Der Wil­le zum Nicht­wis­sen, Post­skrip­tum

Vor zwei Jah­ren ha­be ich in die­sem Blog un­ter dem Ti­tel Der Wil­le zum Nicht­wis­sen An­mer­kun­gen zu ei­ner Rei­he von mehr oder we­ni­ger be­rühm­ten Sät­zen zum The­ma »Wahr­heit«, oder zu­min­dest in Zu­sam­men­hang mit die­sem Be­griff, ver­öf­fent­licht. Es liegt auf der Hand, daß sich die­se Rei­he fort­set­zen lie­ße, sie ist wohl un­ab­schließ­bar, die Will­kür setzt ei­nen Schluß­punkt. Trotz­dem, si­cher auch be­dingt durch ei­ni­ge Ein­wän­de ge­gen das von mir Vor­ge­brach­te, die ich dort und da las oder hör­te, ha­be ich mich wei­ter da­mit aus­ein­an­der­ge­setzt. Be­son­ders die oft ver­gnüg­li­che, vom »epi­ste­mi­schen« Stand­punkt na­tür­lich nicht im­mer be­frie­di­gen­de Lek­tü­re von Bü­chern Ri­chard Ror­tys hat mich da­zu be­wo­gen, der Se­rie noch ein Stück hin­zu­zu­fü­gen.

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Truth is what one’s peers, ce­te­ris pa­ri­bus, let one get away wi­th say­ing.

Ich zi­tie­re Ri­chard Ror­ty hier auf eng­lisch, weil ich mit der deut­schen Über­set­zung die­ses Sat­zes in sei­nem Buch Der Spie­gel der Na­tur mei­ne Schwie­rig­kei­ten ha­be. Wie so oft ist ei­ne wich­ti­ge Äu­ße­rung Ror­tys in Dis­kus­si­on und Kri­tik, d. h. in ein ver­wickel­tes Hin und Her ver­packt. In­di­rekt ver­steht man im dort ge­ge­be­nen Kon­text, daß Ror­ty die Auf­fas­sung ver­tritt, Wahr­heit sei nicht mehr als »ge­recht­fer­tig­te Be­haupt­bar­keit« (ein Aus­druck, den er von John Dew­ey über­nimmt). Der Satz in Der Spie­gel der Na­tur lau­tet so: »Wahr­heit ist nicht mehr als der Um­stand, daß un­se­re Mit­men­schen ei­ne Aus­sa­ge – ce­te­ris pa­ri­bus – gel­ten las­sen wer­den.« Ich wür­de ihn lie­ber so über­set­zen, auch auf die Ge­fahr hin, daß ich den sprach­li­chen Aus­druck da­bei ver­bes­se­re: »Wahr sind sol­che Aus­sa­gen, die dei­ne Ge­sprächs­part­ner als wahr gel­ten las­sen.« Peers sind na­tür­lich die Fach­kol­le­gen, aber da Ror­ty in die­sem Buch und auch sonst gro­ßen Wert auf das nicht ab­rei­ßen­de Ge­spräch un­ter ver­nünf­ti­gen, gleich­be­rech­tig­ten Ge­sprächs­part­ner legt und sei­ne Aus­sa­gen ge­wöhn­lich nicht nur auf den aka­de­mi­schen Kon­text be­schränkt wis­sen will, scheint mir die­ses Wort für die Über­set­zung bes­ser zu pas­sen. Ver­stün­de man un­ter »peers« al­le Mit­men­schen oder die Mit­bür­ger ei­nes Lan­des, so wä­re Wahr­heit in je­dem ein­zel­nen Fall das Er­geb­nis ei­nes Ple­bis­zits, oder heut­zu­ta­ge: ei­ner di­gi­ta­len Er­mitt­lung, sie wür­de durch ein Ran­king ge­kürt. Wahr ist, was po­pu­lär ist.

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Wenn und Aber

Ein kur­zer Rück­blick auf »2001: Odys­see im Welt­raum«

Ge­stern1 zum er­sten Mal »Odys­see 2001« von Stan­ley Ku­brick ge­se­hen, als Vi­deo und mit fünf­zig Jah­ren Ver­spä­tung ge­wis­ser­ma­ßen; sei­ner­zeit hat­te mich »Bar­ry Lyn­don« tief be­ein­druckt, der Ein­druck ist bis heu­te ge­blie­ben.

