Die Kunst des Auf­ge­bens IV

(← III)

Nach­spiel

Da ich mit Dai­ko­ku nun ein­mal ver­traut, wenn nicht so­gar ver­trau­lich ge­wor­den war, konn­te ich nicht um­hin, den Schrein auf­zu­su­chen, der sei­nen Na­men trug. Er war mir auf der Land­kar­te auf­ge­fal­len, lag noch in un­se­rer Re­gi­on, aber ziem­lich weit weg von mei­ner nä­he­ren Um­ge­bung. Ich konn­te ihn nur mit der Ei­sen­bahn er­rei­chen, stieg am Haupt­bahn­hof von Hi­ro­shi­ma in ei­nen Wag­gon der mir recht ver­trau­ten Ka­be-Li­nie um.

Bild 1 – Kunst des Aufgebens IV – © Leopold Federmair
Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens IV – © Leo­pold Fe­der­mair

Der Ort selbst hieß Bai­rin, al­so Pflau­men­hain; noch ein Grund für mich, hin­zu­fah­ren. Ich stieg an ei­nem wah­ren Pro­vinz­bahn­hof aus, kaum mehr als ei­ne Hal­te­stel­le, mit We­gerl ne­ben dem ein­zi­gen Ge­leis, das der Bahn­steig für ein paar Me­ter in zwei ga­bel­te. Da­bei wur­de der Raum jen­seits des Ge­lei­ses, stadt­sei­tig, von ei­nem weit­läu­fi­gen Ein­kaufs­zen­trum mit den üb­li­chen fen­ster­lo­sen Kä­sten und Ku­ben ein­ge­nom­men, wäh­rend ge­gen­über die be­wal­de­ten Ber­ge als­bald steil an­stie­gen. Auf der Kar­te hat­te ich er­kannt, daß ich ein Stück­weit ge­gen die Fahrt­rich­tung zu ge­hen hat­te, und war über­rascht, als der Schrein, bes­ser: das Schrein­chen schon nach we­ni­gen Schrit­ten vor mir auf­tauch­te. Be­drängt von ei­nem Ein­fa­mi­li­en­haus, zwei da­vor ge­park­ten Au­tos und lau­ter Ra­dio­mu­sik, schien es sich dünn zu ma­chen wie je­mand, der den Bauch ein­zieht – ein Ein­druck, den die vie­len klei­nen, an Obe­lis­ken er­in­nern­den Schrift­säul­chen, die ihn um­frie­de­ten, noch ver­stärk­te. Ich ging ein‑, zwei­mal um ihn her­um. Von Dai­ko­ku kei­ne Spur, über­haupt kei­ne ein­zi­ge Sta­tue, nur die üb­li­che Lee­re im Ta­ber­na­kel. Der Kra­nich im Gie­bel­feld, die Flü­gel über Wel­len oder Wol­ken aus­ge­brei­tet, war die ein­zi­ge Ver­bin­dung zu mei­ner Be­geg­nung mit der lu­sti­gen Gott­heit in Ogu­ra. Im­mer­hin!

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Die Kunst des Auf­ge­bens III

(← II)

Wie­der am bi­vio, war­um nicht doch die an­de­re Mög­lich­keit wäh­len? Ent­schei­dung re­vi­die­ren? Bei­des tun! Es ging steil berg­auf, zu­letzt war die Stra­ße ge­schot­tert, wohl hat­te man sie ver­brei­tert, da­mit Bag­ger an den Schrein her­an­kä­men, die ich dort im ab­ge­holz­ten Ge­län­de ta­ten­los her­um­ste­hen sah. Ei­ne Ta­fel be­zeich­ne­te dem Be­su­cher den Ort, das Grün­dungs­da­tum 1204, da­zu das Göt­ter­lied von Mi­na­mo­to no Yor­i­ma­sa, ei­nem dich­ten­den Krie­ger, der es im Jahr­hun­dert vor dem drei­zehn­ten (nach christ­li­cher Zeit­rech­nung) ver­faßt hat­te. Das klei­ne Bau­werk war zwei­fel­los viel­mal er­neu­ert wor­den, si­cher auch manch­mal be­schä­digt, un­ter­spült, von ei­nem stür­zen­den Baum ge­trof­fen, neu er­rich­tet, wie es hier­zu­lan­de so oder so der Brauch ist. Bei den letz­ten Un­wet­tern hat­te sich das Erd­reich links und rechts vom Ogu­ra-Schrein ge­löst, zwei La­wi­nen wa­ren an ihm vor­bei­gerauscht, er selbst hat die Ka­ta­stro­phe über­stan­den.

