Immer noch wirkt Mathias Énards fabelhaftes historisches Mittelmeer-Epos »Zone« nach. Zum Beispiel wenn ich eine Karte des Mittelmeeres sehe oder Berichte über diese Region höre. Die Ereignisse des Jahres 2011 in den arabischen Ländern würden neuen Stoff für Bellizist, Geheimagent und Faschist Francis Servain Mirković liefern, der auf sechs Stunden Zugfahrt von Mailand nach Rom die Geschichte des Mittelmeers mit ihren politischen Ver- und Entwicklungen, Kriegen und falschen Helden auffächert. Und so hört diese Polyphonie des Grauens niemals auf, sondern erhält ständig neue Nahrung. Unmöglich, dieses erzählerische Verfahren (angelehnt an Homers Illias) beizubehalten. Énard hat das erst gar nicht versucht (solche Form des Selbstplagiats wäre auch des Guten zuviel), sondern legt mit »Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten« ein gänzlich anderes Buch vor; fast nur ein Büchlein mit seinen 170 großzügig gefüllten Seiten. Aber bei aller Differenz – es gibt durchaus ein gut verborgenes Band zum in Duktus und Form so gänzlich anderen Buch.
Der Ruf aus Konstantinopel
Ein allwissender Erzähler berichtet in einem Märchenton die Geschichte Michelangelos, der 1506, 31 Jahre alt, nach Konstantinopel einschifft, um dort einen Auftrag des Sultans Bayezid II. für den Bau einer Brücke über das Goldene Horn anzunehmen. Die Gelegenheit passt: Der geplante Bau eines Grabmals stockt. Michelangelo fühlt sich vom »kriegerischen« Papst Julius II., dem Auftraggeber und Financier, hintergangen, zumal er ihn wie einen Lakaien behandelt und nicht bezahlt. Michelangelos Trotz, der sich zuweilen in Jähzorn entlädt, siegt über die Bedenken, für einen muslimischen Herrscher zu arbeiten. Was, wenn dies zu früh kolportiert würde? Droht vielleicht die Exkommunikation? Und wie sähe dann die Auftragslage für einen freischaffenden Künstler aus? Zunächst tut er alles dafür, dass sein Aufenthaltsort geheim bleibt. Sein ärgster Widersacher, der wesentlich ältere Leonardo da Vinci, war mit seiner Konstruktion gescheitert. Die Versuchung ist groß: Zum einen könnte der in Hassliebe verbundene Leonardo übertrumpft werden und zum anderen winkt eine üppige Entlohnung. Am Ende, so der Gedanke, wird die Schönheit des Bauwerkes über die Religionsgrenzen hinweg überzeugen. Und der Künstler hat es dem (egomanischen) Papst gezeigt.
Erzählt wird von einem den Orient aufsaugenden Michelangelo, der sich bereits im Hafen an dem Gewimmel nicht sattsehen kann. Konstantinopel ist ein zweites Venedig; ein Ort, der ihm »zugleich vertraut und sehr fremd« ist. Er bekommt einen Übersetzer und ein Quartier zugewiesen und die besten Architekten des Landes stehen zu seiner Verfügung. Für den intellektuellen Austausch ist der Dichter Mesihi, ein Günstling des Wesirs, zuständig. Mesihi ist Gesprächspartner und Vermittler über die kulturellen Differenzen hinweg, erklärt dem Italiener die Gebräuche, zeigt ihm die Stadt und auch das Nachtleben. Bald merkt Michelangelo, dass er kein professioneller Baumeister ist; der David oder das noch unvollendete Grabmahl – das ist etwas anderes als ein solches monumentales Werk. »Die Größe dieser Aufgabe erschreckt ihn« und ihm fällt nichts ein, »er vermisst den Marmor«, zeichnet Pferde und Menschen; wird zornig, weil sein Aufenthaltsort in Rom bekannt zu werden droht. Und am Hof wird man langsam ungeduldig.
Schließlich gibt es doch den inspirierten Einfall (die Zeichnung ist im Buch abgedruckt). Rasch wird ein Modell konstruiert und es kommt zur längst ersehnten Audienz beim Sultan, die aber sehr kurz ausfällt. Michelangelo erhält als Dank eine Besitzurkunde für ein Grundstück in Bosnien; ein satter Vorschuss wäre ihm lieber gewesen. Der Grundbesitz wechselt schnell den Besitzer: Michelangelo verschenkt ihn an Mesihi. Kurz nach dem offiziellen Baubeginn werden die Intrigen am Hof gegen den »Ungläubigen« spürbarer. Geldzuwendungen bleiben weiter aus. Michelangelo fühlt sich in einem »sehr behaglichen Gefängnis« eingeschlossen und »spürt ein ängstliches Sehnen« nach Italien. Mesihis Loyalität zu Michelangelo ist derart groß, dass er mit dem geschenkten Grundstück für eine wichtige Information bezahlt. Damit verhindert er in letzter Minute einen Anschlag auf Michelangelo, tötet den Attentäter und wird dadurch sogar selber zum Mörder. Heimlich verschwindet der Italiener – ohne den Lohn für seine Arbeit zu erhalten. Der Leser wird am Ende noch über das Schicksal der Protagonisten informiert und fast mit einem gewissen Triumph wird von einem Erdbeben drei Jahre später berichtet, welches die im Bau befindliche Brücke zerstörte.
