Hand­kes Ra­che

Peter Handke: Das zweite Schwert
Pe­ter Hand­ke:
Das zwei­te Schwert

» ‘Das al­so ist das Ge­sicht ei­nes Rä­chers!’ sag­te ich zu mir, als ich mich an dem be­wuß­ten Mor­gen, be­vor ich mich auf den Weg mach­te, im Spie­gel an­sah.«

Mit die­sem Satz be­ginnt Pe­ter Hand­kes Er­zäh­lung Das zwei­te Schwert, und als Le­ser könn­te man nun an­neh­men, die im Un­ter­ti­tel ver­spro­che­ne »Mai­ge­schich­te« wer­de als­bald los­ge­hen. Der ent­schlos­se­ne Ge­stus des An­fan­gens er­in­nert an be­kann­te Er­zähl­werk der Li­te­ra­tur­ge­schich­te, wo der Au­tor gleich zu Be­ginn ei­ni­ge wich­ti­ge Mit­tei­lun­gen über die Haupt­fi­gur und die Si­tua­ti­on macht, in der er sich be­fin­det. »Je­mand muß­te Jo­sef K. ver­leum­det ha­ben, denn oh­ne daß er et­was Bö­ses ge­tan hät­te, wur­de er ei­nes Mor­gens ver­haf­tet.« Tat­säch­lich geht die­se Ge­schich­te so­gleich los, die bei­den Scher­gen bre­chen in K.s Le­ben ein, doch be­kannt­lich ver­wickelt sich die Ge­schich­te im­mer mehr, sie fin­det kein En­de, und wenn es ei­nes gibt – Kaf­ka hat es skiz­ziert –, so weiß man nicht, wie die Er­zäh­lung dort­hin ge­lan­gen kann. Der Ro­man ist Frag­ment ge­blie­ben.

Hand­ke hat die Wer­ke, die wir von ihm ken­nen, al­le­samt ab­ge­schlos­sen, doch im Ver­lauf sei­nes Schrift­stel­ler­le­bens hat er die Di­rekt­heit mit der er in frü­hen Er­zäh­lun­gen in me­di­as res ging, ver­lo­ren oder be­wußt ab­ge­legt. Der Wech­sel er­folg­te in et­wa zu der Zeit, in der Hand­ke sich von Kaf­ka als Vor­bild los­sag­te. Die Angst des Tor­manns beim Elf­me­ter zum Bei­spiel be­ginnt so: »Dem Mon­teur Jo­sef Bloch der frü­her ein be­kann­ter Tor­mann ge­we­sen war, wur­de, als er sich am Vor­mit­tag zur Ar­beit mel­de­te, mit­ge­teilt, daß er ent­las­sen sei.« Kom­pak­te Syn­tax und viel (für not­wen­dig ge­hal­te­ne) Mit­tei­lung, wie in den Ge­schich­ten Kleists. Un­ver­mit­telt er­fah­ren wir Na­men, Be­ruf, sport­li­che Ak­ti­vi­tät und die Si­tua­ti­on, in die sich der Held ge­wor­fen sieht. In ei­nem spä­te­ren Werk, in dem Hand­ke die Ge­schich­te des »ge­glück­ten Tags« zu er­zäh­len ver­sucht, fragt sich der Er­zäh­ler selbst, wes­halb er den ei­gent­li­chen Be­ginn im­mer wie­der ver­schiebt.

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Ku­re oder Wie man ei­ne Stadt doch noch ent­deckt

Ku­re. War­um nicht. Ich kann­te die Stadt na­tür­lich, hat­te mich ihr aber nie von hin­ten ge­nä­hert, im­mer nur von der Sei­te. Und ein­mal von vor­ne, bei der Rück­kehr aus Matsu­ya­ma, auf der Haupt­in­sel Shi­ko­ku, mit dem Schiff. Der Kö­nigs­weg um ei­ne Stadt am Meer ken­nen­zu­ler­nen, sagt man. Aber nicht je­de die­ser Städ­te trägt ein so of­fe­nes Ge­sicht wie Ve­ne­dig, vie­le ver­schlie­ßen sich, sie er­war­ten kei­ne wohl­wol­len­den Be­su­cher, son­dern Ge­fah­ren, Tai­fu­ne, Spring­flu­ten, Feuch­tig­keit, feind­li­che Schif­fe.

