Im Mai 2010 schrieb der österreichische Schriftsteller in einem Essay über seine Hospitation in der Brüsseler EU-Bürokratie über den »Befreiungsschritt, wenn über die Rahmenbedingungen unseres Lebens eben nicht mehr wesentlich durch Volkswahlen abgestimmt wird.« Begründet wird diese »Befreiung« von den Niederungen der Demokratie, weil damit »xenophobe, rassistische, autoritäre Charaktere« keine Berücksichtigung finden würden. Als abschreckendes Beispiel dient u. a. das Europäische Parlament, welches durchaus Mitglieder solcher Parteien beherbergt. Die Idee, xenophobe und rassistische Politikentwürfe mit Sachargumenten zu bekämpfen, scheint bei Menasse nicht aufzukommen – er nimmt die antidemokratische Gesinnung von Teilen der Gesellschaft anscheinend als Fatum an. Er kommt zu dem Schluss, »dass die klassische Demokratie, ein Modell, das im 19. Jahrhunderts zur vernünftigen Organisation von Nationalstaaten entwickelt wurde, nicht einfach auf eine supranationale Union umgelegt werden kann, ja sie behindert. Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus. Wenn dieser gegen die von Massenmedien organisierten Hetzmassen nicht mehr mehrheitsfähig ist, wird Demokratie gemeingefährlich.« Statt die Bildung des Citoyens hin zum Widerstand gegenüber Hetzkampagnen zu forcierten, wird dieser bequemerweise entmündigt. Freilich alles nur zu seinem Glück, wie Hans Magnus Enzensberger dieses Prinzip treffend charakterisiert: Die Europäische Union gibt sich »erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser Bestes. Wie in gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, daß wir selber wissen, was gut für uns ist; dazu sind wir ihnen in ihren Augen viel zu hilflos und zu unmündig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden.« Weiterlesen
Mathias Énard: Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten
Immer noch wirkt Mathias Énards fabelhaftes historisches Mittelmeer-Epos »Zone« nach. Zum Beispiel wenn ich eine Karte des Mittelmeeres sehe oder Berichte über diese Region höre. Die Ereignisse des Jahres 2011 in den arabischen Ländern würden neuen Stoff für Bellizist, Geheimagent und Faschist Francis Servain Mirković liefern, der auf sechs Stunden Zugfahrt von Mailand nach Rom die Geschichte des Mittelmeers mit ihren politischen Ver- und Entwicklungen, Kriegen und falschen Helden auffächert. Und so hört diese Polyphonie des Grauens niemals auf, sondern erhält ständig neue Nahrung. Unmöglich, dieses erzählerische Verfahren (angelehnt an Homers Illias) beizubehalten. Énard hat das erst gar nicht versucht (solche Form des Selbstplagiats wäre auch des Guten zuviel), sondern legt mit »Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten« ein gänzlich anderes Buch vor; fast nur ein Büchlein mit seinen 170 großzügig gefüllten Seiten. Aber bei aller Differenz – es gibt durchaus ein gut verborgenes Band zum in Duktus und Form so gänzlich anderen Buch. Weiterlesen
Alban Nikolai Herbst: Kleine Theorie des Literarischen Bloggens
Während diverse Internetaktivisten mit ihren scheingewichtigen Prophezeiungen entweder das Netzparadies oder den Vorhof der Hölle ausgerufen haben und sogenannte »Alpha-Blogger«, die schon länger zumeist uninspiriert ihre Ich-AGs in Werbespots, Talkshows oder Onlinekolumnen pflegen und dabei nur einen reiz- und inhaltslosen Raum der Selbstreferentialität füllen (trauriger Höhepunkt war das lächerliche Internet-Manifest von 2009), schreibt Alban Nikolai Herbst seit sieben Jahren einen Weblog, der, würde man ihn ausdrucken wollen, inzwischen Arno-Schmidt-Ausmaße annehmen würde. Herbst, der Schriftsteller, betreibt (s)einen Literarischen Weblog. Zu lesen ist das virtuelle Konvolut seit 2004 unter dem wuchtigen Titel Die Dschungel. Anderswelt.; die Webadresse weist indes auf seinen Urheber hin (der längst nicht mehr der alleinige Autor ist). Auch wenn die zum Teil äußerst theoretische, ja distanzierte Betrachtung anderes vermuten lassen könnte: Herbst ist tief in sein Gewebe versunken, mit ihm und in ihm fast physisch infiltriert. Dabei ist auch dieser Blog von narzisstischen Selbstdarstellungen nicht frei, aber im Gegensatz zu den meisten ideologisch verbohrten Netztheoretikern mit ihren ehrpusseligen Alleinvertretungsansprüchen sind seine Reflexionen nicht nur lesbar, sondern werden in der täglichen Praxis versucht. Der Leser kann die Entwicklung des Denkens zum und über den Literarischen Weblog über die Jahre hinweg nicht nur nachlesen, sondern auch im Medium selber erfahren. Dies inklusive der fast zwangsläufig entstehenden Irrtümer und notwenigen Korrekturen. Die »Kleine Theorie des Literarischen Bloggens« ist inzwischen online auf 131 Texte angewachsen (Stand: 21. Oktober 2011). In der »edition taberna kritika« ist nun eine Paperback-Ausgabe mit 133 Texten auf rd. 130 Seiten erschienen. Weiterlesen