Die­se aben­teu­er­li­che Rei­se zum Mond und wei­ter zum Ju­pi­ter ist ei­gent­lich ein Kam­mer­stück: we­ni­ge Men­schen, die Räu­me im All und in den recht ge­räu­mi­gen Raum­schif­fen fast leer, ob­wohl der Mond in die­sem Jahr 2001 schon ei­ne Men­schen­ko­lo­nie zu be­her­ber­gen scheint. Die gan­ze zwei­te Hälf­te (oder län­ger) sind da nur zwei Fi­gu­ren, bzw. drei, zwei Men­schen und ein Com­pu­ter, am En­de nur noch ei­ner, der sich ver­wir­rend ver­viel­facht.

Stam­mes­ge­schich­te und In­di­vi­du­al­ge­schich­te; An­fang und En­de und Neu­an­fang. Zeit­ko­lo­rit: die psy­che­de­li­sche Rei­se, ein LSD-Trip, künst­li­che Far­ben, die in ra­sen­den Wel­len auf dich zu­ge­schos­sen kom­men. Das Au­ge ist, was es sieht.

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  1. Den Beitrag erhielt ich vor einigen Tagen zugeschickt. - G. K. 

Mi­chel De­guy zum 90.

Mi­chel De­guy, am 25. Mai 1930 in Pa­ris ge­bo­ren, Dich­ter und Phi­lo­soph, Grün­der der Zeit­schrift Po&sie, ist ei­ner der be­deu­tend­sten fran­zö­si­schen Ly­ri­ker der Ge­gen­wart. Kürz­lich er­hielt er für sein Ge­samt­werk den Prix Gon­court de la poé­sie. Leo­pold Fe­der­mair über­setz­te ei­ne Aus­wahl von Ge­dich­ten, er­schie­nen 2008 un­ter dem Ti­tel Ge­ge­bend bei Fo­lio in Bo­zen. Mi­chel De­guy ...

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑8/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 7/8)

An ei­nem der schö­nen Ta­ge, an de­nen ich mit die­sem Heft im Ruck­sack ab­wech­selnd her­um­fla­nier­te und her­um­saß, zog es mich wie­der ein­mal nach Aras­hi­ya­ma, aber dies­mal ging ich nicht das rech­te, son­dern das lin­ke Fluß­ufer ent­lang, das die mei­ste Zeit des Ta­ges im Schat­ten liegt. Nach ei­ner Wei­le be­geg­ne­te ich ei­nem Mann, der dort auf ei­ner Bank saß, ei­ne Hau­be auf dem Kopf und mit ei­nem Lä­cheln be­gabt, das sein Ge­sicht wohl dau­er­haft zeigt, und mich oh­ne Um­schwei­fe an­sprach: Whe­re are you from?

Oh my god, dach­te ich zu­erst (im Deutsch mei­ner Toch­ter), gab dann aber doch ei­ne brauch­ba­re Ant­wort. Es stell­te sich her­aus, daß er flie­ßend eng­lisch sprach, die­ser hei­te­re, im­mer noch neu­gie­ri­ge, le­bens­be­gie­ri­ge Mann von sieb­zig Jah­ren, der eben­so un­er­schüt­ter­lich wie ge­schmei­dig ei­ne Denk­wei­se pflegt, die sich in der Zeit, als er jung war, ei­ner Zeit des Auf­bruchs, der Öff­nun­gen, des Al­les-ist-mög­lich aus­ge­bil­det ha­ben muß. (Und ich, Starr­kopf, hier am tri­sten Com­pu­ter, re­de von Ab­brü­chen!) In jun­gen Jah­ren war er als Ma­the­ma­tik­leh­rer an ei­ner Ober­schu­le tä­tig ge­we­sen, die Ar­beit hat­te ihn zu lang­wei­len be­gon­nen, so ver­such­te er sich als Blu­men­händ­ler, grün­de­te bald ei­nen ei­ge­nen Be­trieb, zog sich nach vie­len Jah­ren auch von die­sem zu­rück; jetzt ist er Ma­na­ger in ei­nem Trans­port­un­ter­neh­men. Er wohnt nicht weit von mei­ner Schwie­ger­mut­ter ent­fernt, al­so in mei­ner Nä­he, wenn ich in Osa­ka bin, Nord-Osa­ka, um ge­nau zu sein, Iba­ra­ki-shi, und kommt oft nach Aras­hi­ya­ma, we­gen der Schön­heit und Ru­he des Orts, hier wei­ter oben im Tal, sitzt auf der Bank, liest in ei­nem Buch, plau­dert mit Pas­san­ten – schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten kam ein Be­kann­ter von ihm vor­über.