So war es auch, als ich Ca­ta­nia ken­nen­lern­te, die Stadt in Si­zi­li­en, am Fuß des Ät­na hin­ge­streckt. Die Flan­ke des Vul­kans steigt lang­sam und ste­tig an – und um­ge­kehrt, man geht den Weg hin­un­ter, dem Meer zu, das man von wei­ter oben sehr schön se­hen kann, aber wei­ter un­ten sind dann Ge­bäu­de da­vor, nur noch Him­mel dar­über. Als ich das er­ste Mal nach Ca­ta­nia kam, such­te ich nach dem Meer, aber je wei­ter ich in die Rich­tung mar­schier­te, in der es lie­gen muß­te, de­sto häß­li­cher und be­droh­li­cher wur­de die Ge­gend. Mit wei­chen Knien kehr­te ich um, nach­dem mir ein dicker Mann auf ei­nem stot­tern­den Mo­fa ent­ge­gen­ge­kom­men war, bö­se Gri­mas­se schnei­dend, ein­hän­dig fah­rend, mit der an­de­ren Hand Schlä­ge ge­gen mich aus­tei­lend, die mich nicht er­reich­ten und den­noch tra­fen. Nein, die Ge­gen­den zum Meer hin sind nicht im­mer herz­er­fri­schend. Vie­le Städ­te wen­den sich vom Meer ab und zie­hen Schutz­vor­rich­tun­gen ge­gen die er­wähn­ten Ge­fah­ren hoch. Nur Ur­lau­ber aus Bin­nen­län­dern den­ken im­mer, am Meer müs­se es am schön­sten sein. Sie ken­nen das Meer, sei­ne Lau­nen und sei­ne Ge­walt nicht. Mar­seil­le ist ei­ne Aus­nah­me, ge­wiß. Auch Bar­ce­lo­na… Es gibt vie­le Aus­nah­men, of­fe­ne Städ­te – schon siehst du dich die Ca­ne­biè­re hin­un­ter­schlen­dern, bis sie in den Al­ten Ha­fen mün­det, am Kai setzt du dich auf die Ter­ras­se ei­nes Ca­fés, war­test auf die Meer­jung­frau, von der du bei Yo­ko Ta­wa­da ge­le­sen hast…

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Die Schu­he von Eta­ji­ma

Die In­sel Eta­ji­ma hat ei­ne be­trächt­li­che Aus­deh­nung (wenn ich nicht ir­re, ist es die größ­te In­sel der In­lands­see), ist aber selt­sam zer­ris­sen, so als be­stün­de sie aus meh­re­ren über­ein­an­der­ge­wor­fe­nen Halb­in­seln und Land­zun­gen, die nach al­len Rich­tun­gen ans Meer lecken. Ab­ge­se­hen da­von, daß man beim Wan­dern oder Rad­fah­ren gern mal die Ori­en­tie­rung ver­liert, stellt sich die Fra­ge der An­rei­se. Soll ich, aus dem Osten kom­mend, mit der Stra­ßen­bahn zum Ha­fen von Hi­ro­shi­ma fah­ren und dort ei­ne Fäh­re neh­men? Oder nach Ku­re fah­ren, was mit öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln um­ständ­lich ist, und dort ei­nen Bus neh­men oder gar ein Ta­xi, um an die süd­west­li­che Flan­ke der In­sel zu ge­lan­gen? Von die­ser Sei­te kann man auf Rä­dern, über Brücken, von In­sel zu In­sel, nach Eta­ji­ma rei­sen (die Schiffs­li­ni­en dort wur­den vor lan­ger Zeit ein­ge­stellt).

