Hin­rich von Haa­ren: Die Über­leb­ten

Hinrich von Haaren: Die Überlebten

Hin­rich von Haa­ren: Die Über­leb­ten

Drei län­ge­re Er­zäh­lun­gen legt der 1964 ge­bo­re­ne Hin­rich von Haa­ren in sei­nem Pro­sa­de­but vor. Die Er­zäh­lun­gen sind ent­ge­gen dem gän­gi­gen Zeit­ge­schmack nicht mit­ein­an­der ver­knüpft und von­ein­an­der un­ab­hän­gig. Und den­noch ent­steht am En­de nicht zu­letzt durch den Ti­tel »Die Über­leb­ten« ei­ne Klam­mer, die die so schein­bar dis­pa­ra­ten Ge­schich­ten un­ter ei­nem ge­mein­sa­men Leit­mo­tiv stellt.

»Auf ei­nem dunk­len See« spielt un­ter ei­ner Tou­ri­sten­grup­pe in Ägyp­ten. Die Prot­ago­ni­sten, mehr­heit­lich aus an­gel­säch­si­schen Län­dern stam­mend, wer­den frag­men­ta­risch skiz­ziert. Zu­nächst er­scheint al­les harm­los: Da stür­zen sich ei­ni­ge West­ler in den ganz nor­ma­len Ägyp­ten-Rund­rei­se-Wahn­sinn in­klu­si­ve Fahrt auf halblu­xu­riö­sem Schiff auf dem Nil. Plötz­lich stirbt ei­ne Rei­sen­de und die Grup­pe wird nun ge­zeigt, wie sie zwi­schen »busi­ness as usu­al«, Ex­al­tiert­heit und Trau­er­be­wäl­ti­gung (Hil­fe für den Ehe­mann) la­viert. Wei­ter­le­sen

Der Mes­si­as der Mit­tel­schicht

Ge­dan­ken zu Thi­lo Sar­ra­zins Buch »Deutsch­land schafft sich ab« und die Dis­kus­si­on hier­über

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab

Thi­lo Sar­ra­zin:
Deutsch­land schafft sich ab

I. Pro­log

Auf dem Hö­he­punkt der Wirt­schafts­kri­se, als der Steu­er­zah­ler (und nur der!) von der po­li­ti­schen Klas­se, die den Staat re­prä­sen­tiert, zum Bür­gen für des­sen selbst­ge­mach­te und selbst­ge­dul­de­te Feh­ler her­an­ge­zo­gen wur­de, ent­warf der Phi­lo­soph Pe­ter Slo­ter­di­jk in ei­nem sehr kon­tro­vers dis­ku­tier­ten Ar­ti­kel ei­ne Ge­gen­welt: »Die ein­zi­ge Macht, die der Plün­de­rung der Zu­kunft Wi­der­stand lei­sten könn­te, hät­te ei­ne so­zi­al­psy­cho­lo­gi­sche Neu­erfin­dung der ‘Ge­sell­schaft’ zur Vor­aus­set­zung. Sie wä­re nicht we­ni­ger als ei­ne Re­vo­lu­ti­on der ge­ben­den Hand.« Ei­ne Ge­sell­schaft, in der fast aus­schließ­lich der flucht­un­fä­hi­ge Ein­kom­men­steu­er­zah­ler den Staat und da­mit des­sen Aus­ga­ben er­wirt­schaf­tet, wäh­rend die Ka­ste der Ex­trem­ver­die­ner sich mit Hil­fe der Po­li­tik längst aus der so­li­da­ri­schen Ver­ant­wor­tung ent­fernt hat und die Un­ter­schicht zu Trans­fer­emp­fän­gern ent­mün­digt wer­den, be­schreibt Slo­ter­di­jk mit dra­sti­schen Wor­ten: »So ist aus der selbsti­schen und di­rek­ten Aus­beu­tung feu­da­ler Zei­ten in der Mo­der­ne ei­ne bei­na­he selbst­lo­se, recht­lich ge­zü­gel­te Staats-Klep­to­kra­tie ge­wor­den. Ein mo­der­ner Fi­nanz­mi­ni­ster ist ein Ro­bin Hood, der den Eid auf die Ver­fas­sung ge­lei­stet hat. Das Neh­men mit gu­tem Ge­wis­sen, das die öf­fent­li­che Hand be­zeich­net, recht­fer­tigt sich, ide­al­ty­pisch wie prag­ma­tisch, durch sei­ne un­ver­kenn­ba­re Nütz­lich­keit für den so­zia­len Frie­den – um von den üb­ri­gen Lei­stun­gen des neh­mend-ge­ben­den Staats nicht zu re­den.« Wei­ter­le­sen

