Wel­ten­zer­stö­rer

War­um der Hol­ly­wood-Film »Op­pen­hei­mer« den ja­pa­ni­schen Ki­no­zu­se­hern vor­ent­hal­ten wird

In al­len Welt­ge­gen­den konn­te man wäh­rend der letz­ten Wo­chen den Hol­ly­wood-Film Op­pen­hei­mer se­hen, au­ßer in Ja­pan, al­so auch nicht in Hi­ro­shi­ma, der Stadt, die die Aus­wir­kun­gen der von Ro­bert Op­pen­hei­mer ko­or­di­nier­ten Er­fin­dung na­mens Atom­bom­be als er­ste und am här­te­sten zu spü­ren be­kam. Es gibt das Ge­rücht, daß der Film aus Ja­pan ver­bannt blei­ben soll; wahr­schein­li­cher ist, daß man ihm hier kei­nen gro­ßen Er­folg zu­traut und ihn spä­ter in Pro­gramm­ki­nos zei­gen wird. Kom­men­ta­re zum Film kön­nen wir im In­ter­net je­doch le­sen, so­gar ein drei­mi­nü­ti­ger Trai­ler ist uns ver­gönnt. In die­sem sieht man ei­ne Ex­plo­si­on, ei­nen wun­der­schö­nen ro­ten, ab­strakt blei­ben­den Feu­er­ball, der den gan­zen Raum hin­ter der Fi­gur aus­füllt. Dem Ver­neh­men nach läuft die Ex­plo­si­ons­pas­sa­ge in dem sonst an­schei­nend über­lau­ten Film oh­ne Ton ab. So kann man das Spek­ta­kel um­so ru­hi­ger ge­nie­ßen. Chri­sto­pher No­lan, der Re­gis­seur, hat die­se Sze­ne als »show­stop­per« be­zeich­net, er woll­te sie nicht mit Com­pu­ter­ani­ma­ti­on dre­hen. Das Pu­bli­kum soll­te an die­ser Stel­le, wenn schon nicht ap­plau­die­ren, dann zu­min­dest wow! flü­stern. »Hel­ler als tau­send Son­nen«, schrieb Ro­bert Jungk in den fünf­zi­ger Jah­ren, als Ro­bert Op­pen­hei­mer von den Kom­mu­ni­sten­jä­gern ver­folgt wur­de.

Ma­noh­la Dar­gis, Kri­ti­ke­rin der New York Times, fand es gut, daß der Film die rea­len Wir­kun­gen der bei­den er­sten Atom­an­grif­fe aus­spart. Um ihr Ar­gu­ment zu un­ter­mau­ern, zi­tiert sie Fran­çois Truf­f­aut, der mein­te, je­der Kriegs­film, auch An­ti­kriegs­fil­me, wür­den den Krieg glo­ri­fi­zie­ren. Truf­f­aut be­zieht sich al­ler­dings auf Spiel­fil­me, in de­nen Sol­da­ten beim Kriegs­hand­werk ge­zeigt wer­den. Ich glau­be nicht, daß er sa­gen woll­te, je­de Do­ku­men­ta­ti­on wür­de den Krieg ver­herr­li­chen. Dann wä­re auch das Frie­dens­mu­se­um auf dem Ground Ze­ro in Hi­ro­shi­ma, wo die er­ste der bei­den Bom­ben ex­plo­dier­te, bloß ein un­er­heb­li­ches Ele­ment der glo­ba­len Tou­ris­mus- und Un­ter­hal­tungs­in­du­strie. Ist es aber nicht, trotz der Ein­wän­de, die man nach der kürz­lich er­folg­ten Re­no­vie­rung des Mu­se­ums er­he­ben kann. Und trotz des gleich hin­ter dem ein­zi­gen da­mals – als Ske­lett – ste­hen­ge­blie­be­nen Ge­bäu­de, dem so­ge­nann­ten Hi­ro­shi­ma-Do­me, er­rich­te­ten Ori­zu­ru-Buil­dings, wo Tou­ri­sten ge­gen ein nicht ganz ge­rin­ges Ent­gelt selbst­ge­fal­te­te Kra­ni­che von der ober­sten Eta­ge se­geln las­sen und Sou­ve­nirs ein­kau­fen dür­fen. Ein Be­such des Frie­dens­parks und des Mu­se­ums weckt im­mer noch in je­dem nicht ganz ge­fühl­lo­sen Be­su­cher Ab­scheu ge­gen den Krieg, be­son­ders ge­gen den Atom­krieg. Und daß die Ein­zel­schick­sa­le der da­mals im Feu­er­ball Ver­brann­ten, Ver­schmol­ze­nen und Ver­strahl­ten ins Zen­trum der Aus­stel­lung ge­rückt wer­den, die hi­sto­ri­schen Zu­sam­men­hän­ge ein­schließ­lich ja­pa­ni­scher Kriegs­schuld aber im Hin­ter­grund blei­ben, än­dert an die­ser Be­trof­fen­heit gar nichts, im Ge­gen­teil. Ein Rück­griff auf hi­sto­ri­sches Do­ku­men­ta­ti­ons­ma­te­ri­al hät­te zwar kei­nen Show­stop­per-Ef­fekt im Op­pen­hei­mer-Film ge­bracht, aber den Ernst der An­ge­le­gen­heit un­ter­stri­chen. Mag sein, daß solch kru­de, schmerz­er­re­gen­de Bil­der die wohl­durch­dach­te Er­zäh­l­äs­the­tik des an­schei­nend rund­um ge­lun­ge­nen Films ge­stört hät­ten.