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens III – © Leo­pold Fe­der­mair

Ha­be jetzt wirk­lich den Rand des Ran­des der Welt er­reicht: das war mein Flü­ster­ge­dan­ke, als ich die letz­te Stu­fe der Stein­trep­pe hin­ter mir hat­te und auf dem Pla­teau stand. Wenn die Er­de an­nä­hernd ei­ne Ku­gel ist, gibt es kei­nen Rand, es gibt nur Mit­ten. Der Ogu­ra-Schrein be­fand sich in der Mit­te der Mit­te. Bei­des galt, Rand und Mit­te. Und die Be­we­gung konn­te im­mer noch wei­ter­ge­hen. Ob­wohl sich in Bäl­de, dach­te ich, ei­ne Pau­se emp­fiehlt. Ein (vor­läu­fi­ges) En­de von Rand und Mit­te.

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Die Kunst des Auf­ge­bens II

(← I)

Den Ogu­ra-Schrein woll­te ich noch nicht auf­ge­ben. Es gab, laut Kar­te, die ich dies­mal wohl­weis­lich ein­steck­te, noch ei­nen an­de­ren Zu­brin­ger zu die­ser schnur­ge­ra­den, am En­de nur noch strich­lier­ten Stra­ße. Ich fuhr al­so los, lern­te wie­der ein paar Ort­schaf­ten ken­nen, kam an ei­nem ur­alten mäch­ti­gen Block­haus vor­bei, das vor vie­len Jah­ren als Ge­mischt­wa­ren­la­den ge­dient ha­ben muß­te, und sah we­nig spä­ter die lang­ge­zo­ge­nen fla­chen Ge­bäu­de aus dem­sel­ben dunk­len Holz, das Ge­län­de um­ge­ben von Sta­chel­draht, hin­ter dem Haupt­tor ein Sol­dat. Wie sel­ten be­geg­ne ich hier Sol­da­ten, fast er­freut es mein pa­zi­fi­sti­sches Herz. Nun, das ja­pa­ni­sche Mi­li­tär ist fried­lie­bend, es dient ge­mäß der Ver­fas­sung von 1947 nur der Selbst­ver­tei­di­gung. Die Ka­ser­ne hat­te den letz­ten Krieg heil über­stan­den, drei­ßig Ki­lo­me­ter ent­fernt war ei­ne Atom­bom­be ex­plo­diert, ob die Krie­ger es da­mals, am 6. Au­gust, über­haupt mit­be­ka­men?

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens II – © Leo­pold Fe­der­mair

Vom Ogu­ra-Schrein je­doch kei­ne Spur. Ich fuhr ei­nen Ki­lo­me­ter weit zu­rück, nahm aufs Ge­ra­te­wohl ei­nen Reis­feld­weg, tam­bo­mic­hi, kam an ei­ner Volks­schu­le vor­bei und dann wirk­lich auf die er­sehn­te schnur­ge­ra­de, recht brei­te, nach zwei, drei Ki­lo­me­tern nicht mehr asphal­tier­te, durch Kie­fern­wäl­der schnei­den­de Stra­ße, die zwei­fel­los von den Sol­da­ten ge­baut wor­den war. Wei­ter drü­ben, in süd­west­li­cher Rich­tung, hat­te ich letz­tes Jahr ein ähn­li­ches Ge­biet durch­quert. Da­mals war ich ei­nem ein­sa­men Golf­spie­ler be­geg­net, jetzt war es ein Mo­to­cross­fah­rer, den ich ei­ne Zeit­lang vor mir her­rat­tern sah und bald nur noch hör­te, wie er sich auf Sei­ten­stra­ßen ent­fern­te, wie­der nä­her­kam, end­lich doch ent­fern­te. Der Bo­den war leh­mig, zu­erst gelb, dann braun, schließ­lich rot, und ich dach­te wie­der ein­mal an das Land der Gua­raní, an die ro­te Er­de und die – bis hin zur Haupt­stadt und dem An­we­sen von Dok­tor Fran­cia, dem Dik­ta­tor (dem Au­gu­sto Roa Ba­stos ein na­tur­ge­mäß am­bi­va­len­tes Denk­mal ge­setzt hat) – recht be­schei­de­nen, zu­rück­hal­ten­den Sied­lun­gen (auch die Haupt­stadt ein Dorf), die ich wohl nie mehr wie­der­se­hen wer­de.

