Wel­ten und Zei­ten IV

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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»I play bo­th si­des against the midd­le«, ein Satz, der mir von Bob Dy­lan her im Ohr klingt. Im Eng­li­schen al­ler­dings nur – »nur« – ei­ne ge­bräuch­li­che Re­de­wen­dung, die of­fen­bar ei­ne Hal­tung wie Op­por­tu­nis­mus be­zeich­net. Bei mir weckt der Satz ganz an­de­re As­so­zia­tio­nen, er lie­fert ei­ne gu­te Be­schrei­bung des­sen, was ich seit vie­len Jah­ren als Span­nung wert­schät­ze. Das Wort »Span­nung« hat ver­schie­de­ne Be­deu­tungs­nu­an­cen und wird recht un­ter­schied­lich ge­braucht. In letz­ter In­stanz ver­weist das Wort für mich auf den Le­bens­bo­gen, den ein je­der zu be­schrei­ben hat und zu be­schrei­ben sucht, und die­ser wie­der­um ver­bin­det sich mit dem, was Heid­eg­ger »Ent­wurf« nennt: Ent­wurf und Ge­schick, per­sön­li­che Ent­schei­dun­gen und äu­ße­re Be­din­gun­gen er­ge­ben im Zu­sam­men- und Wi­der­spiel den Le­bens­bo­gen. Ro­ma­ne und grö­ße­re Er­zäh­lun­gen ha­ben die­sen Bo­gen im Blick oder als Ho­ri­zont, auch dann, wenn über­haupt nicht von An­fang und En­de die Re­de ist. Im ge­wöhn­li­chen Le­ben ver­lie­ren wir den Ho­ri­zont oft aus den Au­gen; es be­steht auch gar nicht die Not­wen­dig­keit, ihn dau­ernd zu be­den­ken, aber hin und wie­der tut es doch gut.

Bei­de Sei­ten ge­gen die Mit­te spie­len. Die Ex­tre­me in Be­zie­hung set­zen, in Be­zie­hung hal­ten. Das ist doch das Ge­gen­teil vom gol­de­nen Mit­tel­weg, auf dem ei­ner sich durchs Le­ben schwin­delt. So ei­nen Satz zu äu­ßern, be­deu­tet, die Span­nung zu su­chen und In­ten­si­tä­ten zu le­ben. Hat Dy­lan es so ge­meint? Kei­ne Ah­nung. Die Songs des al­ten, nun­mehr über Acht­zig­jäh­ri­gen zeh­ren im­mer häu­fi­ger von Rück­blicken (üb­ri­gens auch die Bü­cher von Pe­ter Hand­ke). Das ist nur na­tür­lich, wir sind, vor al­lem, wenn wir nicht nur äl­ter, son­dern alt wer­den, was wir er­in­nern, und wie wir es er­in­nern (und ob). In Key West (Phi­lo­so­pher Pi­ra­te) nennt Dy­lan drei Dich­ter der Beat­nik-Ge­ne­ra­ti­on, die ihn be­ein­flußt oder zu­min­dest, als er jung war, be­ein­druckt ha­ben: Al­len Gins­berg, Gre­go­ry Cor­so, Jack Ke­rouac (okay, Ke­rouac war ein Er­zäh­ler).

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Wel­ten und Zei­ten III

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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»Die Wahr­heit der Lü­gen«: mit die­sem viel­leicht doch et­was bil­li­gen Pa­ra­dox im Buch­ti­tel faß­te Ma­rio Var­gas Llosa einst sei­ne Es­says zur Li­te­ra­tur zu­sam­men. Fik­ti­on ist et­was Ähn­li­ches wie Lü­gen, aber doch nicht ganz, denn der Lüg­ner gibt vor, die Wahr­heit zu sa­gen, der Ro­man­cier aber nicht, je­den­falls sagt er sie nicht un­mit­tel­bar mit sei­nen Er­fin­dun­gen. Al­len­falls tut er das in ei­nem tie­fe­ren Sinn, wo im­mer der lie­gen mag. So auch Var­gas Llosas in sei­nen ei­ge­nen Ro­ma­nen, die dem Le­ser die Il­lu­si­on »le­bens­na­her« Fi­gu­ren und Hand­lun­gen zu ver­mit­teln su­chen, was ih­nen auch her­vor­ra­gend ge­lingt, zum Bei­spiel in dem groß­an­ge­leg­ten und groß­ar­ti­gen Ge­spräch in der Ka­the­dra­le, wo sehr viel schwa­dro­niert wird.

In ei­nem wört­li­che­ren Sinn ar­bei­te­te der Ar­gen­ti­ni­er Ma­nu­el Pu­ig mit Lü­gen. Aber auch bei ihm wä­re nach­zu­fra­gen: Wel­che Art von Lü­gen sind das? Sehr oft kei­ne Lü­gen im stren­gen Sinn, son­dern Il­lu­sio­nen, Aus­weich­ma­nö­ver ge­gen­über Tat­sa­chen, Angst vor de­ren Fol­gen, wenn man ih­nen ins Au­ge blickt. Es sind Selbst­täu­schun­gen, klei­ne Be­trugs­ma­nö­ver, ein Klam­mern an den ver­meint­li­chen Sinn (des Le­bens usw.). Und oft auch Ideo­lo­ge­me, mehr oder min­der bil­li­ge Über­zeu­gun­gen, ver­mit­telt durch Mas­sen­me­di­en, durch Pop­kul­tur, durch – in Ar­gen­ti­ni­en – schmal­zi­ge Tan­gos und auch durch Li­te­ra­tur, vor al­lem durch tri­via­le, die dem Mas­sen­pu­bli­kum sei­ner­zeit, als es noch kein Fern­se­hen gab, aus dem Ra­dio zu­ström­te.