Das Ge­stern im Heu­te

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 5

Es war En­de Sep­tem­ber 2003 und nass­kal­tes Wet­ter, als mich am Dom ein al­ter, vor­neh­mer Herr an­sprach. Der al­te Herr war groß, hielt sich auf­recht und hat­te ei­nen jun­gen Herrn bei sich, näm­lich sei­nen En­kel­sohn. Beim Ein­stei­gen tat er sich furcht­bar schwer, dul­de­te aber kei­ner­lei Hil­fe­stel­lung, son­dern be­zwang sei­ne Kno­chen mit ei­ser­nem Wil­len. Er sei sehr lan­ge nicht in Ber­lin ge­we­sen, sag­te er, und wol­le nun die Or­te von da­mals auf­su­chen, und ich frag­te: »Wann wa­ren Sie denn zum letz­ten Mal hier?« Be­vor er ant­wor­te­te, ließ er sei­ne Au­gen über Schloß­brücke, Kom­man­dan­tur und Zeug­haus glei­ten wie über Ei­gen­tum: »58 Jah­re ist es her, auf den Tag vor 58 Jah­ren und zwei Mo­na­ten bin ich nach Ar­gen­ti­ni­en emi­griert und seit dem nicht mehr in Deutsch­land ge­we­sen.« Ich sah die­sen al­ten Her­ren vor mei­nem in­ne­ren Au­ge als ei­nen jun­gen im Lie­ge­stuhl auf dem Deck ei­nes Schiffs, hin­ter sich Eu­ro­pa in Trüm­mern, wo in Deutsch­land die Vor­be­rei­tun­gen für die Nürn­ber­ger Pro­zes­se auf Hoch­tou­ren lie­fen, vor sich Ar­gen­ti­ni­en, wo ihn sehr gu­te Kon­tak­te er­war­te­ten, in den Ta­schen ein­wand­freie, von der ka­tho­li­schen Kir­che und dem Ro­ten Kreuz aus­ge­stell­te Pa­pie­re, woll­te es aber nicht glau­ben und fuhr wie ge­hei­ßen zu­nächst zum Wer­der­schen Markt hin­über und dann ei­nen süd­lich aus­ho­len­den Bo­gen zum Pots­da­mer Platz.
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FAZ-Rhe­to­rik

FAZ-Rhe­to­rik* halt: Die »neue« Hand­ke-Bio­gra­phie »ent­hüllt« (gibt es auch ei­ne al­te, die es ver­schwie­gen hat?), dass Hand­ke »heim­lich« bei R. K. war, als die­ser be­reits per Haft­be­fehl ge­sucht war. Kein Wort da­von, dass die IFOR R. K. nicht ver­folg­te und sich die­ser noch im Fe­bru­ar 1997 zu Wort mel­de­te­te und dro­hen konn­te.

Es fehlt na­tür­lich auch nicht der Hin­weis auf die »pro­ser­bi­schen« Äu­sse­run­gen Hand­kes und die »um­strit­te­ne« Grab­re­de (es wa­ren, wie in der Bio­gra­phie auch er­wähnt wird, üb­ri­gens zwei). Dem On­line-Ar­ti­kel der FAZ ist ein Bild von Hand­kes An­we­sen­heit bei der Be­er­di­gung Mi­loše­vićs bei­gefügt. Es trägt den Un­ter­ti­tel »In en­gem Kon­takt.« Mit wem? Mit ei­nem To­ten? Oder gar mit dem da­mals schon über neun Jah­re un­ter­ge­tauch­ten Ka­ra­džić? Wei­ter­le­sen

