Ich ha­be Gün­ter Grass ge­se­hen

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 1

Letz­tes Jahr ha­be ich Gün­ter Grass ge­se­hen, als ich am Pa­ri­ser Platz mit der Rik­scha auf Kund­schaft war­te­te. In Cord­samt ge­klei­det und Pfei­fe rau­chend kam Grass aus der Aka­de­mie der Kün­ste, ging in Rich­tung Un­ter den Lin­den und war da­bei mit ei­nem an­de­ren Herrn tief in ein Ge­spräch in­vol­viert. Grass ging sehr lang­sam, die gei­sti­ge An­stren­gung zwang ihn, hin und wie­der ste­hen zu blei­ben. Wäh­rend sein Ge­sprächs­part­ner an sei­nen Lip­pen hing, hin­gen Grass’ Schul­tern nach un­ten her­ab. Ich er­wog, Grass an­zu­spre­chen: »Herr Grass, darf ich Sie bit­ten, ge­wäh­ren Sie mir die Eh­re, Sie ein Stück des Wegs mit der Rik­scha zu fah­ren?« Grass hät­te dann in ei­ner sol­chen Rik­scha ge­ses­sen, wie sie in der Ver­fil­mung sei­ner Er­zäh­lung »Un­ken­ru­fe« zum Ein­satz ge­kom­men ist, und ich hät­te al­le mei­ne Kol­le­gen in un­se­rem in­ter­nen Pro­mi-Fahr­gast-Wett­be­werb haus­hoch aus­ge­sto­chen. Al­ler­dings wä­ren kon­tro­ver­se Dis­kus­sio­nen mög­lich ge­we­sen an­ge­sichts solch pro­mi­nen­ter Fahr­gä­ste wie ... und ge­ra­de, als ich dies dach­te, blieb Grass, der nun ge­nau auf mei­ner Hö­he war, aber­mals ste­hen. Wei­ter­le­sen

Zwi­schen Nicht­be­ach­tung und Hel­den­tum: Der Sol­dat und die (eu­ro­päi­sche) De­mo­kra­tie

Den Wan­del des Sol­da­ten­bil­des in­ner­halb der eu­ro­päi­schen Ge­schich­te (in­klu­si­ve ei­nes bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Schwer­punkts) hat Clau­de Haas in der letz­ten Aus­ga­be der Zeit er­hel­lend dar­ge­legt. Und dort wo er ge­en­det hat, gilt es wei­ter zu ge­hen. Man muss sei­ne Be­trach­tung, die et­was ab­rupt schließt, und we­sent­li­che Fra­gen auf­wirft, fort­spin­nen, und er­wei­tern, ge­ne­ra­li­sie­ren: Wie ist das sol­da­ti­sche „Hand­werk“, die­ser Be­ruf in Zei­ten ei­nes weit­ge­hend ge­ein­ten Eu­ro­pa, jen­seits ein­deu­ti­ger Be­dro­hungs- und Kon­flikt­sze­na­ri­en, zu be­ur­tei­len? Wol­len wir es be­ur­tei­len? Wir, d.h. die Po­li­tik muss es, soll­te es. Die Fra­ge war­um man am Hin­du­kusch steht, be­nö­tigt ei­ne kla­re Ant­wort. Man ist sie den Hin­ter­blie­be­nen schul­dig, und dem Bür­ger.

Krie­ge füh­ren, für den Frie­den (Pop­per). Ge­hen wir da­von aus, dass es ge­rech­te Krie­ge gibt, las­sen wir Ver­tei­di­gungs­sze­na­ri­en und die Ab­wehr von Ag­gres­si­on au­ßen vor, und eben­so Krie­ge als blo­ße Fort­füh­rung, als Mit­tel der Po­li­tik, der Macht. Wel­che Auf­ga­ben ha­ben Sol­da­ten dann zu er­le­di­gen, wel­che ge­rech­ten Krie­ge aus­zu­fech­ten, wenn wir da­von aus­ge­hen, dass sie da­für in ih­rer Hei­mat nicht be­nö­tigt wer­den? Wei­ter­le­sen