Aber wie kann sich dann in Li­te­ra­tur Wahr­heit zei­gen? Zum Bei­spiel durch Col­la­ge, durch die Viel­falt der Stim­men, die sich be­geg­nen und über­la­gern, durch die Äqui­di­stanz des Er­zäh­lers oder des Au­tors, der sich nicht ein­mischt, son­dern die Stim­men ne­ben- und ge­gen­ein­an­der­stellt. Ge­nau dar­in be­steht sei­ne Kunst und sein Wahr­heits­an­spruch. Ein sehr spe­zi­fi­scher, künst­le­ri­scher Wahr­heits­an­spruch. Pu­igs Ro­man – La traición de Ri­ta Hay­worth, zu deutsch (wenn ich nicht ir­re): Der schön­ste Tan­go der Welt – ist wahr, weil gut ge­macht.

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Wel­ten und Zei­ten II

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Die kar­gen Ro­ma­ne Pa­trick Mo­dia­nos, aber auch die opu­len­te­ren von Ka­zuo Ishi­gu­ro, un­ter­schei­den sich we­sent­lich von de­nen der Ge­ne­ra­ti­on Flau­berts, aber auch von Joy­ce oder Dö­b­lin, in­dem sie stets ei­nen Hof des Un­ge­sag­ten um das Er­zähl­te oder An­ge­deu­te­te mit­füh­ren, d. h. »kon­stru­ie­ren« (das aber oft ganz un­merk­lich). »Much is left un­said«. Ich weiß nicht, wo­her mir der der eng­li­sche Satz zu­fliegt, den­ke aber nicht un­be­dingt an He­ming­way und sei­ne Spit­ze-des-Eis­bergs-Theo­rie. Es ist ein star­kes Bild, das der sicht­ba­ren Spit­zen, doch pas­sen­der scheint mir das ei­ner Au­ra, ei­nes »ha­lo« (wie die Fran­zo­sen sa­gen). Cel­ans »Licht­hof Be­deu­tung«, al­so wie in der Ly­rik. Im­mer nur klei­ne Er­hel­lun­gen, da­zwi­schen Dun­kel­heit. Das al­les nicht im altro­man­ti­schen Sinn, son­dern, wenn man so sa­gen kann, in er­zähl­tech­nisch Hin­sicht. Wie funk­tio­niert ein Ro­man? In­dem mit Wor­ten ein Raum oh­ne Wor­te ge­schaf­fen wird, gleich­sam sein Un­be­wuß­tes, das der Au­tor weiß und uns aus stra­te­gi­schen Grün­den nicht ver­rät. Wir, die Le­ser, kön­nen, wenn wir wol­len, sel­ber her­um­rät­seln.

Weiß er es wirk­lich? Sind sol­che Au­toren »all­wis­send«? Ver­schwei­gen sie et­was (vie­les)? Für die Au­toren, die ich hier im Au­ge ha­be, gilt das eher nicht. Sie ar­bei­ten viel­mehr mit ih­rer Un­wis­sen­heit. Sie ge­hen aus vom Nicht­ver­ste­hen, wol­len den Be­reich des Nicht­ver­ste­hens wo­mög­lich re­du­zie­ren, wis­sen aber auch, daß das nie voll­stän­dig ge­lin­gen wird. Sie ar­bei­ten mit Ah­nun­gen. Viel­leicht sind sie nicht ein­mal wis­sen­der als der Le­ser. Viel­leicht ist manch ein Le­ser wis­sen­der als der Au­tor des Buchs, das er liest.

Kaf­ka ist das Non­plus­ul­tra des er­zäh­len­den Schrei­bens im 20., viel­leicht noch im 21. Jahr­hun­dert. An die­se The­se glau­ben vie­le, aber sel­ten wird die Fra­ge ge­stellt, was Kaf­ka denn be­wirkt hat, ob er Bre­schen ge­öff­net hat in der Li­te­ra­tur, oder bes­ser: im Be­reich li­te­ra­ri­scher, poe­ti­scher, ima­gi­na­ti­ver Sen­si­bi­li­tät (an dem ge­nau­so der Le­ser teil­hat). Eher wirkt Kaf­kas Werk mo­no­li­thisch, sei­ne gan­ze Schrift­stel­ler­exi­stenz ist ein be­son­de­res, her­aus­ra­gen­des, aber ab­ge­schlos­se­nes Ka­pi­tel. Bei Joy­ce ist das ganz an­ders, auf ihn kann man sich ein­las­sen, mit sei­nem Werk mit­ge­hen, wach­sen, zum Fan wer­den, zum Spe­zia­li­sten. In der New York Times stand un­längst ein Be­richt über ei­nen Le­se­kreis zum (prin­zi­pi­ell un­ver­ständ­li­chen) Fin­ne­gans Wa­ke, der über Jahr­zehn­te ging und kürz­lich zu ei­nem glück­li­chen (?) En­de kam.