Nun, es ist klar, ich be­ge­be mich für mein Le­ben gern auf klei­ne, mit­un­ter auch grö­ße­re Schiffs­rei­sen, und zum Glück geht von Uji­na, dem Ha­fen von Hi­ro­shi­ma, ein Boot nach Ko­you, von wo man zu Fuß zur Ma­ri­ne­schu­le ge­hen kann. Auf der Fahrt las­se ich mich von den Wel­len schau­keln und wie­gen wie ein Gau­cho auf dem Pfer­de­rücken in der fla­chen Pam­pa. Das sind so mei­ne Il­lu­sio­nen und Freu­den, freu­di­gen Il­lu­sio­nen, die mich in die Welt Mon­tai­gnes zu­rück- oder vor­wärts­füh­ren, zu­rück und vor­wärts, wo man die­sem Rock’n‘Roll noch ein rech­tes Lob­lied sin­gen konn­te.

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Kom­po­nie­ren­de Com­pu­ter

Kön­nen wir in Zu­kunft auf künst­le­ri­sche Krea­ti­vi­tät ver­zich­ten?

1

Der 1979 in Pa­ris ge­bo­re­ne Brat­schist An­toine Ta­me­stit, der ein wei­tes Re­per­toire von Bach und Mo­zart bis Schnitt­ke und Neu­wirth be­herrscht, hat­te sei­ne er­sten grö­ße­ren Auf­trit­te im Al­ter von zwan­zig Jah­ren. Seit­dem hat sich vie­les ver­än­dert, der Stel­len­wert von Vi­de­os und so­zia­len Netz­wer­ken prä­ge längst auch die Klas­si­sche Mu­sik. »Je­der möch­te be­rühmt sein, schnell be­rühmt vor al­lem. Ich den­ke, es ist wich­tig, zu der klas­si­schen Mu­sik an sich zu­rück­zu­kom­men«, sag­te er un­längst im In­ter­view mit der Pots­da­mer Zei­tung. Da­für müs­se man sich ih­re Ge­schich­te an­schau­en, als es kei­ne Vi­de­os und kei­ne Elek­tri­zi­tät gab. Wich­tig sei, sich Zeit zu neh­men. »Ich ver­su­che das, in­dem ich Bü­cher le­se oder manch­mal ei­nen ge­sam­ten Tag da­mit ver­brin­ge, ei­ne ein­zi­ge Par­ti­tur zu stu­die­ren. Ich ge­he in dem Punkt ei­nen ent­ge­gen­ge­setz­ten Weg, was nicht be­deu­tet, dass ich nicht auch Teil mei­ner Zeit sein muss. Aber um Kunst zu pro­du­zie­ren, mußt du ir­gend­wie ein biß­chen lang­sa­mer sein und ein Ge­hirn ha­ben, das nicht über­schwemmt von ir­rele­van­ten In­for­ma­tio­nen ist.«

2

Hier ei­ne ganz an­de­re Stim­me, sie ge­hört dem 1976 in Is­ra­el ge­bo­re­nen Hi­sto­ri­ker und Best­sel­ler­au­tor Yu­val No­ah Ha­ra­ri. In sei­nem Buch Ho­mo De­us stellt er dem Le­ser Da­vid Cope vor, ei­nen – in­zwi­schen eme­ri­tier­ten – Mu­si­ko­lo­gie­pro­fes­sor von der Uni­ver­si­ty of Ca­li­for­nia. Cope hat Com­pu­ter­pro­gram­me zur Er­stel­lung von Kla­vier­kon­zer­ten und Cho­rä­len, Sym­pho­nien und Opern ge­schrie­ben. Sein er­stes Werk zur Er­zeu­gung sol­cher Wer­ke war der EMI (Ex­pe­ri­ments in Mu­si­cal In­tel­li­gence), der auf Mu­sik in der Ma­nier von Jo­hann Se­ba­sti­an Bach spe­zia­li­siert war. »Es dau­er­te sie­ben Jah­re«, schreibt der en­thu­si­as­mier­te Ha­ra­ri, »doch als Cope da­mit fer­tig war, kom­po­nier­te EMI 5.000 Cho­rä­le à la Bach in ei­nem ein­zi­gen Tag. En­thu­sia­sti­sche Zu­hö­rer prie­sen die mit­rei­ßen­de Vor­füh­rung und er­klär­ten er­regt, wie sehr die Mu­sik ihr in­ner­stes We­sen be­rührt hät­te. Sie wuß­ten nicht, daß sie mehr von EMI als von Bach ge­schaf­fen wor­den war, und als man ih­nen die Wahr­heit ent­hüll­te, re­agier­ten die ei­nen mit ver­drieß­li­chem Schwei­gen, wäh­rend die an­de­ren sich laut­stark er­ei­fer­ten.«