Eine Geschichte über Liebe und Sehnsucht
Das ist die Hauptgeschichte dieses Buches. Aber Énard spielt mit den historischen Wahrheiten. Tatsächlich hatte Michelangelo zwar eine Einladung des Sultans erhalten, diese aber abgelehnt. Somit ist der Aufenthalt des Künstlers in Konstantinopel frei erfunden. Énards Trick: Neben dieser Brückenbaugeschichte gibt es noch eine andere Geschichte, die unabhängig von dieser Konstellation wirkt und den erfundenen Plot zur Nebensache macht. Es ist eine Geschichte über Liebe und Kunst, Wollust und Enthaltsamkeit, Scham und Sehnsucht. So verfällt Michelangelo bei einem Fest in Liebe zu einer Tänzerin – oder einem Tänzer, derart androgyn ist die Gestalt. Er verbringt später nach einem Ausflug mit Mesihi in ein Vergnügungslokal sogar eine Nacht mit dieser Person und verzehrt sich von nun an noch mehr in Sehnsucht vor einer Liebe, die fast heftiger zu sein scheint als deren (kurzfristige) Erfüllung (falls es dazu gekommen ist). Was Michelangelo nicht bemerkt (und wohl auch nicht bemerken will): Auch Mesihi, der Mann, der Frauen und Männer lieben kann, hat sich in den italienischen Künstler verliebt. Er bemerkt Michelangelos Sehnsucht – und ist eifersüchtig. Aber gleichzeitig ist seine Hochachtung vor dem Künstler so groß, dass er seine Gefühle versucht, zu verbergen.
Énard verquickt Künstlerroman mit zarter Liebesgeschichte und fiktionales Historiendrama. Verblüffend aktuell ist das Buch in der Behandlung der Thematik des Okzidents im Verhältnis zum Orient und zur Frage der Religionstoleranz. Zunächst zeigt sich eine überaus tolerante muslimische Hofgesellschaft, die dann freilich später von Ränken und Kabalen erschüttert wird – auch hierin den europäischen Verhältnissen der damaligen Zeit ähnlich. Unterbrochen wird der auktoriale Erzählfluss, der manchmal zu viel erklärt statt einfach nur dem Erzählen zu vertrauen, durch sechs kurze deklamatorische Einschübe, die Michelangelo direkt ansprechen und seine emotionale Lage und sein Verhalten spiegeln. Dabei bleibt die jeweils deklamierende Person unklar. Es kann sich um eine oder mehrere Personen handeln (beispielsweise liegt es nahe, dass zwei Texte von Michelangelos großer Liebe, der Tänzerin, stammen) oder es könnten auch Selbstgespräche des Meisters sein.
Die unsichtbare Klammer zum monumentalen Mittelmeerepos ist das Verhältnis von (politischer) Macht auf den Einzelnen. »Man muss sich also unter allen Himmeln vor den Mächtigen erniedrigen« – so fällt Michelangelos Bilanz schon ziemlich früh aus, als die versprochenen Gaben ausbleiben und er auch in Konstantinopel der Gunst der/des Mächtigen ausgeliefert scheint. Dieses Verhalten ist unabhängig von kulturellen Unterschieden der jeweiligen Machtsysteme. Der Islam in Europa war auf dem Rückzug; beispielsweise seit mehr als zehn Jahre aus Spanien vertrieben. Mit der Verpflichtung Michelangelos wäre Bayezid ein interessanter Propagandacoup gelungen; der Künstler als »agent provocateur« in einem politischen Ränkespiel. Auch hier, in der Verstrickung des Künstlers mit der Macht, liegt eine Parallele zu »Zone«.