Auch oh­ne – aus dem er­wähn­ten Grund – Nolans Film ge­se­hen zu ha­ben, könn­te man den Glo­ri­fi­zie­rungs­ver­dacht eben­so­gut ge­gen die­sen wen­den. Dem Ver­neh­men nach ist nach dem so­ge­nann­ten Tri­ni­ty-Test im Ju­li 1945, al­so der er­sten ge­lun­ge­nen Atom­ex­plo­si­on, die Freu­de der For­scher und Ent­wick­ler an­ge­sichts des Feu­er­balls zu se­hen. Wird hier die ato­ma­re Zer­stö­rung glo­ri­fi­ziert? Viel­leicht nicht. Dem Kri­ti­ker der bri­ti­schen Film­zeit­schrift Em­pire je­den­falls dreht sich an die­ser Stel­le der Ma­gen um. We­nig spä­ter spricht der­sel­be Au­tor al­ler­dings von der »IMAX-boo­sted« Schön­heit der Tri­ni­ty-Se­quenz und fin­det sie »um­wer­fend«. Letzt­lich wird die Atom­er­zäh­lung wohl von der Am­bi­va­lenz und den Zwei­feln ge­tra­gen (oder ge­ret­tet?), die Cil­li­an Mur­phy – wie­der dem Ver­neh­men nach – an der Fi­gur Op­pen­hei­mers auf­zu­wei­sen ver­steht.

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Ko­re­as sanf­te Ra­che (2/2)

← 1. Teil

In den Gas­sen von Mye­ong­dong er­ken­ne ich die Songs wie­der, die ge­ra­de in Mo­de sind, auch Kitsch wird schon ge­spielt, al­so Nineteen’s Kitsch, um ge­nau zu sein. Sie drin­gen durch die Ein­gän­ge der klei­ne­ren Kos­me­tik­ge­schäf­te, die ei­ni­ge Pro­duk­te bil­li­ger ver­kau­fen als die gro­ße Kos­me­tik­ket­te Oli­ve Young mit ih­ren all­ge­gen­wär­ti­gen, über die Stadt ver­streu­ten Fi­lia­len. Man­che Leu­te tun so viel von dem Zeug in den Ein­kaufs­korb, daß ich mich fra­ge, was sie denn noch al­les aus sich ma­chen wol­len – oder ob sie die Wa­re viel­leicht schmug­geln. Ge­färb­te Kon­takt­lin­sen oder sol­che, die die Pu­pil­le grö­ßer er­schei­nen las­sen, künst­li­che Haa­re, das gu­te al­te Prin­zip der Pe­rücke. Oder gleich ein chir­ur­gi­scher Ein­griff, der die Na­se, das Kinn, die Wan­gen ver­än­dert. Ist das dann noch Spiel, Cos­play? Oder wird es ernst? Im­mer noch Spiel, man kann sich ja mehr­mals um­mo­deln las­sen. Ein Stra­ßen­ver­käu­fer ge­gen­über vom Aus­gang un­se­res Ho­tels, der die Wa­re in ei­nem Wohn­wa­gen bringt und drau­ßen aus­stellt, stemmt sich der vor­herr­schen­den Kul­tur ent­ge­gen. Ein ha­ge­res Männ­chen mit zer­furch­tem Ge­sicht, die Base­ball­müt­ze ver­kehrt­her­um, un­auf­fäl­lig dun­kel­blau ge­klei­det, sitzt auf dem Tritt­brett, läßt die Bei­ne her­aus­hän­gen, ei­ne elek­tri­sche Baß­gi­tar­re im Schoß, auf der er in jahr­zehn­te­lan­ger Treue Ji­mi Hen­drix be­glei­tet, der aus den Laut­spre­chern spukt, um­ge­ben von Nip­pes, Stoff­tie­ren, Kunst­le­der­ta­schen mit Me­tall­be­schlag, bun­ten Socken. Der Sound des Al­ten, der nichts dar­stellt, wi­der­steht dau­er­haft den Mo­den des Out­fits und der Songs von Grup­pen, de­ren Le­bens­dau­er zwei Jah­re sel­ten über­steigt, weil ih­re Mit­glie­der, die Vor­zei­ge­girls und ‑boys, von der Un­ter­hal­tungs­fir­ma re­gel­mä­ßig ver­heizt wer­den.