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Die Kunst des Auf­ge­bens I

Auf der Land­kar­te war mir ein Shin­to-Schrein auf­ge­fal­len, er soll­te sich am En­de ei­ner lan­gen, schnur­ge­ra­de west­wärts füh­ren­den Stra­ße be­fin­den, das letz­te Stück auf der Kar­te nur noch strich­liert, was im­mer das hei­ßen moch­te. Ein Fuß­weg, ein Pfad? Ein We­gerl?

In alt­ver­trau­ter Ar­ro­ganz ver­gaß ich, die Kar­te mit­zu­neh­men, und freu­te mich auch noch dar­über. Er­stens glaub­te ich mir den Weg ge­nau ein­ge­prägt zu ha­ben, zwei­tens will ich mich schon ein Le­ben lang in der Kunst des Ver­ir­rens üben. Nach mei­ner Ein­schät­zung und Er­in­ne­rung muß­te der Fahr­weg von der Ufer­stra­ße ei­nes mir gut be­kann­ten Stau­sees ab­ge­hen, un­weit von dem Spiel­platz, den ich mit mei­ner Toch­ter manch­mal auf­such­te, als sie noch klein war und wei­ter drü­ben am Turn­un­ter­richt ei­ner be­tag­ten ehe­ma­li­gen Spit­zen­sport­le­rin teil­nahm. Vor ei­nem Kul­tur­zen­trum war ei­ne In­for­ma­ti­ons­ta­fel, die Wan­der­we­ge vor­schlug: 1,2 Ki­lo­me­ter lang der ei­ne, 2,2 der an­de­re, lä­cher­li­che Strecken für ei­nen er­fah­re­nen Pil­ger wie mich, au­ßer­dem kann­te ich die Ge­gend jen­seits von den Seen wie mei­ne We­sten­ta­sche. Die an­de­re Sei­te, wo die Berg­hän­ge steil an­stie­gen, kann­te ich kaum.

Bild 1 – Kunst des Auf­ge­bens I – © Leo­pold Fe­der­mair

Auf der ab­zwei­gen­den Stra­ße stieß ich nach kur­zem auf ei­ne Ab­sper­rung, dort ließ ich mein Fahr­rad ste­hen. Gel­bes, manns­ho­hes Schilf­gras er­ober­te von den Rän­dern her die Fahr­bahn; Fahr­zeu­ge ka­men hier sehr sel­ten durch. Nach ei­ner Wei­le fiel mir ein Schild in die Au­gen, das die Strecke als Par­cours für Wald­läu­fer aus­wies. We­nig spä­ter kam mir ein Mann ent­ge­gen, oh­ne Sport­klei­dung, auch kein Wan­de­rer, kei­ner wie ich. Wahr­schein­lich hat­te er bei den Was­ser­re­ser­voirs zu tun ge­habt, die wei­ter oben im Wald ver­bor­gen wa­ren; gro­ße, zy­lin­der­för­mi­ge Be­häl­ter die der Ver­sor­gung der gan­zen Ort­schaft hier dien­ten. In der Kur­ve, die an dem Are­al vor­bei­führ­te, spür­te ich es schon: Hier war et­was pas­siert, der Berg – nicht zer­bro­chen, aber si­cher be­schä­digt. Baum­stäm­me la­gen her­um, sie wa­ren zu­sam­men mit Fels­brocken das Tal her­un­ter­ge­kom­men, wo nur noch ein schma­ler, stei­ler Weg berg­an führ­te, wenn es denn ein Weg war; wahr­schein­lich nicht, nur ein Ab­weg; nach ei­ner Wei­le dreh­te ich um. Als die Was­ser­zy­lin­der un­ter mir auf­tauch­ten, be­merk­te ich, daß die Stra­ße in die an­de­re Rich­tung zeig­te. Ich stieg über Baum­stäm­me, trat nä­her und sah jetzt auch schon die Schlucht, die die Was­ser­mas­sen ge­ris­sen hat­ten, sah die dün­ne schwärz­li­che Asphalt­decke, dar­un­ter hell­brau­ne Er­de. Die La­wi­ne war in der weit­ge­zo­ge­nen Kur­ve ab­ge­gan­gen, die die Stra­ße einst hier be­schrie­ben hat­te, in­dem sie sich an das Ge­län­de an­ge­schmiegt hat­te; jetzt war sie un­pas­sier­bar, die an­de­re Sei­te drei­ßig, vier­zig Me­ter ent­fernt.