Pseudo-Dokumentation
Die immer mehr umgreifende Methode historische Persönlichkeiten und Ereignisse mit Erfundenem in einer Pseudo-Dokumentation (bis hin zur Mockumentary) zu verarbeiten, halte ich für problematisch. Dabei geht es nicht um eine Rettung eines kruden historischen Realismus. Natürlich sind fiktionale Figuren immer in Weltereignisse eingebunden. Und nichts spricht dagegen, tatsächlich existierende Persönlichkeiten zu Protagonisten eines Romans zu machen und verschüttete Fakten behutsam-spekulativ in eine Erzählung einzubetten. Aber was bedeutet es, wenn eine Romanfigur plötzlich mit historischen Protagonisten interagiert, sie in eine Hauptrolle kommt, in geschichtliche Abläufe eingreift und sie – entgegen den Tatsachen – gestaltet? Drohen damit nicht in einer Welt, in der es zunehmend schwieriger wird zwischen Fakten und Mythen zu unterscheiden und Verschwörungstheorien wie Schimmelpilze an feuchten Wohnzimmerwänden blühen, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität auch und gerade in politischen Dimensionen zu verschwimmen? Wird damit nicht fahrlässig eine Legendenbildung befördert?
Énards Michelangelo hat die Reise nach Konstantinopel nie angetreten. Insofern ist auch die Sehnsuchts- und Liebesgeschichte reine Erfindung (en passant werden homophile Neigungen Michelangelos angedeutet – eine Frage, die sich schon Generationen von Historikern stellen, wobei man den Wert einer solchen Information durchaus befragen sollte). Die zwei Erzählstränge des Buches sind also reine Fiktion. Zitate aus Briefen Michelangelos lassen wieder die Prise Realismus aufscheinen – wobei unklar ist, ob es sich tatsächlich um korrekte Übersetzungen und Wiedergaben handelt.
Zugegeben: Im vorliegenden Fall ist die Frage der Historisierung nicht stattgefundener Ereignisse eher zweitrangig. Aber es gibt andere Beispiele. Dabei ist die Einbettung des Fiktionalen im Historischen nicht neu. Dabei ist sie längst nicht mehr nur ein Kriterium trivialer Prosa. Die Frage bleibt, warum Énard Michelangelo überhaupt braucht, wenn nicht zur Aufwertung seiner Erzählung selber. Würde das Buch mit der gleichen Beachtung gelesen, wenn ein imaginärer Künstler »M.« die Hauptfigur sein würde? Es ist scheinbar enorm verführerisch, eine erfundene Figur oder Handlung prominent in einen historischen Kontext einzubetten und damit eine mindestens pro forma Authentizität zu suggerieren. Die Fiktion wird im Rahmen der Aufmerksamkeitsökonomie aufgewertet. Daher unterbleibt die Verfremdung.
Kritik als Spielverderber
Die Literaturkritik ist in solchen Fällen gefordert, die Fiktion mit den überlieferten Daten zu konfrontieren. Dabei gerät sie schnell in die Rolle des Spielverderbers und droht die ästhetische Betrachtung zu vernachlässigen. Was bleibt am Ende von dieser mit leicht pädagogischem Unterton erzählten Geschichte? Bleiben mehr als die üblichen Warnungen vor der Infiltration des Künstlers mit der Macht? Auch eine dezidierte Auseinandersetzung mit den Unterschieden der beiden Kultur- und Religionsräume unterbleibt. Wozu also die angedichtete Liebesblödigkeit Michelangelos? Ist dieses Büchlein mit dem ausgreifenden Kipling-Zitat so viel mehr als nur eine halbwegs gelungene Fingerübung? Immerhin: Das Buch gewann den »kleinen« Prix Goncourt de lycéens – nachdem »Zone« im vergangenen Jahr beim großen Bruder, dem »richtigen« Prix Goncourt, bedauerlicherweise nicht reüssierte.
Énards Michelangelo-Erzählung hat durchaus Stellen von filigraner Schönheit, bedient jedoch zu häufig bereitwillig Klischees. Das Buch ist ein unterhaltsames, am Ende doch eher harmloses Lesevergnügen. Eine schöpferische Atempause nach einem Konvolut wie »Zone«. Und ein Beleg dafür, dass es nicht immer vorteilhaft ist, wenn man den Autor eines Werkes kennt. Denn wer weiß – vielleicht wäre man ansonsten gnädiger verfahren.
Zum Verhältnis von »Historie« und Fiktion, also zur Frage nach der Legendenbildung, möchte ich zu bedenken geben, dass das, was wir für verbürgte Historie halten auch nichts anderes als (herrschaftlich abgesegnete) Legendenbildung ist. Warum und zu welchem Ende also sollte die Fiktion mit den überlieferten Daten konfrontiert werden? Ist es nicht vielmehr gerade die Kernkompetenz der Literatur (wie auch anderer Künste), die Grenzen von Fiktion und sogenannter Realität verschwimmen zu lassen?