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Wel­ten und Zei­ten I

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

Nichts ge­gen Na­me­drop­ping. Man be­geg­net mal die­sem, mal je­nem, in der Li­te­ra­tur und Gei­stes­welt wie im rich­ti­gen Le­ben, mal flüch­ti­ger, mal ernst­haf­ter, es ent­ste­hen Ver­bin­dun­gen, Ge­mein­sam­kei­ten wer­den ent­deckt, Ver­bin­dun­gen wer­den ge­löst, neu ge­knüpft, oder auch nicht: Un­ter­schie­de fest­ge­stellt, Ab­gren­zun­gen vor­ge­nom­men. Freund­schaf­ten und Be­kannt­schaf­ten. Und eben auch Feind­schaf­ten. Nicht al­les paßt zu­sam­men, nicht im­mer. Na­tür­lich wün­schen wir uns, daß mehr fällt als der Na­me. Viel­leicht der Gro­schen, im­mer wie­der ein­mal.

Al­ter­na­ti­ve Tra­di­ti­ons­li­ni­en auf­zei­gen, nicht im­mer das­sel­be wie­der­käu­en. Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Li­te­ra­tur­ge­schich­te. Wie je­ne, die jetzt über­all Frau­en am Werk se­hen in der Kunst, Mu­sik etc. Frei­lich, das lohnt nicht im­mer, oft ist das ideo­lo­gie­ge­lenkt. Wie bei der »wie­der­ent­deck­ten« Ba­rock­ly­ri­ke­rin Si­byl­la Schwarz, die 17-jäh­rig ver­stor­ben war. Nein, sie war eben kein weib­li­cher Rim­baud des 17. Jahr­hun­derts, son­dern be­sten­falls Main­stream, al­so mit­tel­mä­ßig, hat halt die Re­gel­poe­tik ei­nes Mar­tin Opitz an­ge­wen­det wie so vie­le an­de­re, die man des­we­gen aber nicht »wie­der­ent­decken« muß. Dich­ten war da­mals nichts an­de­res als ei­ne Schul­übung. Nur we­ni­ge ra­gen aus dem Main­stream, Gry­phi­us, Fle­ming, Gün­ther. Das al­les, wirk­lich al­les, zu le­sen, war mei­ne Be­schäf­ti­gung, als ich un­ge­fähr 23, 24 war. So­gar Si­byl­la Schwarz ist mir da­mals un­ter­ge­kom­men, in der Her­zog Au­gust-Bi­blio­thek zu Wol­fen­büt­tel.

Aber hier geht es um den Ro­man und dar­um, was von ihm bleibt. Trans­ver­sa­le Blicke, Sei­ten­blicke auf be­schei­de­ne­re Wer­ke, nicht im­mer nur die groß­spu­ri­gen, groß­mäch­ti­gen. Nicht der Groß­ro­man, eher die klei­ne­ren. Gad­dis, Faul­k­ner, Joy­ce, Proust, Mu­sil, Da­vid Fo­ster Wal­lace… all die Ge­walt­anstren­gun­gen be­ein­drucken mich nicht mehr. Auch nicht die spie­le­ri­sche Ge­walt ei­nes Pe­rec in La vie mo­de d‘emploi. Statt des­sen die zu­gäng­li­che­ren Wer­ke, et­wa Le Grand Me­aul­nes von Alain-Fou­rier. Oder Pa­trick Mo­dia­no (na ja, ein No­bel­preis­trä­ger…).

Sol­che Trans­ver­sa­li­tät be­deu­tet na­tür­lich nicht, sich ein­fach ei­ne Li­te­ra­tur­li­ste zu­sam­men­zu­wür­feln und dann die Bü­cher der Rei­he nach zu le­sen. Es be­deu­tet eher, sie »gleich­zei­tig« zu le­sen, wo­bei gleich­zei­tig nicht im chro­no­me­tri­schen Sinn zu ver­ste­hen ist, son­dern in ei­nem or­ga­ni­schen: Man liest sie al­le in ei­nem Zeit-Raum, der da­mit ei­ne be­son­de­re Qua­li­tät an­nimmt. Es geht 1. dar­um, Ähn­lich­kei­ten über hi­sto­ri­sche Epo­chen, un­ter­schied­li­che Spra­chen und Kul­tu­ren fest­zu­stel­len, 2. dar­um, im sel­ben Sinn Un­ter­schie­de fest­zu­stel­len, 3. dar­um, sich Über­ra­schun­gen zu öff­nen und un­vor­her­ge­se­he­ne Er­kennt­nis­se zu­zu­las­sen. Es ist al­so nicht das wis­sen­schaft­li­che Prin­zip des Auf­stel­lens ei­ner Hy­po­the­se, die dann be­stä­tigt, er­gänzt oder ver­wor­fen wird, und auch kein sta­ti­stisch-quan­ti­ta­ti­ves Prin­zip, bei dem Kor­re­la­tio­nen, Wie­der­ho­lun­gen, Nach­bar­schaf­ten be­rech­net wer­den, son­dern ein qua­li­täts­ori­en­tier­tes und nur be­dingt steu­er­ba­res Prin­zip, das Krea­ti­vi­tät in der Lek­tü­re, als clo­se re­a­ding und her­me­neu­ti­scher Vor­gang mit star­ker sub­jek­ti­ver Kom­po­nen­te ver­stan­den, er­lau­ben und för­dern soll­te.