Bern­hard Ju­dex: Tho­mas Bern­hard. Epo­che – Werk – Wir­kung

Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche – Werk - Wirkung

Bern­hard Ju­dex: Tho­mas Bern­hard. Epo­che – Werk – Wir­kung

2011 ist Tho­mas-Bern­hard-Ju­bi­lä­ums­jahr. Ei­ne Flut von Auf­sät­zen und Bü­chern dürf­te zum 80. Ge­burts­tag ins Haus ste­hen. Da ist es gut, im Vor­feld Bern­hard Ju­dex’ Buch über Werk und Wir­kung des öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lers ge­le­sen zu ha­ben. Das Buch ist in fünf Ka­pi­tel un­ter­teilt, die Schwer­punk­te set­zen und ex­em­pla­risch für Bern­hards Le­ben (Ka­pi­tel 1) und Werk (Ka­pi­tel 2–5) ste­hen sol­len. In der Werk­be­trach­tung bleibt Ju­dex chro­no­lo­gisch, was sich bei Bern­hard, der ge­wis­sen Ent­wick­lun­gen un­ter­wor­fen ist, durch­aus an­bie­tet. Zu­nächst wird die (sehr frü­he) Ly­rik , dann die Ro­ma­ne »Frost« und »Kor­rek­tur« so­wie die Er­zäh­lun­gen »Die Müt­ze« und »Der Kul­te­rer« re­prä­sen­ta­tiv für die Schaf­fens­pe­ri­ode bis 1975 be­han­delt. Von den Thea­ter­stücken wid­met sich Ju­dex dem Erst­ling »Der Igno­rant und der Wahn­sin­ni­ge« und dem nach »Hel­den­platz« wohl be­kann­te­sten Stück »Der Thea­ter­ma­cher« ein­ge­hend. Voll­kom­men zu recht räumt er dann im vier­ten Ka­pi­tel den au­to­bio­gra­fi­schen Er­zäh­lun­gen »Die Ur­sa­che«, »Der Kel­ler«, »Der Atem«, »Die Käl­te« und »Das Kind« (er­schie­nen von 1975–82) den ent­spre­chen­den Raum ein. Für das Spät­werk wer­den dann »Die Aus­lö­schung« und das Skan­da­lon »Hel­den­platz« un­ter­sucht.
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Po­li­ti­ker (schon wie­der aus ak­tu­el­lem An­lass)

Die Po­li­ti­ker, die ich bis jetzt er­lebt ha­be (in Fleisch und Blut) er­schie­nen mir fleisch­los und blut­leer, im Brust­ton ge­spiel­ter Über­zeu­gung quä­ken­de Pup­pen; in im­mer­wäh­ren­der, ge­sti­ku­lie­ren­der, lip­pen­be­we­gen­der Kom­mu­ni­ka­ti­on be­fan­gen wie De­bi­le, der Mund und die Au­gen vom per­ma­nen­ten Vor­täu­schen von Auf­merk­sam­keit für im­mer zu schie­fen Par­al­le­lo­gram­men ver­krüp­pelt, von Leib­wäch­tern grun­diert, de­ren stumpflau­ern­de Teil­nahms­lo­sig­keit eher an Ir­ren­wär­ter den­ken ließ, wäh­rend die von ih­nen Be­auf­sich­tig­ten wei­ter­hin der fre­chen Be­teue­rung ih­rer wohl­wol­len­den Of­fen­heit nach­ka­men, vom Selbst­mord so un­end­lich weit ent­fernt wie vom Le­ben


Pe­ter Hand­ke: Das Ge­wicht der Welt. Ein Jour­nal. – 1977, S. 256/57, Suhr­kamp-Ver­lag



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An­dre­as Mai­er: Das Zim­mer