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Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑7/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 6/8)

Salzburg, auf dem Mönchsberg. Hier soll vor Jahren ein berühmter Epiker gewohnt haben. © Leopold Federmair
Salz­burg, auf dem Mönchs­berg. Hier soll vor Jah­ren ein be­rühm­ter Epi­ker ge­wohnt ha­ben. © Leo­pold Fe­der­mair

Schluß. Mei­ne ab­ge­bro­che­nen Lek­tü­ren woll­te ich doch un­ter den Tep­pich keh­ren. Bes­ser, du machst mal halt und blickst zu­rück (auf die­sen Rück­blick hier). Die Re­de ist da nur von Er­zähl­li­te­ra­tur, fast al­les Ro­ma­ne. Da­bei ha­be ich doch auch Es­says ge­le­sen, nicht nur von Fo­ster Wal­lace, auch von Ol­ga Mar­ty­n­o­va und Tho­mas Stangl. Mon­tai­gne, den le­se ich so­wie­so im­mer, mei­ne Bi­bel, die es­sais. Auch so­ge­nann­te Sach­li­te­ra­tur, Grund­fra­gen der Ma­schi­nen­ethik zum Bei­spiel, die Na­men von Sach­buch­au­to­ren ver­ges­se ich mitt­ler­wei­le fast aus­nahms­los. Und Ge­dich­te? Ich ge­hö­re zu de­nen, die die Ly­rik für den Kern des Pla­ne­ten Li­te­ra­tur hal­ten: ein hei­ßer, glü­hen­der Kern, der in der Epik manch­mal Erup­tio­nen zei­tigt; em­ble­ma­tisch in Bo­la­ños Wil­den De­tek­ti­ven. Ri­car­do Pi­glia hat so gut wie gar kei­ne Ge­dich­te ge­schrie­ben – nur ei­nes, im Traum:

Soy
el equi­li­bri­sta que
en el ai­re ca­mi­na
de­s­cal­zo
sob­re un alambre
de púas

Ich bin
der Seil­tän­zer der
in der Luft geht
oh­ne Schu­he
auf dem
Sta­chel­draht

– aber 2008 zur Er­öff­nung der Buch­mes­se in Bue­nos Ai­res sag­te er in sei­ner (wie üb­lich im­pro­vi­sier­ten) Re­de, in den ei­li­gen Zei­ten, in de­nen wir heu­te leb­ten, sei die Dich­tung ei­ner der we­ni­gen Räu­me, in de­nen man ei­ne ei­ge­ne Zeit­lich­keit ent­fal­ten kön­ne. Und er wi­der­sprach Ador­nos Ver­dikt, nach Ausch­witz sei das Schrei­ben von Ge­dich­ten bar­ba­risch (die Über­lie­fe­rung trans­por­tiert das Ad­verb »un­mög­lich«, doch Ador­no hat­te »bar­ba­risch« ge­schrie­ben, fast so, als mach­te sich ein Dich­ter al­lein durch sein Da­sein mit der Na­zi-Bar­ba­rei ge­mein): Die ar­gen­ti­ni­sche Er­fah­rung nach »un­se­rem klei­nen Ausch­witz« zei­ge, daß dies sehr wohl mög­lich sei, sag­te Pi­glia und ver­wies auf Ju­an Gel­man1 und Leó­ni­das Lam­bor­ghi­ni. »Wir, die Er­zäh­ler«, fuhr Pi­glia fort, »brin­gen den Dich­tern Hoch­ach­tung ent­ge­gen, weil sie mit Spra­che in Rein­kul­tur ar­bei­ten.«

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  1. Diese Mitteilung verbanne ich in die Fußnote, weil die Fülle des Getanen, Gelesenen, Geschriebenen langsam ein bißchen angeberisch wirkt; andererseits gehört das halt alles zum Bericht, dessen Teile sich wechselseitig erhellen sollen: Kürzlich habe ich zwei Gedichte von Gelman für eine zweisprachige Anthologie spanischer und lateinamerikanischer Dichtung übersetzt, und vor einigen Jahren auch einen ganzen Gedichtband, der bisher – auf deutsch – nicht veröffentlicht ist. Von Gedichten bin ich umgeben, mehr als von Romanen, Erzählungen oder Essays. Mit den Gedichten lebe ich. Freilich, sie lassen mir auch keine Ruhe, treten nicht so zurück in ihre Schlafkammer wie, zum Beispiel, die ersten beiden Bände der Suche nach der verlorenen Zeit. Man liest öfter und genauer, es kommt zu Verschiebungen und Überlagerungen des Sinns. So daß wir beim Übersetzen manchmal zu zweifeln beginnen: Was steht hier: amo oder amor, zwei grundverschiedene Wörter, grundverschiedene Bedeutungen. Herr oder Liebe? Mit Susanne Lange, einer großartigen Übersetzerin, der wir u. a. den neuen deutschen Don Quijote verdanken, tausche ich mich jetzt gerade darüber aus. Übersetzen ist ein genaueres, eindringliches, schöpferisches Lesen. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑6/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 5/8)