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Pro­vo­ka­ti­on oder An­pas­sung?

Be­richt von ei­ner Schrift­stel­ler­ver­samm­lung

Es war vor vier­zig Jah­ren, als ich das er­ste Mal ei­ne Ge­ne­ral­ver­samm­lung der GAV, der wich­tig­sten öster­rei­chi­schen Schrift­stel­ler­ver­ei­ni­gung, be­such­te. Be­son­ders an­zie­hend wa­ren die­se Ver­samm­lun­gen für mich of­fen­bar nicht, denn ich kann mich nicht er­in­nern, ei­ne wei­te­re be­sucht zu ha­ben. Da­bei hat­te ich da­mals, oder tags zu­vor, ich weiß es nicht mehr ge­nau, er­in­ne­re mich aber an die Re­ak­tio­nen von Ernst Jandl, Franz Schuh und Ma­rie-Thé­rè­se Ker­sch­bau­mer – ich hat­te ei­nen klei­nen Vor­trag mit dem Ti­tel »Rea­lis­mus? Avant­gar­de?« (zwei Fra­ge­zei­chen!) ge­hal­ten. Na­tür­lich hat­te mei­ne Ab­we­sen­heit von der GAV auch mit mei­nen lan­gen Aus­lands­auf­ent­hal­ten zu tun.

Vier­zig Jah­re spä­ter, nach mei­ner (pro­vi­so­ri­schen) Rück­kehr, war ich auf al­les neu­gie­rig, so­gar auf die GAV. Wie al­le her­kömm­li­chen kul­tu­rel­len Mi­lieus ist auch das Mi­lieu der GAV über­al­tert. Doch im­mer­hin sah ich ei­ne An­zahl von jün­ge­ren, mir un­be­kann­ten Ge­sich­tern im Kel­ler­raum der Al­ten Schmie­de zu Wien. Ge­ne­ral­ver­samm­lun­gen be­stehen auch un­ter Schrift­stel­lern aus Re­chen­schafts­be­rich­ten und Dis­kus­sio­nen über ir­gend­ein Pro­ce­de­re; hin und wie­der scheint es aber doch zu Ge­sprä­chen zu kom­men, die In­halt­li­ches, d. h. Li­te­ra­ri­sches, be­tref­fen. Dies­mal be­durf­te es da­zu ei­nes Streits. Ei­nes Rich­tungs­streits, so wür­de ich es nen­nen, hin­ter dem sich ein Ge­ne­ra­tio­nen­kon­flikt ver­birgt. Nicht mehr »Rea­lis­mus? Avant­gar­de?« ist die Fra­ge, son­dern »Kor­rekt? In­kor­rekt?« oder »To­le­ranz vs. Re­gu­lie­rung«, »Pro­vo­ka­ti­on vs. An­pas­sung« – ich könn­te hier wei­te­re Ge­gen­satz­paa­re an­füh­ren.

Es ging um die Auf­nah­me ei­nes Au­tors, des­sen Na­me mir nichts sag­te, in die GAV. Wie bei al­len Ver­ei­nen muß der Au­tor, will er auf­ge­nom­men wer­den, da­zu ei­nen An­trag stel­len. Ei­ne Ju­ry wer­tet den An­trag aus und gibt ei­ne Emp­feh­lung; die Ge­ne­ral­ver­samm­lung ent­schei­det. In die­sem Fall war die Ju­ry ge­spal­ten, ei­ne Stim­me pro, zwei con­tra. Der An­trag war nicht sehr ge­schickt ge­stellt, der Au­tor hat­te zwan­zig Sei­ten ei­nes zehn Jah­re al­ten, in Buch­form er­schie­ne­nen Ro­mans ein­ge­schickt, aber kei­nen neue­ren Text. Aber dar­um ging es nicht und soll es auch hier nicht ge­hen. Die Be­grün­dung für das ne­ga­ti­ve Ur­teil war: Ras­sis­mus. Nicht, daß man in dem be­tref­fen­den Au­tor ei­nen Ras­si­sten ge­se­hen hät­te; viel­mehr wur­de von der Ju­ry mehr­heit­lich die An­sicht ver­tre­ten, heut­zu­ta­ge kön­ne man ras­si­sti­sche Äu­ße­run­gen, sei es auch in merk­lich kri­ti­scher Ab­sicht, nicht un­kom­men­tiert in ei­nen Ro­man ein­fü­gen. Als Bei­spiel wur­de un­ter an­de­rem, wenn ich mich recht ent­sin­ne, der im Text vor­kom­men­de, tra­di­ti­ons­rei­che Ga­stro-Be­griff »Mohr im Hemd« ge­bracht. Heut­zu­ta­ge – in der Dis­kus­si­on wur­de da­für­ge­hal­ten, vor zehn Jah­ren sei dies viel­leicht noch ak­zep­ta­bel ge­we­sen; heu­te nicht mehr. Man müs­se sich dem Zeit­geist an­pas­sen: Das wur­de nicht wört­lich ge­sagt, aber dar­auf lief es hin­aus.