Geht man von der Hon­gik-Uni­ver­si­tät die Hong­dae-Stra­ße hin­auf, wird es, so­fern die Son­ne un­ter­ge­gan­gen ist, noch ein­mal bun­ter. Die Leucht­zei­chen le­gen sich ins Zeug, die Men­schen­men­ge wird dich­ter, Knei­pen und Clubs ver­drän­gen die Klei­der­bou­ti­quen, und dann, ehe der Weg rich­tig steil wird, stößt man auf ei­nen Platz, des­sen Mit­te ein klei­nes Am­phi­thea­ter bil­det. Dort hat­te sich, als wir uns nä­her­ten, ein Pu­bli­kum an­ge­sam­melt, vor dem ei­ne Grup­pe jun­ger Leu­te ko­rea­ni­sche Pop­mu­sik vor­führ­te. Eher vor­führ­te als spiel­te, denn zwei der Jun­gen, dann wie­der drei oder vier Mäd­chen, ta­ten nicht mehr als mit ih­ren Stim­men hin und wie­der den Chor oder den Beat der Play­back-Mu­sik von BTS oder sonst ei­ner Band zu ver­stär­ken, wäh­rend ein Mäd­chen auf dem frei­en Platz vor ih­nen da­zu tanz­te. Die Mit­glie­der der Grup­pe ta­ten sich we­ni­ger durch ih­re Fä­hig­kei­ten als durch rot-schwarz glän­zen­de Uni­for­miert­heit her­vor und durch grell ge­färb­tes Haar, pink die Jun­gen, hell­blond die Mäd­chen. Der Ge­rech­tig­keit hal­ber soll­te ich sa­gen, daß sie sich bei den Tän­zen red­lich Mü­he ga­ben und die Vor­bil­der si­cher gut ko­pier­ten, aber sin­gen konn­ten sie nicht (in ab­ge­schwäch­ter Form gilt das ge­ne­rell für die K‑­Pop-Grup­pen, nur daß die aus­er­wähl­ten Pro­fis eben die gan­ze Di­gi­tal­tech­nik der Stu­di­os zur Ver­fü­gung ha­ben). Als wir nach ei­ner Wei­le den Steil­hang hin­auf­gin­gen, streif­te mich der Ge­dan­ke an die fa­ta­le Hal­lo­ween-Nacht und dann das Er­in­ne­rungs­bild an ei­ne Pro­vinz­sän­ge­rin in Frank­reich, die bei ei­nem Ball im Frei­en ir­gend­wo in Süd­frank­reich am Abend ei­nes 14. Ju­li mit dem Ein­satz von Leib und See­le Rouge et noir von Jean­ne Mas singt, wo­bei ich zum er­sten Mal emp­fand – was sich leicht sagt –, daß näm­lich die Ko­pie das Ori­gi­nal über­tref­fen kann.

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Ko­re­as sanf­te Ra­che (1/2)

Star­bucks ist kein Ca­fé, es ist ei­ne Mar­ke, man er­kennt sie leicht wie­der und je­der kennt sie. Star­bucks gibt es über­all auf der Welt und in je­dem Stadt­teil von Seo­ul, ist da­her als Treff­punkt bes­ser ge­eig­net als ir­gend­ein hüb­sches ein­hei­mi­sches Ca­fé, auch wenn der Kaf­fee dort bes­ser schmeckt, nicht so ein Gesch­la­der wie im Mar­ken­ca­fé. Al­so tref­fen wir uns in drei Stun­den im Star­bucks bei der U‑Bahnstation Mye­ong­dong. Das war die Ab­ma­chung. Ich weiß, mei­ne Toch­ter kommt im­mer zu spät, wäh­rend ich selbst gern et­was frü­her kom­me, um das zu tun, was ich jetzt tue: die Ge­gend mit Blicken son­die­ren, mich auf De­tails kon­zen­trie­ren, nach­den­ken, No­ti­zen ma­chen.