Pe­ter Hand­ke ge­hört zu den Au­toren, von de­nen ich je­de Neu­erschei­nung frü­her oder spä­ter le­se; manch­mal spä­ter, wenn die Er­schei­nung nicht mehr ganz neu ist, als Nicht-Kri­ti­ker kann ich mir das er­lau­ben. Den Ak­tua­li­täts­streß, die Hy­ste­rie des Pu­bli­zie­rens, den mar­tia­li­schen Kon­kur­renz­kampf um Auf­merk­sam­keit, all das ha­be ich in mei­nem Sayon­a­ra-Es­say be­schrie­ben. Ich le­se im­mer wie­der mal die »User­kom­men­ta­re« in den Fo­ren von Ta­ges­zei­tun­gen und stel­le dann fest, wie sehr ein Teil des Pu­bli­kums die­se Hy­ste­rie ver­in­ner­licht hat: Jour­na­li­sten sind beim klei­nen Mann un­ten durch, wenn sie ein, zwei Stun­den spä­ter als an­de­re Jour­na­li­sten in an­de­ren Me­di­en an ei­nem »Er­eig­nis« dran sind. Als gin­ge es ih­nen nicht um den In­halt ei­ner Nach­richt, son­dern dar­um, er­ster zu sein, der das Ding – meist feh­ler­haft in der On­line-Aus­ga­be – in die Ta­sta­tur klap­pert. Und dar­um geht es dem User auch, die Nach­richt selbst er kaum, nur den Reiz der Groß­buch­sta­ben nimmt er auf. Das In­ter­net, die di­gi­ta­le Ver­füg­bar­keit, po­ten­ziert sol­ches Ver­hal­ten, da je­der je­der­zeit ALLES »ver­glei­chen« kann.

Ge­nau das sind die neur­al­gi­schen Punk­te, an de­nen un­ser­eins Ab­stand und Lang­sam­keit ein­for­dern müß­te (Stif­ter- oder Hand­ke-Lek­tü­re kann Be­reit­wil­li­ge ein we­nig da­für schu­len). Ich konn­te mich nach der spät ge­wor­de­nen Lek­tü­re der Obst­die­bin nicht dar­an hin­dern, doch wie­der mal ei­ne Art Kri­tik zu schrei­ben, als Nicht­kri­ti­ker so­zu­sa­gen. Ge­nau ge­nom­men ist es je­doch ein iro­nisch-dia­lek­ti­scher Es­say ge­wor­den, den man in der Li­te­ra­tur­zeit­schrift ma­nu­skrip­te (Heft 224) nach­le­sen kann – ei­ne In­halts­an­ga­be will ich hier nicht lie­fern. Als Ti­tel hat­te ich mir »Im Wech­sel­bad der Ge­füh­le« ein­fal­len las­sen, und ha­be da­mit zwei Be­deu­tungs­ebe­nen ein­ge­zo­gen: die er­ste be­trifft den Text und sei­ne Mach­art, die zwei­te mei­ne Ge­füh­le bei der Lek­tü­re. Zwei Flie­gen auf ei­nen Schlag so­zu­sa­gen.

Der Sittich der spanischen Übersetzerin dieeses Buchs hat hier seine Spuren hinterlassen © Leopold Federmair
Der Sit­tich der spa­ni­schen Über­set­ze­rin die­ses Bu­ches hat hier sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen © Leo­pold Fe­der­mair