Es gibt sehr wohl Fakten, die sich jenseits eines wie auch immer zu bewertenden Historiker-Konsenes bewegen. Die Bordereau wurde nicht von einem italienischen Fälscher geschrieben, wie dies Umberto Eco fabuliert. Und ein Maximillian Aue biss auch Hitler nicht in die Nase. Diese Fiktionalisierungen sind vielleicht nicht besonders aufregend. Aber es gibt durchaus Möglichkeiten mit feineren Nuancierungen aktive Legendenbildung zu befördern bzw. zu mißbrauchen.
Mich hat diese Geschichte über Michelangelos Reise nach Konstantinopel ziemlich geärgert. Dabei ärgert mich die Tatsache einer solchen Grenzüberschreitung weniger als die Vortäuschung eines Realismus. In einer Radiobesprechung des Buches wurde so getan, als hätte es diese Reise tatsächlich gegeben, d. h. es gab kein Dementi. Vermutlich hatten sich die Rezensenten nicht informiert.
Ich habe nichts gegen die Vermischung von Fiktion und Realität. Ich glaube nur, dass sie Grenzen haben sollte. Ich habe versucht, diese Grenzen aufzuzeigen. Merkwürdig wird es immer, wenn »Promis« aus der Geschichte als Lockmittel für ansonsten eher schwache Stoffe herangezogen werden, die auf diese Weise mit Bedeutung aufgeladen werden sollen.
Kleine Ergänzung:
Ein großer Historiendramatiker war ja beispielsweise Schiller. Dessen Leitlinie ist in einem Brief an Goethe ganz gut dokumentiert: »Überhaupt glaube ich, daß man wohl thun würde, immer nur die allgemeine Situation, die Zeit und die Personen aus der Geschichte zu nehmen, und alles übrige poetisch frei zu erfinden, wodurch eine mittlere Gattung von Stoffen entstünde, welche die Vortheile des historischen Dramas mit dem erdichteten vereinigte.«
Dennoch hat Schiller nur selten gravierende Abweichungen zu den damals kolportierten historischen Ereignissen vorgenommen. Bemerkenswert ist allerdings, dass das frei erfundene Drama »Wilhelm Tell« heute immer noch als Gründungsgeschichte der Schweiz gilt. Dieses Stück ist ein Musterbeispiel für das elektizistische Zusammentragen von Sagen, Mythen, Überlieferungen und Geschichtchen hin zu einem kohärenten Stoff. Über diese Rezeption kann man dem Autor keinen Vorwurf machen; die Bündelung der diversen Texte scheint überzeugend gelungen zu sein.
Mein Glaube an Fakten hält sich in engen Grenzen. Ungeachtet dessen stimme ich Ihnen zu, dass es die literarische Qualität eines Textes nicht hebt, etwa jemanden in Hitlers Nase beißen zu lassen oder dergleichen. Allerdings glaube ich auch, dass die literarische Qualität davon abhängt, WIE man jemanden in Hitlers Nase beißen lässt – wenn es denn sein muss – und nicht davon, ob Hitler »tatsächlich« in die Nase gebissen wurde oder nicht. Ich möchte darauf bestehen, dass sich die Literatur nicht der herrschaftlichen Legendenbildung unterwerfen sollte, und dass die historische Faktizität kein literarisches Kriterium ist .
Natürlich hat es einen schalen Beigeschmack, wenn der Eindruck entsteht, ein historischer Promi sei in erster Linie der Aufmerksamkeitsökonomie wegen bemüht worden. Mir fiel Thomas Manns Lotte in Weimar ein, dessen Promi, Herr Goethe, im Titel gar nicht genannt wird und im Text nur einen kurzen, ziemlich lapidaren Auftritt hat. Der ganze Text ist, wenn man an Fakten glaubt, historisch unwahr, aber er erschafft eine, nämlich Manns eigene, historische Wahrheit über Goethe. Und im Unterschied zu anderen historischen Romanen oder Filmen ist hier der Promi nicht austauschbar.
Möglicher Weise liegt ein Reiz für den Autor darin, (persönlichen Neigungen und Vorlieben folgend) eine Gestalt zu erschaffen, die man der historischen gegenüberstellen kann bzw. die die historischen Lücken füllt oder sich ihr nähert – der Literat vermag ein Terrain zu betreten, das dem Historiker verschlossen bleibt, nämlich zu »wissen«, wie Michelangelo tatsächlich war (auch wenn das wiederum Fiktion bleibt).
Für den Leser und die Literatur sind solche Vorlieben sicherlich von geringer Bedeutung – das wie ist, wie die Vorschreiber schon festgestellt haben, entscheidend.