Es ist das er­ste Mal in ih­rem Le­ben, daß Yo­ko in ei­ner frem­den Stadt, wo sie die Lan­des­spra­che nicht ver­steht, al­lein un­ter­wegs ist. Sie freu­te sich dar­auf, hat­te wohl auch ein klein­we­nig Angst, ih­re Er­re­gung kann ich gut nach­voll­zie­hen, sie er­in­nert mich an mei­ne ei­ge­ne, als ich so alt war wie sie. Auch daß sie Sehn­sucht hat nach ei­nem an­de­ren Land, kann ich ver­ste­hen, und ih­re Lust, sich in frem­de Um­ge­bun­gen zu be­ge­ben. Als ich sech­zehn war, trug ich Ita­li­en im Kopf her­um, ge­nau­er: ei­ne Vor­stel­lung von Ita­li­en, da woll­te ich un­be­dingt hin, und zwar al­lein, je­den­falls oh­ne Fa­mi­lie (was dann erst mit acht­zehn mög­lich war). Mei­ne Vor­stel­lung war ei­ne kul­tu­rell ge­präg­te, Ita­li­en noch ein Sehn­suchts­land wie sei­ner­zeit für Goe­the, aber das Land lag auch na­he, man konn­te es per An­hal­ter leicht er­rei­chen, oder mit dem Zug, was ich als Stu­dent öf­ters tat, ei­ne un­be­que­me Nacht­rei­se im Lie­ge­wa­gen der Ei­sen­bahn nach Ve­ne­dig, um sie­ben Uhr früh stehst du auf dem Bahn­hofs­vor­platz, das Meer­was­ser plät­schert ge­gen die stei­ner­nen Fun­da­men­te.

Land der Zi­tro­nen (die erst viel wei­ter im Sü­den blü­hen), aber bald auch der ita­lie­ni­schen Pop­mu­sik, Lu­cio Dal­la, Fran­ces­co de Gre­go­ri, Fa­bri­zio de An­drè… Bes­ser als der heu­ti­ge K‑Pop? Kei­ne Ur­tei­le, jetzt nicht! So­gar die viel fei­ne­re ita­lie­ni­sche Mo­de konn­te mich in­ter­es­sie­ren, ob­wohl ich lang­haa­rig in aus­ge­wa­sche­nen Jeans her­um­lief. Nicht in der­sel­ben Wei­se, wie Yo­ko sich für Mo­de in­ter­es­siert. Ohr­rin­ge, Schmin­ke im Jun­gen­ge­sicht, aber nicht als Pro­test­zei­chen, son­dern ein­fach, weil es schick ist. Und die viel flot­ter ge­styl­ten Mu­sik­vi­de­os der K‑­Pop-Bands, die selbst­be­wuß­ten oder selbst­be­wußt wir­ken­den Girls der Girl-Bands, die an­spruchs­vol­len Cho­reo­gra­phien der Tän­ze, das har­te Trai­ning, das da­hin­ter­steckt. Stadt­vier­tel wie Mye­ong­dong oder Hong­dae oder Itae­won sind ei­ne ein­zi­ge mo­di­sche Kom­merz­zo­ne, der al­les ein­ver­leibt wird, die Ca­fés und Re­stau­rants, die kauf­wil­li­gen Fla­neu­re, die blü­hen­den Ma­gno­li­en, die aus dem 19. Jahr­hun­dert stam­men­den Kir­chen, die Re­si­den­zen – in Itae­won – von Bot­schafts­an­ge­hö­ri­gen und ein­hei­mi­schen Rei­chen. Ein Pa­ra­dies für Yo­ko... Wie ein Fisch im fun­keln­den Was­ser be­wegt man sich durch die Men­ge, die ein­mal zu dicht ge­wor­den ist, beim letz­ten Hal­lo­ween, aber dar­an denkt hier nie­mand mehr. Ein Pa­ra­dies auch für mich, wenn­gleich ein an­stren­gen­des. Al­so fol­ge ich, wenn sie nicht ge­ra­de al­lein un­ter­wegs ist, mei­ner Toch­ter und ge­he ihr so­gar vor­aus, denn ge­le­gent­lich ent­deckt man auch im Shop­ping-Be­reich mehr, in­dem man sich um­schaut und mit Leu­ten re­det als in­dem man aufs Smart­phone starrt und sich dem GPS-Füh­rer über­läßt. Klei­der­ge­schäf­te und hüb­sche Ca­fés mit hüb­schen Ku­chen, Stra­ßen­tän­zer, die al­ler­letz­te Eta­ge in ei­nem Kauf­hoch­haus, wo die Gä­ste – jun­ge Lie­bes­paa­re – statt im Ca­fé zu sit­zen sich bei schumm­ri­gem Licht auf Tu­chenten oder auf Schlaf­säcken in Zel­ten la­gern und Ge­trän­ke am Stroh­halm aus gro­ßen Pla­stik­be­chern schlür­fen, oder das ganz in Ba­by-Far­ben ge­hal­te­ne Sweet-Ca­fé, Sym­bol der In­fan­ti­li­sie­rung, die die Welt­ge­sell­schaft er­faßt hat (ein Kom­men­tar, den ich Yo­ko er­spa­re).