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Die Kunst des Auf­ge­bens V

(← IV)

Noch ein Nach­spiel

Es war im­mer noch früh, und so be­schloß ich, in Mit­a­ki aus­zu­stei­gen. Seit lan­gem will ich mir die­sen, wie ich oft sa­gen hör­te, spi­ri­tu­el­len Ort an­se­hen. Ich war schon ein­mal hier ge­we­sen, oder doch in der Nä­he, mit mei­ner Toch­ter, als sie klein war. Der Na­me Mit­a­ki be­deu­tet »drei Was­ser­fäl­le«. Schon da­mals hat­te ich mir ge­sagt, ich möch­te doch zu gern wis­sen, ob es sich um ei­nen drei­tei­li­gen Was­ser­fall han­delt oder wirk­lich um drei von­ein­an­der ge­trenn­te, ver­schie­de­ne. Der Auf­stieg bis zur hei­li­gen Zo­ne ist et­was müh­sam, nicht so sehr we­gen der Steil­heit des Ge­län­des als we­gen des Asphalts und den sich gar so hin­zie­hen­den Kur­ven. Die Be­su­cher kom­men im Au­to hier­her, ei­ni­ge we­ni­ge auch im Li­ni­en­bus. Es gibt da wie­der ein­mal ei­ne Ga­be­lung, links geht es zum Wald­spiel­platz und zum Na­tur­mu­se­um für Kin­der, rechts zum Tem­pe lare­al. Yo­ko­hat­te sich na­tur­ge­mäß für das Spiel ent­schie­den, ge­gen bud­dhi­sti­sche Be­schau­lich­keit, und sie war so oft die lan­ge, dem Ge­län­de sich an­schmie­gen­de blaue Rut­sche hin­un­ter­ge­glit­ten und hat­te sämt­li­che Ge­schick­lich­keits­par­cours, Klet­ter­wän­de und Hän­ge­brücken aus­pro­biert, bis sie völ­lig er­schöpft und es Zeit zur Heim­rei­se war.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens V – © Leopold Federmair
Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens V – © Leo­pold Fe­der­mair

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Die Kunst des Auf­ge­bens IV

(← III)

Nach­spiel

Da ich mit Dai­ko­ku nun ein­mal ver­traut, wenn nicht so­gar ver­trau­lich ge­wor­den war, konn­te ich nicht um­hin, den Schrein auf­zu­su­chen, der sei­nen Na­men trug. Er war mir auf der Land­kar­te auf­ge­fal­len, lag noch in un­se­rer Re­gi­on, aber ziem­lich weit weg von mei­ner nä­he­ren Um­ge­bung. Ich konn­te ihn nur mit der Ei­sen­bahn er­rei­chen, stieg am Haupt­bahn­hof von Hi­ro­shi­ma in ei­nen Wag­gon der mir recht ver­trau­ten Ka­be-Li­nie um.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens IV – © Leopold Federmair
Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens IV – © Leo­pold Fe­der­mair