Es kommt beim Le­sen nicht sel­ten vor, daß die Ge­füh­le un­si­cher und wech­sel­haft sind; gu­te, ris­kan­te, her­aus­for­dern­de oder neu­ar­ti­ge Li­te­ra­tur ruft sie eher her­vor als ge­fäl­li­ge, die be­strebt ist, den Le­ser zu »packen«. Das Buch, das ich jetzt, wäh­rend ich die­sen Text ab­schrei­be, le­se, Der Riß der Zeit geht durch mein Herz von Her­tha Pau­li, ein Er­in­ne­rungs­buch an den An­schluß Öster­reichs an Deutsch­land, an Ödön von Hor­vath und Jo­seph Roth, an Flucht und Exil in Pa­ris, ist ge­fäl­lig, span­nend, jung­mäd­chen­haft, gut­ge­launt trotz al­ler Schick­sals­schlä­ge. Ich le­se es gern, wiß­be­gie­rig, mit Zu­nei­gung zu den mei­sten Fi­gu­ren, aber ins Schwan­ken bringt es mei­ne Ge­füh­le und Ur­tei­le nicht.1) Li­te­ra­tur­kri­ti­ker ver­schwei­gen sol­che Ge­füh­le in der Re­gel, sie müs­sen zu ei­ner Be­wer­tung kom­men, drei Ster­ne von fünf, oder doch drei­ein­halb… Bei an­de­ren Au­toren ist der Wech­sel der Le­se­ge­füh­le über die lan­ge Rei­he ih­rer Bü­cher ver­teilt, ei­ni­ge da­von ge­fal­len mir, an­de­re nicht. Bei Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi ist die­se Un­si­cher­heit selbst ein Grund, im­mer wie­der et­was von ihm zu le­sen. Kaf­ka am Strand fand ich sehr gut, ein post­mo­der­ner, viel­schich­ti­ger und trotz­dem leicht­le­bi­ger Mix, pu­ber­tä­re Li­te­ra­tur à la Her­mann Hes­se, mag sein (Mu­ra­ka­mis Held ist der Pu­ber­tät ge­ra­de eben ent­wach­sen); Karl-Mar­kus Gauß, ei­ner der tap­fer­sten und aus­dau­ernd­sten Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, hat sich in die­sem Sinn ge­äu­ßert, aber ich ha­be mich bei der Lek­tü­re gut un­ter­hal­ten und Zu­nei­gung zu ein­zel­nen Fi­gu­ren ge­faßt.2 Gut mög­lich, daß Mu­ra­ka­mi sei­ne Fi­gu­ren, auch die Bö­se­wich­te, zu sehr liebt, daß er sie ver­hät­schelt und manch­mal ver­dirbt: ty­pi­scher Fall von amay­a­ka­su, von ka­wai­ga­ru – bei­de Wör­ter ver­wei­sen auf ja­pa­ni­sche Stär­ken, die sich un­merk­lich in Übel ver­wan­delt ha­ben: ka­waii und amae, die klei­nen hüb­schen Din­ge und das Lieb-und-an­ge­paßt-Sein. Die Lek­tü­re von Kaf­ka am Strand hat mir durch­aus Mo­men­te der Er­kennt­nis ge­währt, in de­nen Zu­sam­men­hän­ge auf­ge­gan­gen sind, ja, so­gar et­was wie Er­leuch­tung ahn­bar ge­wor­den ist.

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  1. Von Anfang an hörte ich aus diesem Buch einen bestimmten Ton, der sich bis zum Ende durchzieht: den fast mädchenhaften Ton der guten Laune, der selbstständigen, lebensfrohen jungen. Hertha Pauli hat das Buch im Alter von sechzig Jahren geschrieben, die "Erlebnisse" – sie nennt es tatsächlich "Erlebnisbuch" –, von denen die Rede ist, zeigen sie um 1938/39 im Alter von 31, 33 Jahren, da ist sie wirklich frei und ungebunden, doch als Halbjüdin und österreichische Patriotin auch bedroht, ohne Zukunftsaussichten. Der Widerspruch – Elend und Gefälligkeit – ist in diesem Fall nicht wirklich produktiv, die Erzählung zu linear und einsinnig, um mehr entstehen zu lassen als einen Bericht, den man gern verschlingt, weil man natürlich wissen will, wie die Geschichte einer Flucht ausgeht, und zweitens, weil die Frau so viele interessante Bekannte hatte, die meisten von ihnen Schriftsteller. Hier ein Beispiel für den unbekümmerten Ton. Pauli beschreibt eine Kellnerin in einem Dorf in Südwestfrankreich: "Da ihre Oberlippe zu kurz war, um über die vorstehenden Zähne zu reichen, blieb ihr Mund stets wie fragend offen. Auch Sanftmut und Wehrlosigkeit hatte sie mit einem Kaninchen gemein. So war Paulette die allgemeine Jagdbeute des Ortes, und als sie schließlich ein Kind gebar, war wohl der ganze Burschenstammtisch der Papa." In Zeiten von Me too kaum vorstellbar, daß eine emanzipierte Frau und Anftifaschistin so naiv und spaßhaft über die sexuellen Umtriebe einer Dorfjugend und so "lookistisch" über eine hart arbeitende junge Kellnerin schreibt. Da könnten glatt Rufe nach Zensur und Ächtung laut werden… Lest dieses Buch, das in der Reihe "Die Frau in der Literatur" – 1990, lang ist's her – neu aufgelegt wurde, bloß nicht! Aber nein, Frauensolidarität geht vor, lest es oder kauft es zumindest. Dank Google – danke! – erfahre ich, daß erst vor kurzem ein Roman von Hertha Pauli über ein Mädchen, welches das KZ überlebt hat, erschienen ist, und zwar in einem sogenannten Frauenverlag. Die Geschichte erinnert ein wenig an die von Ariel Magnus' Großmutter. (Inzwischen habe ich sie zu lesen begonnen. Der Riß der Zeit lohnt die Lektüre unbedingt; Jugend nachher, Paulis Nachkriegsroman über die Schicksale eines Mädchens, das das KZ überlebt hat, eher nicht. Der Titel verweist ungeschickt auf Jugend ohne Gott von Ödön von Horvath, den die Autorin in jungen Jahren heiß geliebt hatte. Einiges über diese alles in allem unglückliche Liebe kann man in Der Riß der Zeit erfahren. 