Al­bert Ca­mus: Hoch­zeit des Lichts

Albert Camus: Hochzeit des Lichts

Al­bert Ca­mus: Hoch­zeit des Lichts

Das vom Ar­che-Ver­lag jüngst her­aus­ge­brach­te Buch »Hoch­zeit des Lichts« von Al­bert Ca­mus um­fasst ge­nau­ge­nom­men zwei Bü­cher. Zum ei­nen vier Er­zäh­lun­gen, die 1938 in Frank­reich un­ter dem Ti­tel »Noces« (»Hoch­zeit«; in Deutsch­land erst­mals 1954 un­ter »Hoch­zeit des Lichts«) er­schie­nen. Sie ent­stan­den, wie der Ver­lag in ei­ner edi­to­ri­schen No­tiz er­klärt, in den Jah­ren 1936–1937. Ca­mus war da­mals al­so un­ge­fähr 23 Jah­re alt. Zum an­de­ren gibt es acht Er­zäh­lun­gen, die 1954 in Frank­reich un­ter dem Ti­tel »L’é­té« (»Som­mer«) er­schie­nen wa­ren und zwi­schen 1939 und 1953 ent­stan­den. Der deut­sche Ti­tel lau­tet »Heim­kehr nach Ti­pa­sa«. Die deut­schen Über­set­zun­gen der bei­den Bü­cher von 1954 und 1957 wur­den für die­ses Buch teil­wei­se über­ar­bei­tet.

Es ist nun mehr als ein Faux­pas, wenn der Ver­lag so­wohl im Klap­pen­text als auch in der Pres­se­mit­tei­lung schreibt, dass al­le »in die­sem Band ver­sam­mel­ten Tex­te« zwi­schen 1936 und 1938 »erst­mals er­schie­nen« sei­en. Die hier ab­ge­druck­ten Er­zäh­lun­gen, die mit der Zeit es­say­isti­scher und phi­lo­so­phi­scher wer­den (Ca­mus hät­te letz­te­res viel­leicht be­strit­ten), sind, wie oben aus­ge­führt, kei­nes­falls die­ser eng um­ris­se­nen Zeit­span­ne zu­zu­ord­nen. Wei­ter­le­sen

Jo­sef W. Jan­ker

1998 las ich Jo­sef W. Jan­kers »Zwi­schen zwei Feu­ern«. Der Ro­man hat kei­nen ein­zel­nen Haupt­prot­ago­ni­sten, son­dern meh­re­re. Ge­schil­dert wer­den Er­eig­nis­se des Zwei­ten Welt­kriegs in Russ­land bis un­ge­fähr An­fang 1945. Wie al­le Ro­ma­ne die­ses Gen­res er­zählt der Au­tor zu­nächst von den be­kann­ten Ge­ge­ben­hei­ten: der Käl­te, dem stumpf­sin­ni­gen Wa­che­schie­ben, dem ewi­gen »Auf-der-Hut-Sein«, usw.

Es ist dann die La­ko­nie des Er­zäh­lens, das Sprö­de, fast Weg­ge­wor­fe­ne was die­ses Buch im Ton­fall von vie­len an­de­ren so un­ter­schei­det und mit der Zeit ei­ne ganz ei­gen­tüm­li­che Span­nung er­zeugt. We­der Jün­ger­sches Pa­thos noch lar­moy­an­tes Weh­kla­gen: Jan­kers’ Sol­da­ten re­flek­tie­ren ihr Ge­sche­hen bzw. re­flek­tie­ren ihr Ge­gen­über. Die Ver­wir­rung des sich um sie her­um Er­eig­nen­den zieht sie mehr und mehr in ei­ne Ge­dan­ken­flucht. Das Ver­ro­hen­de die­ses (wie­so nur die­ses?) Krie­ges zeigt sich nicht nur im Mas­sa­krie­ren der Geg­ner, son­dern auch in der Hin­ga­be an glück­li­che Mo­men­te der Ver­gan­gen­heit oder an wie auch im­mer ge­ar­te­ten Vi­sio­nen für ei­ne Zu­kunft. Oh­ne das ist die­se Welt für sie nicht er­träg­lich – mit die­sen Traum­bil­dern je­doch wird es ge­fähr­lich: man wird nach­läs­sig, som­nam­bul und fällt ent­we­der der ei­ge­nen Un­auf­merk­sam­keit in ei­ner Übung mit Mi­nen zum Op­fer oder den Hecken­schüt­zen der Ro­ten Ar­mee.

Das Ent­kom­men – es ist im­mer nur für den Au­gen­blick. Den Sol­da­ten bleibt we­nig ver­bor­gen: Sie »rei­ni­gen« Dör­fer (»Kri­mi­nel­le im Schafs­pelz des Sol­da­ten« nen­nen sie sich), sie rie­chen den Qualm von Kar­tof­fel­feu­ern bei Treb­linka – aber sie wis­sen, das kön­nen kei­ne Kar­tof­fel­feu­er sein. Sie ma­chen Zwi­schen­sta­ti­on in ei­nem an­de­ren Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und schei­nen ei­nen Au­gen­blick kaum bes­ser ge­stellt als die Häft­lin­ge – aber sie kom­men wie­der hin­aus. Kein Platz für My­then – spä­te­stens von die­sem Au­gen­blick an nicht mehr und nie mehr.