Andreas Maier: Das Zimmer

An­dre­as Mai­er: Das Zim­mer

Spä­te­stens in den Ko­lum­nen, die An­dre­as Mai­er für »Voll­text« ge­schrie­ben hat­te und die im Früh­jahr ge­sam­melt un­ter dem Ti­tel »On­kel J.« er­schie­nen wa­ren, konn­te man den »Hei­mat­dich­ter« Mai­er in der Tra­di­ti­on ei­nes Her­mann Lenz, Pe­ter Kurz­eck oder Ar­nold Stad­ler ent­decken. Mai­er als der Dich­ter der Wet­ter­au, die in­zwi­schen nur noch aus Orts­um­ge­hungs­stra­ßen zu be­stehen scheint (da­ge­gen hat­te of­fen­sicht­lich nie je­mand de­mon­striert und auch das Fäl­len der Bäu­me er­reg­te kei­ne Ge­mü­ter). Da­bei war der ele­gi­sche Ab­ge­sang auf die Wet­ter­au (und den Wichs­busch!), poin­tiert und fast ein biss­chen po­le­misch vor­ge­bracht, auch ein Aus­druck der Trau­er um die Un­mög­lich­keit, wie je­ner On­kel J. zu al­tern. Das wa­ren Pro­to­kol­le der ver­pass­ten Ge­le­gen­hei­ten, Ar­ti­ku­la­tio­nen ei­nes vor­ent­hal­te­nen Wei­ter-Le­bens. Aber es blitz­te auch ein vi­ru­len­tes Ge­fühl der Aus­weg­lo­sig­keit auf, das sich dann zu­wei­len in ei­ne Tho­mas-Bern­hard-ähn­li­che Iro­nie stürz­te, um die dro­hen­de Me­lan­cho­lie zu ban­nen. Na­tür­lich konn­te Mai­er in der klei­nen Ko­lum­nen­form kei­nen gro­ßen epi­schen Ent­wurf vor­neh­men. In »Das Zim­mer« holt er das nun auf ver­blüf­fen­de Wei­se nach. Den in ei­nem sol­chen Pro­jekt lau­ern­den Be­dro­hun­gen (sen­ti­men­ta­le Hin­ga­be oder bei­ßen­der Zy­nis­mus) er­liegt Mai­er glück­li­cher­wei­se nicht.
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Ro­ber­to Bo­la­ño: Lum­pen­ro­man

Roberto Bolaño: Lumpenroman

Ro­ber­to Bo­la­ño: Lum­pen­ro­man

Ei­ne Ich-Er­zäh­le­rin na­mens Bi­an­ca, in­zwi­schen ver­hei­ra­tet und Mut­ter, er­zählt von ih­rer Ver­gan­gen­heit als »Kri­mi­nel­le«. Sie er­zählt, wie sie nach dem töd­li­chen Un­fall ih­rer El­tern zu­sam­men mit ih­rem Bru­der in Rom als Min­der­jäh­ri­ge wei­ter­lebt. Sie er­zählt, wie sie sich mit ih­ren klei­nen Ein­kom­men (sie ist in ei­nem Fri­seur­la­den be­schäf­tigt und wäscht dort vor­zugs­wei­se den Kun­den den Kopf, er macht in ei­nem Fit­ness­stu­dio sau­ber) über­le­ben. Sie schaut Quiz-Shows im Fern­se­hen, ihr Bru­der leiht Por­no­fil­me aus der Vi­deo­thek aus und ver­ehrt ei­ne Dar­stel­le­rin. Sie er­zählt, wie der Bru­der ei­nes Ta­ges zwei Freun­de mit­bringt (die sie, man­gels Na­men, als Bo­lo­gne­ser und Li­by­er be­zeich­net). Sie er­zählt, wie es nie mehr dun­kel wird um sie her­um, was sie nachts kaum schla­fen lässt. Sie er­zählt, wie sie, die Jung­frau, sich von den Freun­den des Bru­ders be­schla­fen lässt und dar­auf ach­tet, nicht zu wis­sen, mit wem sie es ge­ra­de treibt. Sie er­zählt, wie die drei Jungs mit ih­ren (ver­mut­lich du­bio­sen) »Ge­schäf­ten« schei­tern und sie schließ­lich an den ehe­ma­li­gen Film­star und Bo­dy­buil­der Macis­te ver­kup­peln. Von nun an be­sucht Bi­an­ca die­sen Mann zwei­mal die Wo­che. Sie schla­fen mit­ein­an­der und er be­zahlt da­für. Er ist blind. Und er soll ei­nen Tre­sor ha­ben. Die­sen Tre­sor gilt es zu fin­den. Die vier wol­len ihn, den blin­den Mann, aus­rau­ben. Aber der Tre­sor bleibt un­auf­find­bar, Bi­an­ca ge­steht dem dicken Macis­te ih­re Lie­be, pflegt ihn mit Ka­mil­len­tee, als er krank wird und ver­ab­schie­det sich kurz dar­auf von ihm. Gleich­zei­tig setzt sie die bei­den Freun­de des Bru­ders vor die Tür. Und Bi­an­ca kann wie­der die Dun­kel­heit wahr­neh­men.

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