Die Ab­stim­mung ging un­ent­schie­den aus, und da sich kei­ne Mehr­heit für den Au­tor er­ge­ben hat­te, wur­de sein An­su­chen ab­ge­lehnt. Wäh­rend der dis­kur­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung fand ei­ne äl­te­re Au­torin (mei­ne Ge­ne­ra­ti­on!) die Ar­gu­men­te der an­ti­ras­si­sti­schen Frak­ti­on »un­glaub­lich«, sprang auf und ver­ließ den Raum. Fünf Mi­nu­ten spä­ter kam sie zu­rück, sie hat­te sich be­ru­higt; da­nach äu­ßer­te sie sich recht be­son­nen zum The­ma. Ich selbst, eher ein Zaun­gast, sag­te nichts, aber wäh­rend der Dis­kus­si­on er­in­ner­te ich mich dar­an, daß ich we­ni­ge Ta­ge zu­vor in ei­nem Re­clam-Heft­chen, Text von In­ge­borg Bach­mann, das Wort »Ne­ger« ge­le­sen hat­te. Und daß man heut­zu­ta­ge El­frie­de Je­li­nek nicht in die GAV auf­neh­men wür­de, weil ih­re Bü­cher voll von ras­si­sti­schen und an­de­ren Kli­schees sind, wenn auch in kri­ti­scher Ab­sicht. (Die Wie­der­ga­be von Kli­schees wur­de von der Ju­ry eben­falls am Text des an­trag­stel­len­den Au­tors be­an­stan­det.) Auch dach­te ich dar­an, daß der Schwar­ze Jim in Mark Twa­ins Huck­le­ber­ry Finn zig­mal das Wort »Nig­ger« ver­wen­det, um sich selbst zu be­zeich­nen. Aber gut, die­ser Ro­man wur­de vor 133 Jah­ren ver­öf­fent­licht, und die Zei­ten än­dern sich…

Bei der Ab­stim­mung hob ich brav mei­ne Hand. Am un­ent­schie­de­nen Aus­gang, al­so an der Ab­leh­nung, än­der­te das nichts. In ei­nem Salz­bur­ger Ca­fé, fiel mir noch ein, hat­te ich un­längst ei­nen »Mohr im Hemd« auf der Spei­se­kar­te ge­se­hen. Aber den soll­te man viel­leicht can­celn.

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Wel­ten­zer­stö­rer

War­um der Hol­ly­wood-Film »Op­pen­hei­mer« den ja­pa­ni­schen Ki­no­zu­se­hern vor­ent­hal­ten wird

In al­len Welt­ge­gen­den konn­te man wäh­rend der letz­ten Wo­chen den Hol­ly­wood-Film Op­pen­hei­mer se­hen, au­ßer in Ja­pan, al­so auch nicht in Hi­ro­shi­ma, der Stadt, die die Aus­wir­kun­gen der von Ro­bert Op­pen­hei­mer ko­or­di­nier­ten Er­fin­dung na­mens Atom­bom­be als er­ste und am här­te­sten zu spü­ren be­kam. Es gibt das Ge­rücht, daß der Film aus Ja­pan ver­bannt blei­ben soll; wahr­schein­li­cher ist, daß man ihm hier kei­nen gro­ßen Er­folg zu­traut und ihn spä­ter in Pro­gramm­ki­nos zei­gen wird. Kom­men­ta­re zum Film kön­nen wir im In­ter­net je­doch le­sen, so­gar ein drei­mi­nü­ti­ger Trai­ler ist uns ver­gönnt. In die­sem sieht man ei­ne Ex­plo­si­on, ei­nen wun­der­schö­nen ro­ten, ab­strakt blei­ben­den Feu­er­ball, der den gan­zen Raum hin­ter der Fi­gur aus­füllt. Dem Ver­neh­men nach läuft die Ex­plo­si­ons­pas­sa­ge in dem sonst an­schei­nend über­lau­ten Film oh­ne Ton ab. So kann man das Spek­ta­kel um­so ru­hi­ger ge­nie­ßen. Chri­sto­pher No­lan, der Re­gis­seur, hat die­se Sze­ne als »show­stop­per« be­zeich­net, er woll­te sie nicht mit Com­pu­ter­ani­ma­ti­on dre­hen. Das Pu­bli­kum soll­te an die­ser Stel­le, wenn schon nicht ap­plau­die­ren, dann zu­min­dest wow! flü­stern. »Hel­ler als tau­send Son­nen«, schrieb Ro­bert Jungk in den fünf­zi­ger Jah­ren, als Ro­bert Op­pen­hei­mer von den Kom­mu­ni­sten­jä­gern ver­folgt wur­de.

