes Bio­gra­phie und – na­tür­lich! – auf sei­nen Welt­best­sel­ler, den »Eng­li­schen Pa­ti­en­ten«? War­um kann man das vor­lie­gen­de Buch nicht aus sich selbst wir­ken las­sen, son­dern klebt ihm schon vor­ab ein Eti­kett und – was noch schlim­mer ist – ei­ne be­stimm­te Les­art auf? War­um sol­che warm-ups, die bis­her nur für be­stimm­te Fern­seh­sen­dun­gen vor­ge­se­hen sind, jetzt auch bei ei­nem Buch?

An­mer­kung: Der Fu­ror zum »Epi­log zum Pro­log« war über­eilt und mei­ner Nai­vi­tät ge­schul­det. Man wies mich dar­auf hin, dass es sich bei mei­nem Ex­em­plar des Bu­ches um ein so­ge­nann­tes Vor­ab-Pres­se­ex­em­plar ge­han­delt hat. Da hat man dann die­sen Text noch als Ein­lei­tung ab­ge­druckt. Wer’s braucht...

Aus Grün­den der Do­ku­men­ta­ti­on bleibt die vor­ei­li­ge Er­re­gung ste­hen; um es ein biss­chen ab­zu­set­zen, wur­de al­ler­dings die Schrift­grö­sse ver­än­dert.