Der Ort selbst hieß Bai­rin, al­so Pflau­men­hain; noch ein Grund für mich, hin­zu­fah­ren. Ich stieg an ei­nem wah­ren Pro­vinz­bahn­hof aus, kaum mehr als ei­ne Hal­te­stel­le, mit We­gerl ne­ben dem ein­zi­gen Ge­leis, das der Bahn­steig für ein paar Me­ter in zwei ga­bel­te. Da­bei wur­de der Raum jen­seits des Ge­lei­ses, stadt­sei­tig, von ei­nem weit­läu­fi­gen Ein­kaufs­zen­trum mit den üb­li­chen fen­ster­lo­sen Kä­sten und Ku­ben ein­ge­nom­men, wäh­rend ge­gen­über die be­wal­de­ten Ber­ge als­bald steil an­stie­gen. Auf der Kar­te hat­te ich er­kannt, daß ich ein Stück­weit ge­gen die Fahrt­rich­tung zu ge­hen hat­te, und war über­rascht, als der Schrein, bes­ser: das Schrein­chen schon nach we­ni­gen Schrit­ten vor mir auf­tauch­te. Be­drängt von ei­nem Ein­fa­mi­li­en­haus, zwei da­vor ge­park­ten Au­tos und lau­ter Ra­dio­mu­sik, schien es sich dünn zu ma­chen wie je­mand, der den Bauch ein­zieht – ein Ein­druck, den die vie­len klei­nen, an Obe­lis­ken er­in­nern­den Schrift­säul­chen, die ihn um­frie­de­ten, noch ver­stärk­te. Ich ging ein‑, zwei­mal um ihn her­um. Von Dai­ko­ku kei­ne Spur, über­haupt kei­ne ein­zi­ge Sta­tue, nur die üb­li­che Lee­re im Ta­ber­na­kel. Der Kra­nich im Gie­bel­feld, die Flü­gel über Wel­len oder Wol­ken aus­ge­brei­tet, war die ein­zi­ge Ver­bin­dung zu mei­ner Be­geg­nung mit der lu­sti­gen Gott­heit in Ogu­ra. Im­mer­hin!

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Die Kunst des Auf­ge­bens III

(← II)

Wie­der am bi­vio, war­um nicht doch die an­de­re Mög­lich­keit wäh­len? Ent­schei­dung re­vi­die­ren? Bei­des tun! Es ging steil berg­auf, zu­letzt war die Stra­ße ge­schot­tert, wohl hat­te man sie ver­brei­tert, da­mit Bag­ger an den Schrein her­an­kä­men, die ich dort im ab­ge­holz­ten Ge­län­de ta­ten­los her­um­ste­hen sah. Ei­ne Ta­fel be­zeich­ne­te dem Be­su­cher den Ort, das Grün­dungs­da­tum 1204, da­zu das Göt­ter­lied von Mi­na­mo­to no Yor­i­ma­sa, ei­nem dich­ten­den Krie­ger, der es im Jahr­hun­dert vor dem drei­zehn­ten (nach christ­li­cher Zeit­rech­nung) ver­faßt hat­te. Das klei­ne Bau­werk war zwei­fel­los viel­mal er­neu­ert wor­den, si­cher auch manch­mal be­schä­digt, un­ter­spült, von ei­nem stür­zen­den Baum ge­trof­fen, neu er­rich­tet, wie es hier­zu­lan­de so oder so der Brauch ist. Bei den letz­ten Un­wet­tern hat­te sich das Erd­reich links und rechts vom Ogu­ra-Schrein ge­löst, zwei La­wi­nen wa­ren an ihm vor­bei­gerauscht, er selbst hat die Ka­ta­stro­phe über­stan­den.