Ma­noh­la Dar­gis, Kri­ti­ke­rin der New York Times, fand es gut, daß der Film die rea­len Wir­kun­gen der bei­den er­sten Atom­an­grif­fe aus­spart. Um ihr Ar­gu­ment zu un­ter­mau­ern, zi­tiert sie Fran­çois Truf­f­aut, der mein­te, je­der Kriegs­film, auch An­ti­kriegs­fil­me, wür­den den Krieg glo­ri­fi­zie­ren. Truf­f­aut be­zieht sich al­ler­dings auf Spiel­fil­me, in de­nen Sol­da­ten beim Kriegs­hand­werk ge­zeigt wer­den. Ich glau­be nicht, daß er sa­gen woll­te, je­de Do­ku­men­ta­ti­on wür­de den Krieg ver­herr­li­chen. Dann wä­re auch das Frie­dens­mu­se­um auf dem Ground Ze­ro in Hi­ro­shi­ma, wo die er­ste der bei­den Bom­ben ex­plo­dier­te, bloß ein un­er­heb­li­ches Ele­ment der glo­ba­len Tou­ris­mus- und Un­ter­hal­tungs­in­du­strie. Ist es aber nicht, trotz der Ein­wän­de, die man nach der kürz­lich er­folg­ten Re­no­vie­rung des Mu­se­ums er­he­ben kann. Und trotz des gleich hin­ter dem ein­zi­gen da­mals – als Ske­lett – ste­hen­ge­blie­be­nen Ge­bäu­de, dem so­ge­nann­ten Hi­ro­shi­ma-Do­me, er­rich­te­ten Ori­zu­ru-Buil­dings, wo Tou­ri­sten ge­gen ein nicht ganz ge­rin­ges Ent­gelt selbst­ge­fal­te­te Kra­ni­che von der ober­sten Eta­ge se­geln las­sen und Sou­ve­nirs ein­kau­fen dür­fen. Ein Be­such des Frie­dens­parks und des Mu­se­ums weckt im­mer noch in je­dem nicht ganz ge­fühl­lo­sen Be­su­cher Ab­scheu ge­gen den Krieg, be­son­ders ge­gen den Atom­krieg. Und daß die Ein­zel­schick­sa­le der da­mals im Feu­er­ball Ver­brann­ten, Ver­schmol­ze­nen und Ver­strahl­ten ins Zen­trum der Aus­stel­lung ge­rückt wer­den, die hi­sto­ri­schen Zu­sam­men­hän­ge ein­schließ­lich ja­pa­ni­scher Kriegs­schuld aber im Hin­ter­grund blei­ben, än­dert an die­ser Be­trof­fen­heit gar nichts, im Ge­gen­teil. Ein Rück­griff auf hi­sto­ri­sches Do­ku­men­ta­ti­ons­ma­te­ri­al hät­te zwar kei­nen Show­stop­per-Ef­fekt im Op­pen­hei­mer-Film ge­bracht, aber den Ernst der An­ge­le­gen­heit un­ter­stri­chen. Mag sein, daß solch kru­de, schmerz­er­re­gen­de Bil­der die wohl­durch­dach­te Er­zäh­l­äs­the­tik des an­schei­nend rund­um ge­lun­ge­nen Films ge­stört hät­ten.

Auch oh­ne – aus dem er­wähn­ten Grund – Nolans Film ge­se­hen zu ha­ben, könn­te man den Glo­ri­fi­zie­rungs­ver­dacht eben­so­gut ge­gen die­sen wen­den. Dem Ver­neh­men nach ist nach dem so­ge­nann­ten Tri­ni­ty-Test im Ju­li 1945, al­so der er­sten ge­lun­ge­nen Atom­ex­plo­si­on, die Freu­de der For­scher und Ent­wick­ler an­ge­sichts des Feu­er­balls zu se­hen. Wird hier die ato­ma­re Zer­stö­rung glo­ri­fi­ziert? Viel­leicht nicht. Dem Kri­ti­ker der bri­ti­schen Film­zeit­schrift Em­pire je­den­falls dreht sich an die­ser Stel­le der Ma­gen um. We­nig spä­ter spricht der­sel­be Au­tor al­ler­dings von der »IMAX-boo­sted« Schön­heit der Tri­ni­ty-Se­quenz und fin­det sie »um­wer­fend«. Letzt­lich wird die Atom­er­zäh­lung wohl von der Am­bi­va­lenz und den Zwei­feln ge­tra­gen (oder ge­ret­tet?), die Cil­li­an Mur­phy – wie­der dem Ver­neh­men nach – an der Fi­gur Op­pen­hei­mers auf­zu­wei­sen ver­steht.

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Ko­re­as sanf­te Ra­che (2/2)