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Von Kon­bi­ni zu Kon­bi­ni

Ei­gent­lich sind es nur zwei. Al­so vier, näm­lich zwei­mal zwei. Zwei Fa­mi­ma, zwei Seh­bün, wie sie im Volks­mund hei­ßen. Wei­ter drü­ben ein drit­tes, Law­son, aber da kom­me ich sel­ten hin. Für mich ist es ei­ne El­lip­se, die ich durch­lau­fe. Mei­ne We­ge ha­ben un­ge­fähr die Form ei­ner El­lip­se, mit ei­nem Se­ven Ele­ven und ei­nem Fa­mi­ly Mart als Brenn­punk­ten und je ei­nem wei­te­ren Se­ven und Fa­mi an den äu­ßer­sten En­den der El­lip­se, die das Tal ist. In Wahr­heit ge­he ich aber oft auf der ge­ra­den Ver­bin­dungs­li­nie die­ser vier Punk­te. Im Win­ter eher auf der Ge­ra­den, im Som­mer auf der el­lip­ti­schen Au­ßen­li­nie, weil es dort am Abend, wenn es ein biß­chen ab­ge­kühlt hat, dun­kel ist und man die Ster­ne fun­keln se­hen und den Fluß rau­schen und die Frö­sche qua­ken hö­ren kann und sich nicht vom Strahl­licht der Kon­bi­nis, dem Blend­licht und dem Mo­to­ren­rau­schen der Au­tos be­drän­gen las­sen muß. Am Fluß­ufer, bei den Bam­bus­hai­nen und den Lo­tus­fel­dern, de­ren rie­si­ge Blät­ter hin und her schwan­ken oder still­ste­hen, ist der Wan­de­rer voll­kom­men al­lein, nie­mand stra­pa­ziert sei­ne Ner­ven, die Blend­lich­ter und Mo­to­ren­ge­räu­sche sind nur Ab­ar­ten des ho­hen Ge­fun­kels und des ewi­gen Rau­schens. Ta­guchi: ei­ne El­lip­se und ihr ova­les Feld, das die schla­fen­den Rei­her, die qua­ken­den Frö­sche, den letz­ten Wan­de­rer birgt.

Bild 1 - Von Konbini zu Konbini - © Leopold Federmair
Bild 1 – Von Kon­bi­ni zu Kon­bi­ni – © Leo­pold Fe­der­mair