  2. Daß Hesse von den Snobs mit größter Hartnäckigkeit niedergemacht wird, ist eine andere Geschichte. Meine Tochter liest gerade Unterm Rad, das allein ist für mich ein Grund, meinen sicherlich verschmutzten Wertungsfilter wieder einmal zu reinigen. Ich erinnere mich an eine sehr ferne Lektüre von Narziß und Goldmund. Auch dieses Buch hat in meinem Tiefengedächtnis Spuren hinterlassen und erinnert mich immer – besser: für immer – an den unauflösbaren Konflikt mit meinem Bruder. "Erinnert mich", heißt in diesem Fall: beeinflußt meine Art, mit diesem Konflikt umzugehen. Überhaupt kriege ich Lust, das Pubertäre, Unreife in Schutz zu nehmen – und denke auch gleich an einen Vorläufer, Witold Gombrowicz, den Verfechter der Unreife. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑5/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

(← 4/8)

Thomas Stangl in Wien, Altottakring, Café Ritter © Leopold Federmair
Tho­mas Stangl in Wien, Al­tot­ta­kring, Ca­fé Rit­ter © Leo­pold Fe­der­mair

Der Va­ter Do­ra Bru­ders, auch er in Ausch­witz er­mor­det, ist 1899 in Wien ge­bo­ren. Mo­dia­no si­chert auch sei­ne Spu­ren, we­ni­ge, viel war nicht her­aus­zu­brin­gen. Wahr­schein­lich hat­te er in der Leo­pold­stadt ge­lebt, dem Ju­den­vier­tel von Wien. So et­wa, durch­aus wirk­lich­keits­ge­recht, skiz­ziert Mo­dia­no den von der Do­nau, den Pra­ter­au­en und den Ge­lei­sen der Nord­bahn um­grenz­ten Be­zirk. Bei ei­nem Se­mi­nar mit dem Wie­ner Schrift­stel­ler Tho­mas Stangl ha­be ich des­sen Bü­cher, oder ei­ni­ge da­von, als »Do­nau­ro­ma­ne« be­zeich­net, der Aus­druck war mir beim Re­den ein­ge­fal­len. In Ih­re Mu­sik und in Was kommt ist ei­ne Woh­nung am Kar­me­li­ter­markt, der auch bei Mo­dia­no er­wähnt wird, der – ziem­lich stil­le – Mit­tel­punkt, das Kraft- und auch Schwä­che­zen­trum der Er­zäh­lun­gen. Ei­ne Ebe­ne der Hand­lung von Was kommt ist zeit­lich-hi­sto­risch ge­nau be­stimmt, 1937, die Prot­ago­ni­sten sind jun­ge Leu­te im Al­ter Do­ra Bru­ders, als sie im Win­ter 41/42 vom In­ter­nat oder von Zu­hau­se aus­reißt; ein jun­ges Lie­bes­paar bei Stangl, er Ju­de, sie nicht – ein Un­ter­schied, der an­fangs für sie gar kei­ne Rol­le spielt. Auch Stangls Er­zäh­lun­gen ent­fal­ten ei­ne Au­ra des Un­ge­sag­ten, doch ih­re Poe­tik ist der von Mo­dia­no fast trans­ver­sal ent­ge­gen­ge­setzt. Wäh­rend Mo­dia­no Raum läßt, die Sze­nen und Bil­der locker ne­ben­ein­an­der­setzt (wie Fri­do Lam­pe, der 1945 in Ber­lin er­schos­se­ne deut­sche Au­tor, den Mo­dia­no als »Freund, den ich nicht ken­nen­ler­nen durf­te«, in sein Buch auf­nimmt), schafft Stangl durch im­mer wei­ter ge­hen­de Dif­fe­ren­zie­rung der Aspek­te, Per­spek­ti­ven, Vor­stel­lun­gen und Ver­mu­tun­gen Er­zähl­ge­we­be oder –mo­sai­ke (oder bei­des: stoff­li­che Mi­ne­ral­struk­tu­ren, mi­ne­ra­li­sche Stoff­mu­ster) von äu­ßer­ster, schwer zu durch­drin­gen­der Dich­te, in wel­chen der Sinn, die Be­zie­hun­gen, die Iden­ti­tä­ten un­si­cher sind oder wer­den. Ein fran­zö­si­scher Au­tor, der ei­ne ähn­li­che Poe­tik ent­wickelt hat, ist Pierre Mi­chon: Ge­spen­ster, un­greif­ba­re Iden­ti­tä­ten, be­völ­kern sei­ne Bü­cher. Mo­dia­no steht, wenn man sich ei­ne wacke­li­ge Hän­ge­brücke vor­stel­len mag, am an­de­ren En­de, auf der an­de­ren Sei­te. In der Mit­te, über dem rei­ßen­den Fluß, das Ge­spenst. Die Au­toren nä­hern sich von ver­schie­de­nen Sei­ten, aber da ist ei­ne Ge­mein­sam­keit im Schöp­fe­ri­schen, das Nach­zeich­nen oder Er­zeu­gen, das nach­zeich­nen­de Er­zeu­gen und er­zeu­gen­de Nach­zeich­nen von un­si­che­ren Iden­ti­tä­ten. Si­chern oder ver­un­si­chern? Oder bei­des? Den Ab­sturz ris­kie­ren; ver­mei­den.