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

Ha­be jetzt wirk­lich den Rand des Ran­des der Welt er­reicht: das war mein Flü­ster­ge­dan­ke, als ich die letz­te Stu­fe der Stein­trep­pe hin­ter mir hat­te und auf dem Pla­teau stand. Wenn die Er­de an­nä­hernd ei­ne Ku­gel ist, gibt es kei­nen Rand, es gibt nur Mit­ten. Der Ogu­ra-Schrein be­fand sich in der Mit­te der Mit­te. Bei­des galt, Rand und Mit­te. Und die Be­we­gung konn­te im­mer noch wei­ter­ge­hen. Ob­wohl sich in Bäl­de, dach­te ich, ei­ne Pau­se emp­fiehlt. Ein (vor­läu­fi­ges) En­de von Rand und Mit­te.

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Die Kunst des Auf­ge­bens II

(← I)

Den Ogu­ra-Schrein woll­te ich noch nicht auf­ge­ben. Es gab, laut Kar­te, die ich dies­mal wohl­weis­lich ein­steck­te, noch ei­nen an­de­ren Zu­brin­ger zu die­ser schnur­ge­ra­den, am En­de nur noch strich­lier­ten Stra­ße. Ich fuhr al­so los, lern­te wie­der ein paar Ort­schaf­ten ken­nen, kam an ei­nem ur­alten mäch­ti­gen Block­haus vor­bei, das vor vie­len Jah­ren als Ge­mischt­wa­ren­la­den ge­dient ha­ben muß­te, und sah we­nig spä­ter die lang­ge­zo­ge­nen fla­chen Ge­bäu­de aus dem­sel­ben dunk­len Holz, das Ge­län­de um­ge­ben von Sta­chel­draht, hin­ter dem Haupt­tor ein Sol­dat. Wie sel­ten be­geg­ne ich hier Sol­da­ten, fast er­freut es mein pa­zi­fi­sti­sches Herz. Nun, das ja­pa­ni­sche Mi­li­tär ist fried­lie­bend, es dient ge­mäß der Ver­fas­sung von 1947 nur der Selbst­ver­tei­di­gung. Die Ka­ser­ne hat­te den letz­ten Krieg heil über­stan­den, drei­ßig Ki­lo­me­ter ent­fernt war ei­ne Atom­bom­be ex­plo­diert, ob die Krie­ger es da­mals, am 6. Au­gust, über­haupt mit­be­ka­men?

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens II – © Leo­pold Fe­der­mair

Vom Ogu­ra-Schrein je­doch kei­ne Spur. Ich fuhr ei­nen Ki­lo­me­ter weit zu­rück, nahm aufs Ge­ra­te­wohl ei­nen Reis­feld­weg, tam­bo­mic­hi, kam an ei­ner Volks­schu­le vor­bei und dann wirk­lich auf die er­sehn­te schnur­ge­ra­de, recht brei­te, nach zwei, drei Ki­lo­me­tern nicht mehr asphal­tier­te, durch Kie­fern­wäl­der schnei­den­de Stra­ße, die zwei­fel­los von den Sol­da­ten ge­baut wor­den war. Wei­ter drü­ben, in süd­west­li­cher Rich­tung, hat­te ich letz­tes Jahr ein ähn­li­ches Ge­biet durch­quert. Da­mals war ich ei­nem ein­sa­men Golf­spie­ler be­geg­net, jetzt war es ein Mo­to­cross­fah­rer, den ich ei­ne Zeit­lang vor mir her­rat­tern sah und bald nur noch hör­te, wie er sich auf Sei­ten­stra­ßen ent­fern­te, wie­der nä­her­kam, end­lich doch ent­fern­te. Der Bo­den war leh­mig, zu­erst gelb, dann braun, schließ­lich rot, und ich dach­te wie­der ein­mal an das Land der Gua­raní, an die ro­te Er­de und die – bis hin zur Haupt­stadt und dem An­we­sen von Dok­tor Fran­cia, dem Dik­ta­tor (dem Au­gu­sto Roa Ba­stos ein na­tur­ge­mäß am­bi­va­len­tes Denk­mal ge­setzt hat) – recht be­schei­de­nen, zu­rück­hal­ten­den Sied­lun­gen (auch die Haupt­stadt ein Dorf), die ich wohl nie mehr wie­der­se­hen wer­de.

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