Die Kon­bi­nis sind al­le gleich, lan­des­weit. Al­so die zu ei­ner der Fir­men, der Ket­ten sind gleich, au­ßen wie in­nen, mehr oder we­ni­ger gleich, und auch die der ver­schie­de­nen Fir­men un­ter­schei­den sich nicht sehr von­ein­an­der, ob­wohl sie auf ihr spe­zi­el­les De­sign, ih­re kenn­zeich­nen­den Far­ben, Schrift­ty­pen und Lo­gos Wert le­gen. Fa­mi­ma ist blau-weiß-grün, Se­ven rot-weiß-grün-oran­ge, ein biß­chen strei­fi­ger und bun­ter als Fa­mi­ma. Die Fa­mi­ma-Kä­sten sind aus wei­ßen Plat­ten ge­baut, die Se­ven-Kä­sten aus hel­le­ren und dunk­le­ren oran­ge- oder ocker­far­be­nen Back­stei­nen. Vor­ne na­tür­lich Glas­front. Im Som­mer wird der Ka­sten ge­kühlt wie ein Kühl­schrank, im Win­ter warm­ge­hal­ten, au­ßer in der Nä­he der Fen­ster­schei­ben und der Tür, da dringt kal­te Luft ein. Im Se­ven kau­fe ich mei­stens ein Me­lo­nen­brot und ein Ge­tränk mit Yu­zu, Zi­tro­ne und So­da; im Fa­mi­ma Fa­mi­chickin und ein sü­ßes Boh­nen­pa­ste­te­bröt­chen; in bei­den gibt es im Win­ter Oden (Kon­y­a­ku und Ei­er und Fleisch­spieß­chen lie­gen in damp­fen­den Kes­sel­chen). Vor ei­ni­gen Jah­ren sind vie­le Kon­bi­nis mit ein paar Stüh­len (mei­stens vier) und ei­nem Wand­brett (Tisch wä­re zu­viel ge­sagt) so­wie ei­ner Selbst­be­die­nungs­kaf­fee­ma­schi­ne aus­ge­stat­tet wor­den. Es gibt Zei­ten, da sit­ze ich früh­mor­gens, wenn al­le Ca­fés und Ge­schäf­te ge­schlos­sen ha­ben, mit mei­nem No­tiz­heft oder Note­book dort, ei­nen Papp­be­cher Kaf­fee ne­ben mir. Um halb acht, un­ge­fähr, se­he ich die Ka­ra­wa­nen der Volks­schü­ler vor­bei­zie­hen; vor ei­ni­gen Jah­ren er­kann­te ich im­mer wie­der ein­mal mei­ne Toch­ter in so ei­nem Pulk (aber oft ist sie mir, buch­stäb­lich, ent­gan­gen). Sie hat mich nie ge­se­hen, auch nicht mein Fahr­rad, das ich in der Ecke zwi­schen Kon­bi­ni­wand und Reis­feld­zaun ab­stel­le wie ein Ver­bre­cher, der sich nicht ein­fan­gen las­sen darf.

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Gräu­el der Ge­gen­wart ‑11/11-

(← 10/11)

Ich per­sön­lich glau­be nicht an die Mär von den ar­men aus­ge­beu­te­ten Men­schen; ich glau­be nicht mehr dar­an. Im 19. Jahr­hun­dert und bis weit ins zwan­zig­ste hin­ein mag das zu­ge­trof­fen ha­ben; wahr­schein­lich trifft es in den (vor al­lem süd­li­chen) Welt­ge­gen­den zu, die de­ren Be­woh­ner scha­ren­wei­se ver­las­sen, um in un­se­ren Schla­raf­fen­län­dern die ana­chro­ni­sti­sche Rol­le des Aus­ge­beu­te­ten zu spie­len (wir brau­chen al­so doch noch wel­che). Hier bei uns, im We­sten wie im ver­west­lich­ten Osten, sind die Men­schen nun ein­mal zu dem ge­wor­den, was sie sind. Sie hat­ten und ha­ben ihr Schick­sal selbst in der Hand, je­den­falls bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad. Die­se Frei­heit ist heu­te Wirk­lich­keit. Je­der Ein­zel­ne hät­te auch ein an­de­rer wer­den kön­nen. Es be­steht nicht mehr der ge­ring­ste Grund, Be­völ­ke­rungs­schich­ten, ehe­dem »Klas­sen«, zu idea­li­sie­ren und he­roi­sie­ren, da sie als um­reiß­ba­re so­zia­le Grup­pen im Aus­ster­ben be­grif­fen sind. Auch wenn die öko­no­mi­schen Un­gleich­hei­ten grö­ßer wer­den, ten­die­ren die mei­sten so­zia­len Ele­men­te zur Mit­te, und die­se Mit­te ist sehr breit ge­wor­den, auch wenn sich vie­le ih­rer Mit­glie­der öko­no­misch be­droht füh­len und in be­stimm­ten Mo­men­ten – Fi­nanz­kri­se 2008 – tat­säch­lich be­droht sind. Die­se Mit­te ist für die in der Drit­ten Welt Da­hin­ve­ge­tie­ren­den das Schla­raf­fen­land. »Die Welt zer­fällt. Die Mit­te hält nicht mehr«, sagt der afro­ame­ri­ka­ni­sche Hi­sto­ri­ker Cor­nel West mit Be­zug auf au­to­ri­tä­re Po­li­tik und schran­ken­lo­ses Pro­fit­stre­ben. Dies ist ei­ne Pro­phe­zei­ung, ein Kas­san­dra­ruf. Tat­säch­lich wird sie wohl noch ein paar Jah­re oder Jahr­zehn­te hal­ten, aber es könn­te schon sein, daß in­ne­re Wi­der­sprü­che und sei­ne Schran­ken­lo­sig­keit das neo­li­be­ra­le Sy­stem zur Im­plo­si­on oder Ex­plo­si­on (oder bei­dem) brin­gen wer­den.1