Brücke: als Me­ta­pher ab­ge­grif­fen, und doch. Das Ge­mein­sa­me, die Mit­te zwi­schen den En­den: Neu­gier für Men­schen, Sor­ge um sie; Ein­füh­lung und Zu­rück­hal­tung; Nä­he und Di­stanz. Die Brücken span­nen sich in uns selbst (im Au­tor, im Le­ser). Vor ei­ni­gen Jah­ren ist mir ein Be­griff zu­ge­flo­gen, Trans­ver­sa­li­tät, ich ha­be dar­aus den Roh­bau ei­ner trans­ver­sa­len Äs­the­tik ge­schaf­fen und hat­te da­bei das Auf­ein­an­der-Be­zie­hen von un­ter­schied­li­chen kul­tu­rel­len Ele­men­ten im Au­ge, das sprach­li­che Hin und Her, auch Über­set­zen ge­nannt, zwi­schen Ufer und Ufer (ei­gent­lich ein Brücken­schla­gen und Her­über­ho­len, oder im Kahn trans­por­tie­ren), ein Kreu­zen von Spra­chen, über­ra­schen­de Be­geg­nung, viel­leicht nur ein An­strei­fen, flüch­ti­ges Be­rüh­ren von Wer­ken, Au­toren, von Or­ten auf dem Glo­bus, von Er­fah­run­gen und auch: von Zei­ten. Für die­se Hal­tung, die­sen Knäu­el von An­sät­zen und Aus­sich­ten ha­be ich den Be­griff usur­piert, ein un­voll­end­ba­res Bau­werk, wie ge­sagt, work in pro­gress: trans­ver­sa­le Äs­the­tik, im wei­te­ren Sinn, schrä­ge Wahr­neh­mungs­kun­de1. Da­bei hat­te ich zu­nächst Leu­te im Au­ge, Au­toren und Künst­ler, Fla­neu­re, Be­trach­ter, ak­tiv Wahr­neh­men­de, ob sie nun ein Werk schaf­fen oder nicht; Leu­te, die die Kul­tur­krei­se wech­seln, ver­bin­den, schnei­den, »hy­bri­di­sie­ren«, um ein Mo­de­wort zu ge­brau­chen, das lang­sam aus der Mo­de zu kom­men scheint. Die mei­sten Men­schen ma­chen heu­te sol­che Er­fah­run­gen, oft un­be­wußt oder pas­siv, je­der ist stän­dig Ein­flüs­sen, Rei­zen, Da­ten aus al­len Rich­tun­gen aus­ge­setzt und muß aus­wäh­len kreu­zen hy­bri­di­sie­ren, so­fern er die Aus­wahl, das Ar­ran­ge­ment etc. nicht ei­ner Ma­schi­ne (ei­nem »Al­go­rith­mus«) über­läßt, und das tun lei­der die mei­sten.