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In den Gas­sen von Mye­ong­dong er­ken­ne ich die Songs wie­der, die ge­ra­de in Mo­de sind, auch Kitsch wird schon ge­spielt, al­so Nineteen’s Kitsch, um ge­nau zu sein. Sie drin­gen durch die Ein­gän­ge der klei­ne­ren Kos­me­tik­ge­schäf­te, die ei­ni­ge Pro­duk­te bil­li­ger ver­kau­fen als die gro­ße Kos­me­tik­ket­te Oli­ve Young mit ih­ren all­ge­gen­wär­ti­gen, über die Stadt ver­streu­ten Fi­lia­len. Man­che Leu­te tun so viel von dem Zeug in den Ein­kaufs­korb, daß ich mich fra­ge, was sie denn noch al­les aus sich ma­chen wol­len – oder ob sie die Wa­re viel­leicht schmug­geln. Ge­färb­te Kon­takt­lin­sen oder sol­che, die die Pu­pil­le grö­ßer er­schei­nen las­sen, künst­li­che Haa­re, das gu­te al­te Prin­zip der Pe­rücke. Oder gleich ein chir­ur­gi­scher Ein­griff, der die Na­se, das Kinn, die Wan­gen ver­än­dert. Ist das dann noch Spiel, Cos­play? Oder wird es ernst? Im­mer noch Spiel, man kann sich ja mehr­mals um­mo­deln las­sen. Ein Stra­ßen­ver­käu­fer ge­gen­über vom Aus­gang un­se­res Ho­tels, der die Wa­re in ei­nem Wohn­wa­gen bringt und drau­ßen aus­stellt, stemmt sich der vor­herr­schen­den Kul­tur ent­ge­gen. Ein ha­ge­res Männ­chen mit zer­furch­tem Ge­sicht, die Base­ball­müt­ze ver­kehrt­her­um, un­auf­fäl­lig dun­kel­blau ge­klei­det, sitzt auf dem Tritt­brett, läßt die Bei­ne her­aus­hän­gen, ei­ne elek­tri­sche Baß­gi­tar­re im Schoß, auf der er in jahr­zehn­te­lan­ger Treue Ji­mi Hen­drix be­glei­tet, der aus den Laut­spre­chern spukt, um­ge­ben von Nip­pes, Stoff­tie­ren, Kunst­le­der­ta­schen mit Me­tall­be­schlag, bun­ten Socken. Der Sound des Al­ten, der nichts dar­stellt, wi­der­steht dau­er­haft den Mo­den des Out­fits und der Songs von Grup­pen, de­ren Le­bens­dau­er zwei Jah­re sel­ten über­steigt, weil ih­re Mit­glie­der, die Vor­zei­ge­girls und ‑boys, von der Un­ter­hal­tungs­fir­ma re­gel­mä­ßig ver­heizt wer­den.

Geht man von der Hon­gik-Uni­ver­si­tät die Hong­dae-Stra­ße hin­auf, wird es, so­fern die Son­ne un­ter­ge­gan­gen ist, noch ein­mal bun­ter. Die Leucht­zei­chen le­gen sich ins Zeug, die Men­schen­men­ge wird dich­ter, Knei­pen und Clubs ver­drän­gen die Klei­der­bou­ti­quen, und dann, ehe der Weg rich­tig steil wird, stößt man auf ei­nen Platz, des­sen Mit­te ein klei­nes Am­phi­thea­ter bil­det. Dort hat­te sich, als wir uns nä­her­ten, ein Pu­bli­kum an­ge­sam­melt, vor dem ei­ne Grup­pe jun­ger Leu­te ko­rea­ni­sche Pop­mu­sik vor­führ­te. Eher vor­führ­te als spiel­te, denn zwei der Jun­gen, dann wie­der drei oder vier Mäd­chen, ta­ten nicht mehr als mit ih­ren Stim­men hin und wie­der den Chor oder den Beat der Play­back-Mu­sik von BTS oder sonst ei­ner Band zu ver­stär­ken, wäh­rend ein Mäd­chen auf dem frei­en Platz vor ih­nen da­zu tanz­te. Die Mit­glie­der der Grup­pe ta­ten sich we­ni­ger durch ih­re Fä­hig­kei­ten als durch rot-schwarz glän­zen­de Uni­for­miert­heit her­vor und durch grell ge­färb­tes Haar, pink die Jun­gen, hell­blond die Mäd­chen. Der Ge­rech­tig­keit hal­ber soll­te ich sa­gen, daß sie sich bei den Tän­zen red­lich Mü­he ga­ben und die Vor­bil­der si­cher gut ko­pier­ten, aber sin­gen konn­ten sie nicht (in ab­ge­schwäch­ter Form gilt das ge­ne­rell für die K‑­Pop-Grup­pen, nur daß die aus­er­wähl­ten Pro­fis eben die gan­ze Di­gi­tal­tech­nik der Stu­di­os zur Ver­fü­gung ha­ben). Als wir nach ei­ner Wei­le den Steil­hang hin­auf­gin­gen, streif­te mich der Ge­dan­ke an die fa­ta­le Hal­lo­ween-Nacht und dann das Er­in­ne­rungs­bild an ei­ne Pro­vinz­sän­ge­rin in Frank­reich, die bei ei­nem Ball im Frei­en ir­gend­wo in Süd­frank­reich am Abend ei­nes 14. Ju­li mit dem Ein­satz von Leib und See­le Rouge et noir von Jean­ne Mas singt, wo­bei ich zum er­sten Mal emp­fand – was sich leicht sagt –, daß näm­lich die Ko­pie das Ori­gi­nal über­tref­fen kann.

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Ko­re­as sanf­te Ra­che (1/2)

Star­bucks ist kein Ca­fé, es ist ei­ne Mar­ke, man er­kennt sie leicht wie­der und je­der kennt sie. Star­bucks gibt es über­all auf der Welt und in je­dem Stadt­teil von Seo­ul, ist da­her als Treff­punkt bes­ser ge­eig­net als ir­gend­ein hüb­sches ein­hei­mi­sches Ca­fé, auch wenn der Kaf­fee dort bes­ser schmeckt, nicht so ein Gesch­la­der wie im Mar­ken­ca­fé. Al­so tref­fen wir uns in drei Stun­den im Star­bucks bei der U‑Bahnstation Mye­ong­dong. Das war die Ab­ma­chung. Ich weiß, mei­ne Toch­ter kommt im­mer zu spät, wäh­rend ich selbst gern et­was frü­her kom­me, um das zu tun, was ich jetzt tue: die Ge­gend mit Blicken son­die­ren, mich auf De­tails kon­zen­trie­ren, nach­den­ken, No­ti­zen ma­chen.