West er­wähnt gern die Hel­den des afro­ame­ri­ka­ni­schen Frei­heits­kamp­fes, aber man hat den Ein­druck, das al­les sei de­fi­ni­tiv Ge­schich­te: Mar­tin Lu­ther King, John Le­wis und so wei­ter. Di­dier Eri­bon be­schreibt in Rück­kehr nach Reims die Be­schränkt­heit, den Ras­sis­mus, die In­to­le­ranz, die in fran­zö­si­schen Ar­bei­ter­mi­lieus nach dem En­de der Ar­beit herrscht, al­so un­ter Leu­ten, die sich als Zu­kurz­ge­kom­me­ne se­hen. Er hält trotz­dem an den über­kom­me­nen so­zio­lo­gi­schen Ka­te­go­rien fest. Sein Schütz­ling Édouard Lou­is, des­sen Schil­de­run­gen an Här­te eben­falls nichts zu wün­schen las­sen, ist da et­was frei­er. Auch dann, wenn Sym­pa­thie mit den Op­fern der Mo­der­ni­sie­rung auf­kommt, weint er dem Ver­schwin­den der Ar­bei­ter­klas­se kei­ne Trä­ne nach. Do­nald Trump, der die­ser Klas­se be­kannt­lich kei­nes­wegs an­ge­hört, ist oder gibt sich in die­ser Hin­sicht viel nost­al­gi­scher, al­so rück­schritt­li­cher. Er ver­spricht den wirk­lich oder ver­meint­lich Zu­kurz­ge­kom­me­nen, was ih­nen nie­mand ge­ben kann. Aus wahl­tak­ti­schem Kal­kül ver­mut­lich. Und weil er ei­ne Ideo­lo­gie ver­kör­pert, die ei­nen Schein auf­recht­erhält, dem, wie die Ideo­lo­gen ge­nau wis­sen, kei­ne Wirk­lich­keit mehr ent­spricht. An der Be­sei­ti­gung die­ser Wirk­lich­keit ha­ben sie selbst mit­ge­wirkt.

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  1. Auch Cornel West läßt sich von rhetorischer Dynamik und ideologischen Vorgaben leiten und kümmert sich wenig um Fakten. So behauptet er, 40 Prozent der Bevölkerung der USA würden in Armut oder nahe an der Schwelle dazu leben. Die offizielle Statistik gibt als Zahl 11,8 Prozent an; dazu die Erläuterung, daß die Armut in den letzten Jahren kontinuierlich geringer geworden sei. Es ist übrigens aufschlußreich zu lesen, wie West es beklagt, daß schwarze Freiheitskämpfer, sobald sie in die Politik gingen, in den Sog des Neoliberalismus gerieten und ihre früheren Positionen aufgaben. Gibt es wirklich keine Alternative? Womöglich nicht. Cornel West outet sich als Mann des Blues: "Mit all diesem Schrecken trotzdem irgendwie klarzukommen, bedeutet, ein Mann oder eine Frau des Blues zu sein. Es bedeutet, Kummer zu akzeptieren, aber niemals dem Kummer und damit den Katastrophen das Feld zu überlassen." 