Browser, Harmschar, Zervelatwurst
Wer kennt sie nicht, diese Zeiten der Leseunlust, einer Mischung aus Überdruß, Melancholie und Trägheit. Eine Art Mikro-Burn-Out (um im Duktus der Zeit zu reden). Wie schön ist es dann, für eine kurze Zeit in Abschweifungen und Verzettelungen zu fallen, die nicht mit dem Anschauen der Übertragung des Fußballspiels zwischen dem VfL Bochum und Energie Cottbus oder dem Verfolgen einer Doku-Soap auf RTL totgeschlagen wird. Wie reinigend diese Leere, dieser Moment, in dem plötzlich alles verblasst und das vormals Wichtige nach hinten geschoben wird. Dieses Phänomen wird in der aktuellen Diskussion um die Gefahren, die das Internet mit sich bringt (bzw. mit sich zu bringen scheint) zumeist als Ablenkung und Unkonzentriertheit beschrieben. Kulturkritische Betrachtungen brandmarken dieses »Herumsurfen« im Netz, dieses von einem Link zum anderen Link herumklicken. Dabei gibt es einen sehr schönen Ausdruck hierfür, der fest in der analogen Zeit verhaftet scheint: Man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Die Lustlosigkeit, einer Sache – warum auch immer – stringent zu folgen ist positiv ausgedrückt die Lust, sich einfach einmal wieder neu überraschen zu lassen. Hierfür brauche ich nicht unbedingt das Internet (eher im Gegenteil: zu oft landet man doch wieder auf das Altbekannte oder im Feuilleton der FAZ) oder diverse Apparate mit oder ohne angebissenes Obst. Es gibt ein Buch, in das ich mich manchmal sehr gerne fallenlasse. Ein Buch, das man zunächst beiläufig zur Hand nimmt um etwas nachzuschlagen – und sich dann in ihm lustvoll verliert. Ich rede vom Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache, dem »Kluge«. Weiterlesen
Nur zwei Cent
»Ja, ich bin Journalistin. Und, ja: Ich habe eine eigene politische Meinung« schreibt ERLkönigin als Aufmacher zu ihrem Artikel mit dem pathetischen Titel »Das Recht auf Meinung«. Pathetisch deshalb, weil damit unterschwellig suggeriert wird, dass es irgendjemand gibt, der dieses Recht in Abrede stellt. (So immunisiert man sich gegen Kritik.) Schnell wird man bei ERLkönigin fündig: »An die Mär des ewig neutralen Beobachters glaube ich nicht.« Und emphatisch fährt sie fort: »Solche Journalisten brauche ich persönlich auch nicht. Als Leser – und das bin ich ebenfalls täglich – will ich wissen, wie Menschen, die in der Sache um einiges näher dran sind als ich, Themen einordnen.«
Zunächst einmal stellt sich die Frage, wer Journalisten ein »Recht auf Meinung« bestreitet? Natürlich sind Journalisten keine Meinungseunuchen. Aber was bedeutet dies für die alltägliche Berichterstattung? Geht es vielleicht nicht eher darum, dass Meinungsjournalismus von der rein sachlichen »Nachricht« (dem Nachgereichten) zu trennen ist, um nicht – auch so eine modische Formulierungsfloskel – den Leser zu bevormunden oder zumindest (sanft oder perfide?) zu manipulieren? Weiterlesen
Ursula Timea Rossel: Man nehme Silber und Knoblauch, Erde und Salz
Irgendwann, ziemlich früh, kommt einem das Bild von Dürers Kupferstich des hl. Hieronymus im Gehäus in den Sinn. Zumal wenn man später erfährt, dass die Abkürzung »hl.« auch »höllisch« heißen könnte. Hier erzählt also die hl. (= höllische) Timea am Küchentisch – vielleicht einen Schneelöwen vor ihren Füßen (dem sie freilich keinen Dorn aus der Tatze gezogen hat, es sei denn man hat das irgendwo überlesen), Schrödingers Katze als »pet-sitting«-Gegenstand vis-à-vis und dem Weltatlas in 17 Bänden mit geographischen, politischen, historischen, tektonischen, geologischen, hydrologischen, meteorologischen, zoologischen, botanischen, statischen und dynamischen Karten aller Orte und aller Epochen im Regal.