Der ver­hin­der­te Dich­ter kre­piert ge­nau­so wie der mot­zi­ge Fah­nen­jun­ker oder der Me­tall­klau­er, der die Mi­nen gleich mit­nimmt. Es gibt am En­de nur ei­nen, der in ei­nem Wag­gon in ein un­be­kann­tes Ziel fährt, den »der Tod ver­schmä­hen« wird. Zwi­schen zwei Feu­ern sind sie al­le: Ei­ner­seits der (oft un­sicht­ba­re) »Feind«, an­de­rer­seits die »flat­tern­den Bil­der«. Ei­ne Ver­söh­nung kann es nicht ge­ben. Jan­kers Ton ist der des aukt­oria­len Er­zäh­lers; manch­mal des aukt­oria­len Zy­ni­kers. Dies ver­hin­dert ei­ne fal­sche, un­ge­woll­te Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den Prot­ago­ni­sten – und zwar in bei­de Rich­tun­gen. Pe­ter Hand­ke nann­te Jan­ker zu­tref­fend ei­nen »Kriegs­ver­fan­ge­nen«. In dem er je­doch die Sol­da­ten als re­flek­tie­ren­de Men­schen zeigt, ent­rückt er sie vom Sockel der blo­ßen Be­fehls­emp­fän­ger­schaft. Sie sind mün­di­ge Sub­jek­te, die (un­heil­bar) ver­strickt ist. Und es gibt kei­ne Hoff­nung, weil nie­mand wird die­sen Krieg so über­ste­hen wird, wie er ihn be­gon­nen hat.

Die Kri­tik woll­te das nicht le­sen; sie woll­te es vor al­lem nicht so le­sen. Sie igno­rier­te Jan­ker, der dann doch noch En­de der 90er Jah­re noch ein­mal kurz wie­der­ent­deckt wur­de und 1999 den Her­mann-Lenz-Preis er­hielt. Am 17. April 2010 ist Jo­sef W. Jan­ker im Al­ter von 87 Jah­ren ge­stor­ben. Es ist be­zeich­nend, dass die Such­ma­schi­nen nur ei­nen klei­nen Ar­ti­kel des öster­rei­chi­schen »Stan­dard« zu des­sen Tod fin­det. Deutsch­land tut sich eben im­mer noch schwer mit sei­nen Dich­tern.

Ni­co­lai Li­lin: Si­bi­ri­sche Er­zie­hung

»Bar­fuß« heißt ei­gent­lich Ni­co­lai. Je­der hat ei­nen sol­chen Kampf­na­men, ob nun »Igel«, »Mel«, »Tai­ga«, »Pflau­me«, »Ga­ga­rin« oder »Ne­bel«. Sie sind Si­bi­rer heißt es ein biss­chen pau­schal und gleich­zei­tig ge­heim­nis­voll und Mit­glie­der in ei­ner star­ken Welt. Sie ge­hö­ren zu den Ur­ki. Man hält das an­fangs für ei­nen in­di­ge­nen Stamm, aber »Ur­ki« ist ei­gent­lich nur ein Syn­onym für »Ga­no­ve«. Sie le­ben in Trans­ni­stri­en, weil ih­re Vor­fah­ren vor dem Kom­mu­nis­mus flie­hen muss­ten oder ge­flo­hen sind, wes­halb sie sich als po­li­ti­sche Wi­der­ständ­ler ge­rie­ren, denn sie wa­ren ge­gen den kom­mu­ni­sti­schen Staat. Aber sie sind ge­gen je­den Staat, denn kei­ne po­li­ti­sche Macht, un­ter wel­cher Flag­ge auch im­mer, ist so viel wert wie die na­tür­li­che Frei­heit ei­ner ein­zi­gen Per­son. Ein flam­men­des Plä­doy­er für die Frei­heit – und kei­nes ei­ner pseu­do-li­be­ra­len Par­tei. Hier ist ei­ne an­de­re Frei­heit ge­meint. Es ist ei­ne an­ar­chi­stisch-per­ver­tier­te Form ei­nes Frei­heits­be­griffs von Ver­bre­chern, die sich auch so be­zeich­nen und stolz sind, an­stän­di­ge Kri­mi­nel­le zu sein.