Gräu­el der Ge­gen­wart ‑10/11-

(← 9/11)

Viel­leicht neigt je­der, der glaubt, ge­nau Be­scheid zu wis­sen, zur Rhe­to­rik. Es gibt dann beim Schrei­ben nichts mehr zu er­ar­bei­ten, zu er­for­schen, man ist nicht auf‑, son­dern ab­ge­klärt und wird sich von nichts über­ra­schen las­sen. Die Ge­dan­ken ver­fer­ti­gen sich un­ter sol­chen Vor­aus­set­zun­gen nicht beim Sprechen/Schreiben. Es geht nur noch dar­um, die pas­sen­den, d. h. wirk­sam­sten For­mu­lie­run­gen zu fin­den. Nach mei­nem Emp­fin­den ist das ein kal­tes Schrei­ben, die Rhe­to­rik ein kal­tes Sy­stem (was man durch­aus, von Fall zu Fall, schät­zen kann). In mei­nem ei­ge­nen Fall kommt es häu­fig vor, daß ich mich auf dem dis­kur­si­ven Weg nicht mehr aus­ken­ne, und auch jetzt in die­sem Mo­ment ist das ein we­nig der Fall. Viel­leicht bin ich da­mit nicht der ein­zi­ge; im schon ein gu­tes Stück fort­ge­schrit­te­nen 21. Jahr­hun­dert sind wir doch al­le – al­le? – ziem­lich rat­los; die Rat­lo­sig­keit ist un­se­re con­di­ti­on ac­tu­el­le. Mit mei­ner Kri­tik am hy­ste­ri­schen Li­te­ra­tur­be­trieb, am Op­ti­mie­rungs­wahn, am Bil­dungs­ab­bau, an der ge­sell­schaft­li­chen In­fan­ti­li­sie­rung und an­de­ren Phä­no­me­nen un­se­rer schö­nen, grau­en­haf­ten Ge­gen­wart, ern­te ich re­gel­mä­ßig Zu­stim­mung, nichts als Zu­stim­mung – frei­lich ge­paart mit der Be­mer­kung, lei­der kön­ne man nichts da­ge­gen ma­chen. Der Neo­li­be­ra­lis­mus ist auf zahl­lo­sen Schleich­we­gen to­ta­li­tär ge­wor­den; du mußt und willst mit­ma­chen, es gibt kei­nen Ort au­ßer­halb. Du mußt wol­len; du willst müs­sen. Un­ter­des­sen sind wir rat­los, ich und mei­ne Gleich­ge­sinn­ten, die – so mein Ein­druck – mehr­heits­fä­hig sein könn­ten.

War­um kann man nichts ma­chen? Et­wa weil das re­vo­lu­tio­nä­re Sub­jekt fehlt? Oder, be­son­ne­ner, das al­ter­na­ti­ve Sub­jekt? Mit der Ar­beit ist die Ar­bei­ter­klas­se ver­schwun­den (die oh­ne­hin vor­her schon »ver­bür­ger­licht« war). Und auf Min­der­hei­ten kann man nicht bau­en, sie bil­den kein kol­lek­ti­ves Sub­jekt. Oder? Bei For­re­ster blei­ben die­se Fra­gen un­be­ant­wor­tet, sie wer­den nicht ein­mal ge­stellt. Ih­re Rhe­to­rik läuft auf ei­nen Punkt am Ho­ri­zont hin­aus: be­din­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men für al­le! Vom Staat oder ei­ner an­de­ren Kör­per­schaft zu ga­ran­tie­ren­de Er­hal­tung al­ler, un­ab­hän­gig da­von, ob sie ar­bei­ten oder nicht. Das aber ist ei­ne Maß­nah­me, die al­lein nicht aus­reicht, weil sie nur fruch­ten kann, wenn sie von min­de­stens ei­ner zwei­ten be­glei­tet wird: Bil­dung für al­le, in ei­nem ra­di­ka­len Sinn, oh­ne Hier­ar­chien, oh­ne Prü­fun­gen, oh­ne Wett­be­werb, oh­ne zeit­li­che Gren­zen (die tat­säch­li­che Ent­wick­lung geht in die Ge­gen­rich­tung).