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  1. Es würde mir gefallen, hier eine Parallele – oder Transversale – zum englischen Wort und der entsprechenden Vorstellung von queer zu sehen, aber das ideologische Fundament, die akademische Strenge und die Kanalisierung des Blicks auf "Gender" sowie auf Homo-, Bi- und Transsexualität der sogenannten Queer Studies nimmt mir jede Lust auf diesen Vergleich. Das Wort scheint sich übrigens aus dem Deutschen (von "quer") in den englischen Sprachschatz geschwindelt zu haben: quer, abweichend, seltsam, ungewöhnlich 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑4/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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No birth no death! (Arashiyama) © Leopold Federmair
No birth no de­ath! (Aras­hi­ya­ma) © Leo­pold Fe­der­mair

Ich weiß nicht, ob ich mich freu­en soll über die neue Lang­sam­keit, zu der ich im wirk­li­chen Le­ben seit ei­ni­gen Mo­na­ten ge­zwun­gen bin, oder ob ich wü­tend sein soll über mei­nen Kör­per, der bei dem manch­mal doch ge­wünsch­ten Tem­po nicht mit­macht. Be­son­ders bei Stei­gun­gen, und noch mehr, wenn Trep­pen zu über­win­den sind. Im­mer­hin, ich ha­be es bis hier­her ge­schafft, ein klei­ner Auf­stieg zu den An­hö­hen über dem Tal von Aras­hi­ya­ma, wo tief un­ten der grü­ne Fluß fließt und sich sel­ten ein Tou­rist blicken läßt. Den be­rühm­ten Bam­bus­hain auf der an­de­ren Sei­te ha­be ich ge­mie­den – sol­len sie sich dort drän­gen. Die­ser Hain mit sei­nen ho­hen und schlan­ken, zum Spitz­bo­gen zu­sam­men­lau­fen­den Bäu­men ist schön, aber viel zu klein für sol­che Men­schen­mas­sen: die mil­lio­nen­fach ver­brei­te­ten Fo­tos ver­ra­ten das Miß­ver­hält­nis nicht. Hier oben bin ich vor ei­nem Jahr ge­we­sen, am 2. Jän­ner, es war ge­nau­so warm wie heu­te, gu­tes Schreib­wet­ter, und ha­be Faul­k­ner ge­le­sen, ich sag­te es schon. Da­mals bin ich noch ein gu­tes Stück wei­ter berg­auf­wärts ge­lau­fen, aber nach­dem ich mehr­mals Wild­schwei­ne in mei­ner Nä­he grun­zen hör­te, mach­te ich kehrt. Die Ge­gend hier spielt in Ju­ni­chi­ro Ta­ni­zakis Ro­man Sa­sa­mey­u­ki ei­ne Rol­le, Die Schwe­stern Ma­ki­o­ka (die deut­sche Über­set­zung ist nicht gut und schon lan­ge ver­grif­fen); der schön klin­gen­de ja­pa­ni­sche Ti­tel be­deu­tet »leich­ter Schnee­fall« (den es im Win­ter in Kyo­to manch­mal gibt). Die Fa­mi­lie Ma­ki­o­ka, vier Schwe­stern, glau­be ich mich zu er­in­nern, ver­bringt ei­nen Sonn­tag bei der Kirsch­blü­ten­schau, mit Fla­nie­ren und Spei­sen und Trin­ken und Sich-der-Welt-und-des-Le­bens-Er­freu­en. Un­ten bei der lan­gen Brücke, wo der Fluß ziem­lich in die Brei­te geht und viel wei­ßes Ge­röll in sei­nem Bett zu se­hen ist. Ta­ni­zaki ha­be ich – ne­ben Mishi­ma – bei mei­ner Auf­zäh­lung der Au­toren, die den Wunsch in mir weck­ten, al­les von ih­nen zu le­sen, ver­ges­sen. Un­er­füll­ba­rer Wunsch; zwar ha­be ich die zwei­bän­di­ge fran­zö­si­sche Aus­ga­be sei­ner Wer­ke in mei­nem Re­gal ste­hen, die viel mehr ent­hält als das, was auf deutsch von Ta­ni­zaki vor­liegt, aber im­mer noch viel we­ni­ger als das, was er in ei­nem lan­gen Schrei­ber­le­ben ge­schaf­fen hat. Um die Wahr­heit zu sa­gen, ich ha­be nicht ein­mal die Plé­ia­de-Aus­ga­be zur Gän­ze ge­schafft; man kann nicht al­les be­wäl­ti­gen, ist mehr und mehr zum Aus­wäh­len ge­zwun­gen. Der Blick auf Ta­ni­zakis Werk ist im deut­schen Sprach­raum durch den Er­folg sei­nes schma­len Es­says Lob des Schat­tens ver­stellt, der im­mer wie­der zi­tiert wird von Leu­ten, die zei­gen wol­len, daß sie die »Es­senz der ty­pisch ja­pa­ni­schen Äs­the­tik« (oder so) ver­stan­den ha­ben.

Wei­ter­le­sen ...