Timea ist Kryptogeographin. Ihrem Verständnis nach eine Naturwissenschaftlerin. Aber Kryptogeographen sind auch Brüder (oder Schwestern) der Schriftstellerei. Sie finden versteckte, verschlüsselte, verschüttete Dinge und formen diese merkwürdigen Singularitäten zu Universen und Multiversen. Und natürlich schreiben sie nicht einfach nur ein Buch – ihr Ziel ist DAS Buch – die Erfüllung des Auftrags und damit das Ende aller Unannehmlichkeiten. Dabei muss DAS Buch wie von selbst entstehen, unintentional; es darf nicht geplant werden. Es gibt keinen Sinn, keinen Plan, keinen Zweck, und schon gar nicht ist der Weg ein Ziel, wie die Binsenlüge suggeriert. Der Weg ist der Weg, das ist alles. Und wie so oft ist das Einfache das Schwierige.
Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
Rund 650.000 Exemplare sind von Umberto Ecos »Der Friedhof in Prag« seit Oktober 2010 in Italien verkauft worden. In Anbetracht dessen, welche Bücher in Deutschland Millionenauflagen erzielen, spricht das zunächst einmal deutlich für die Kulturnation Italien. In 40 Sprachen soll das Buch übersetzt werden. Mit der deutschen Ausgabe zieht der Hanser-Verlag alle Register seiner Marketing-Kunst. Es gibt für das Kritikervolk sogar ein »Einlesebuch« – unter anderem mit Personen- und Zeitregister zum Roman und einem Aufsatz über Verschwörungstheorien von Philipp Blom. Dieser schreibt, es sei letztlich gleichgültig, ob Verschwörungstheorien wahr seien oder nicht. Sie müssten nur »ausreichend viel Wahrheit beinhalten, um plausibel zu sein«, aber ihre »eigentliche Kraft« läge im »emotionalen Sog…im Versprechen von Sinn, von einem Ganzen, an das man glauben kann und dessen Teil man wird«. Das ist natürlich nicht falsch, erklärt aber nicht den Sog von Verschwörungstheorien, die, je nach Lage, komplizierte Vorgänge radikal vereinfachen oder auch einfache Ereignisse mit Komplexität aufladen. Weiterlesen
Außer Dienst, auf Jagd
A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 18
Von parkliegen und nasebohren kann überhaupt keine Rede sein. So ein Stipendium ist furchtbar anstrengend. Ich arbeite rund um die Uhr, ich kenne kein Weekend, nachts träume ich davon. Ich treibe mich in Bibliotheken und Archiven herum, rede mit Leuten, sitze Stunden um Stunden vorm Bildschirm, schreibe, lösche, korrigiere. Die Augen werden zunehmend schlechter, die Schulter ist verspannt. Ich vergesse zu essen, ich lese, schlage etwas nach, Wäsche und Geschirr türmen sich auf, Fruchtfliegen mehren sich, alles liegt überall herum, nichts wo es hingehört. Mit einer Ausnahme: Von ihren Bildern an der Kühlschranktür schauen mich die Romanfiguren an. Sie sind schon lange tot, aber jetzt zieren sie sich, und ich laufe ihnen nach. Weiterlesen