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Gräu­el der Ge­gen­wart ‑9/11-

(← 8/11)

Ich weiß nicht, ob Den­ken dem Han­deln eher för­der­lich oder ab­träg­lich ist; nach mei­ner per­sön­li­chen Er­fah­rung oft letz­te­res, aber nicht im­mer, und gu­te Hand­lun­gen kom­men ganz oh­ne Nach­den­ken sel­ten zu­stan­de. Ham­let, der Prinz von Dä­ne­mark, ver­kör­pert die Tat­feind­lich­keit des Den­kens, das zu­meist ein Zwei­feln ist. Das Schwie­ri­ge, sagt ein an­de­rer Fürst der Thea­ter­ge­schich­te, Kö­nig Pri­mis­laus von Böh­men, in ei­nem Dra­ma Grill­par­zers, das Schwie­ri­ge sei nicht die Tat, son­dern der Ent­schluß, und der wird durch das Den­ken, wie Pri­mis­laus selbst durch sein Zö­gern er­weist, be­hin­dert. Den­kend kann man je­de Men­ge Hy­po­the­sen auf­stel­len, doch bei der Ver­wirk­li­chung ei­nes Vor­ha­bens gilt es, mit ei­nem Schlag »die tau­send Fä­den zu zer­rei­ßen, an de­nen Zu­fall und Ge­wohn­heit führt.« Ent­schlüs­se wer­den in der Re­gel durch Nach­den­ken vor­be­rei­tet, aber auch ver­zö­gert, und nicht sel­ten ver­hin­dert (wo­für Mu­sils Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten ein ein­zi­ges, viel­fäl­ti­ges Groß­bei­spiel ist).

»Nichts ist mo­bi­li­sie­ren­der als das Den­ken«: die­ser froh­ge­mu­te Satz prangt auf ei­ner Sei­te ziem­lich ge­nau in der Mit­te von Der Ter­ror der Öko­no­mie. Und gleich im näch­sten Schritt de­kla­riert For­re­ster die Iden­ti­tät von Den­ken und Han­deln. Die Dif­fe­renz ist be­sei­tigt. Das Wort »mo­bi­li­sie­ren« ak­tua­li­siert po­li­ti­sche Kon­no­ta­tio­nen1; nicht ir­gend­ein Han­deln ist ge­meint, kei­ne sport­li­che Ak­ti­vi­tät, et­wa Fuß­ball, was die zo­nards mitt­ler­wei­le bes­ser kön­nen als die pe­tits blancs, son­dern ge­sell­schaft­lich be­deut­sa­mes Han­deln. In wei­te­rer Fol­ge er­zählt For­re­ster von ei­nem Kon­greß in Graz, Öster­reich, wo an­no 1978 ein Teil­neh­mer ein State­ment ab­gab, das auf die For­de­rung hin­aus­lief, man sol­le hier nicht von Mall­ar­mé spre­chen, son­dern von Ma­schi­nen­ge­weh­ren. For­re­ster ver­tei­digt ge­gen­über die­ser Ta­bu­la-ra­sa-Hal­tung den po­li­ti­schen Sinn li­te­ra­ri­scher Bil­dung, be­an­sprucht aber zu­gleich Ef­fi­zi­enz und Ra­di­ka­li­tät für ihr An­lie­gen und ge­langt schließ­lich zu ei­nem Satz, der wie­der­um als Slo­gan die­nen kann: »Mall­ar­mé ist ein MG!«

Wei­ter­le­sen ...


  1. In seinem Essay Die totale Mobilmachung phantasiert Ernst Jünger von einem "Arbeitsstaat", der die logische politische Konsequenz der generalisierten Verschmelzung von Mensch und Maschine, von Organischem und Mechanischem sei. Diese Vision verwirklicht sich heute, allerdings im Bereich der Nanotechnik, der smarten elektronisch gesteuerten Maschinen, die "der Mensch" ständig in Reichweite oder im Körper implantiert hat. Dienstleistungsanbieter und öffentlichen Institutionen verlangen von allen den Besitz eines Smartphones. Der Arbeits- bzw. Arbeiterstaat jedoch wurde Ende des 20. Jahrhunderts endgültig entsorgt.