Es ist das er­ste Mal in ih­rem Le­ben, daß Yo­ko in ei­ner frem­den Stadt, wo sie die Lan­des­spra­che nicht ver­steht, al­lein un­ter­wegs ist. Sie freu­te sich dar­auf, hat­te wohl auch ein klein­we­nig Angst, ih­re Er­re­gung kann ich gut nach­voll­zie­hen, sie er­in­nert mich an mei­ne ei­ge­ne, als ich so alt war wie sie. Auch daß sie Sehn­sucht hat nach ei­nem an­de­ren Land, kann ich ver­ste­hen, und ih­re Lust, sich in frem­de Um­ge­bun­gen zu be­ge­ben. Als ich sech­zehn war, trug ich Ita­li­en im Kopf her­um, ge­nau­er: ei­ne Vor­stel­lung von Ita­li­en, da woll­te ich un­be­dingt hin, und zwar al­lein, je­den­falls oh­ne Fa­mi­lie (was dann erst mit acht­zehn mög­lich war). Mei­ne Vor­stel­lung war ei­ne kul­tu­rell ge­präg­te, Ita­li­en noch ein Sehn­suchts­land wie sei­ner­zeit für Goe­the, aber das Land lag auch na­he, man konn­te es per An­hal­ter leicht er­rei­chen, oder mit dem Zug, was ich als Stu­dent öf­ters tat, ei­ne un­be­que­me Nacht­rei­se im Lie­ge­wa­gen der Ei­sen­bahn nach Ve­ne­dig, um sie­ben Uhr früh stehst du auf dem Bahn­hofs­vor­platz, das Meer­was­ser plät­schert ge­gen die stei­ner­nen Fun­da­men­te.

Land der Zi­tro­nen (die erst viel wei­ter im Sü­den blü­hen), aber bald auch der ita­lie­ni­schen Pop­mu­sik, Lu­cio Dal­la, Fran­ces­co de Gre­go­ri, Fa­bri­zio de An­drè… Bes­ser als der heu­ti­ge K‑Pop? Kei­ne Ur­tei­le, jetzt nicht! So­gar die viel fei­ne­re ita­lie­ni­sche Mo­de konn­te mich in­ter­es­sie­ren, ob­wohl ich lang­haa­rig in aus­ge­wa­sche­nen Jeans her­um­lief. Nicht in der­sel­ben Wei­se, wie Yo­ko sich für Mo­de in­ter­es­siert. Ohr­rin­ge, Schmin­ke im Jun­gen­ge­sicht, aber nicht als Pro­test­zei­chen, son­dern ein­fach, weil es schick ist. Und die viel flot­ter ge­styl­ten Mu­sik­vi­de­os der K‑­Pop-Bands, die selbst­be­wuß­ten oder selbst­be­wußt wir­ken­den Girls der Girl-Bands, die an­spruchs­vol­len Cho­reo­gra­phien der Tän­ze, das har­te Trai­ning, das da­hin­ter­steckt. Stadt­vier­tel wie Mye­ong­dong oder Hong­dae oder Itae­won sind ei­ne ein­zi­ge mo­di­sche Kom­merz­zo­ne, der al­les ein­ver­leibt wird, die Ca­fés und Re­stau­rants, die kauf­wil­li­gen Fla­neu­re, die blü­hen­den Ma­gno­li­en, die aus dem 19. Jahr­hun­dert stam­men­den Kir­chen, die Re­si­den­zen – in Itae­won – von Bot­schafts­an­ge­hö­ri­gen und ein­hei­mi­schen Rei­chen. Ein Pa­ra­dies für Yo­ko... Wie ein Fisch im fun­keln­den Was­ser be­wegt man sich durch die Men­ge, die ein­mal zu dicht ge­wor­den ist, beim letz­ten Hal­lo­ween, aber dar­an denkt hier nie­mand mehr. Ein Pa­ra­dies auch für mich, wenn­gleich ein an­stren­gen­des. Al­so fol­ge ich, wenn sie nicht ge­ra­de al­lein un­ter­wegs ist, mei­ner Toch­ter und ge­he ihr so­gar vor­aus, denn ge­le­gent­lich ent­deckt man auch im Shop­ping-Be­reich mehr, in­dem man sich um­schaut und mit Leu­ten re­det als in­dem man aufs Smart­phone starrt und sich dem GPS-Füh­rer über­läßt. Klei­der­ge­schäf­te und hüb­sche Ca­fés mit hüb­schen Ku­chen, Stra­ßen­tän­zer, die al­ler­letz­te Eta­ge in ei­nem Kauf­hoch­haus, wo die Gä­ste – jun­ge Lie­bes­paa­re – statt im Ca­fé zu sit­zen sich bei schumm­ri­gem Licht auf Tu­chenten oder auf Schlaf­säcken in Zel­ten la­gern und Ge­trän­ke am Stroh­halm aus gro­ßen Pla­stik­be­chern schlür­fen, oder das ganz in Ba­by-Far­ben ge­hal­te­ne Sweet-Ca­fé, Sym­bol der In­fan­ti­li­sie­rung, die die Welt­ge­sell­schaft er­faßt hat (ein Kom­men­tar, den ich Yo­ko er­spa­re).

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