Kri­mi­nel­le mit ei­nem kom­pli­zier­ten und bis ins letz­te De­tail aus­ge­feil­ten Verhaltens‑, Eh­ren- und Sank­ti­ons­co­dex; nicht un­ähn­lich dem al­ba­ni­schen Ka­nun. Ni­co­lai Li­lin be­schreibt in sei­nem Buch »Si­bi­ri­sche Er­zie­hung« Auf­wach­sen und Er­zie­hung als Kri­mi­nel­ler und ver­schafft ei­nen um­fas­sen­den Ein­blick in Den­ken, Han­deln und Le­ben die­ser Men­schen, die Po­li­zi­sten Kö­ter nen­nen und nicht ein­mal mit ih­nen re­den. Sie, die Ver­wei­ge­rer jeg­li­cher Re­geln ei­ner Staats­ge­walt, ak­zep­tie­ren nur ih­re al­ten, über­lie­fer­ten Hand­lungs­ma­xi­me, die sie mit ei­nem Ge­rech­tig­keits­ge­ruch ver­se­hen, das un­ter Um­stän­den auch für vie­le Des­il­lu­sio­nier­te enorm at­trak­tiv ist.
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An­dre­as Mai­er: On­kel J.

Andreas Maier: Onkel J.

An­dre­as Mai­er: On­kel J.

In den letz­ten Jah­ren ha­be ich viel­leicht zwei oder drei Aus­ga­ben der Li­te­ra­tur­zeit­schrift »Voll­text« ge­kauft. Ein­mal weiß ich es ganz ge­nau, weil dort Al­ban Ni­ko­lai Herbsts Ro­man »Mee­re« ab­ge­druckt war. Tat­säch­lich der gan­ze Ro­man. Voll­text eben. Die an­de­ren Ma­le weiß ich die Kauf­grün­de nicht mehr. Die Aus­ga­be mit »Mee­re« hat­te ich nach der Lek­tü­re kur­ze Zeit spä­ter ei­ner Freun­din ge­schickt. Die an­de­ren Aus­gaben fin­de ich nicht mehr, was ei­gent­lich un­ge­wöhn­lich ist, da ich ei­gent­lich so schnell nichts weg­wer­fe. Neu­lich ha­be ich so­gar noch zwei Aus­ga­ben von »Li­te­ra­tu­ren« ge­fun­den, die drei, vier Jah­re alt wa­ren.

Da ich nun of­fen­sicht­lich so ober­fläch­lich die we­ni­gen Aus­ga­ben von »Voll­text« ge­le­sen ha­be, ist mir ent­gan­gen, dass dort An­dre­as Mai­er Kolum­nen ge­schrie­ben hat. Viel­leicht schreibt er dort noch im­mer Ko­lum­nen. Je­den­falls sind nun drei­und­zwan­zig Ko­lum­nen, die An­dre­as Mai­er von 2005 bis 2010 in »Voll­text« ge­schrie­ben hat, in ei­nem Büch­lein er­schie­nen. Es heißt »On­kel J.« und im Un­ter­ti­tel »Hei­mat­kun­de«. Es ist sehr schön, dass die­se Ko­lum­nen jetzt zusammen­gefasst er­schie­nen sind.
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Schrift­stel­ler und Werk

Ein Schrift­stel­ler schreibt zum gro­ßen Teil, da­mit man ihn liest (be­wun­dern wir je­ne, die das Ge­gen­teil be­haup­ten, aber glau­ben wir ih­nen nicht). Doch mehr und mehr schreibt er bei uns, um je­ne Wei­he zu er­rei­chen, die dar­in be­steht, nicht ge­le­sen zu wer­den. Von dem Au­gen­blick an näm­lich, wo er den Stoff für ei­nen pit­to­res­ken Ar­ti­kel in un­se­rer Pres­se mit gro­ßer Auf­la­ge lie­fern kann, hat er al­le Aus­sich­ten, von ei­ner gro­ßen An­zahl von Leu­ten ge­kannt zu wer­den, die ihn nie mehr le­sen, weil sie sich da­mit be­gnü­gen wer­den, sei­nen Na­men zu ken­nen und über ihn zu le­sen. Er wird in Zu­kunft be­kannt (und ver­ges­sen sein), nicht, wie er ist, son­dern nach dem Bild, das ein ei­li­ger Pres­se­jour­na­list von ihm ent­wor­fen hat.

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