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Aus dem Sumpf

Nach drei Jah­ren ist end­gül­tig Schluß mit den Re­gio­nal­rei­sen. Nie­mand fin­det noch et­was da­bei, über Gren­zen hin­aus­zu­ge­hen, in an­de­re Re­gio­nen und Rei­che und Re­vie­re hin­ein. Je­der fährt hin, wo er will.

Aber will ich denn über­haupt? Nicht ein­mal die näch­sten, die eng­sten Gren­zen rei­zen mich. Im Zim­mer rei­sen, im ei­ge­nen Kopf… Was ist da­bei? En­de der Re­gio­nal­rei­sen, des Re­gio­na­lis­mus an sich, En­de der Kraft, der Ent­deckungs­lust. En­de der Schwel­len­for­schung. Den Auf­stieg zu dem klei­nen ame­ri­ka­freund­li­chen Zen-Klo­ster an ei­nem der Hän­ge des Aras­hi­ya­ma, weit hin­ten im Tal des Flus­ses Oi, wür­de ich heu­te nicht mehr schaf­fen. Wo­zu auch? Ich ken­ne das schon, ha­be al­le Er­fah­run­gen ge­macht, er­löst will ich nicht mehr wer­den. Je­de Ge­gen­wart ist ein Es-war-ein­mal.

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Ne­ben­bah­nen

Im rum­peln­den Zug das Tal hin­un­ter, das zu­erst ein­mal ei­ne Schlucht ist, be­vor es sich wei­tet und die Ge­bäu­de zu­neh­men, woll­te ich die Land­schaft und was dar­in vor­kommt, al­ler­lei Din­ge und We­sen, mit den Au­gen mei­ner Toch­ter be­trach­ten, die hier täg­lich au­ßer sonn­tags ih­ren Schul­weg hin­ter sich bringt, aber dann wur­de mir be­wußt, daß sie ihr Smart­phone bei sich hat und si­cher die mei­ste Zeit dar­auf starrt wie die an­de­ren Schü­ler auch, wenn sie nicht ge­ra­de schla­fen, aber das eher nicht, denn die Plät­ze sind zu die­sen Zei­ten, mor­gens und abends, be­setzt, da müß­te sie schon im Ste­hen schla­fen. Es ist der ge­wohn­te Blick der Pend­ler, den­ke ich, der ober­fläch­li­che Smart­phone­blick, der die Bil­der fort­wischt, so­fern sie sich nicht von selbst be­we­gen, die be­weg­ten und un­be­weg­ten Bil­der, fort- und her­bei­bug­siert im Nu; oder der schwar­ze Blick des Schlafs, der graue des Dö­sens; oder der Blick nach in­nen, wo die Träu­me hau­sen. Bloß kei­ne Wirk­lich­keit! Die sich so­wie­so in ei­nem Satz be­schrei­ben läßt: grü­nes Ge­wu­cher, grau­er Be­ton, Blin­ken von Was­ser, Ka­ros­se­rien und Licht­re­fle­xen. Punkt. Am En­de doch wie­der das­sel­be wie die Bil­der­flut am Dis­play.

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Eight-Six

Im Zug die üb­li­chen Sams­tag­nach­mit­tag-Base­ball­fans in ih­ren ro­ten T‑Shirts, ro­ten Kap­pen, ro­ten Car­di­gans, ro­ten Ta­schen, ro­ten Socken, ro­ten Schlap­fen, al­les rot, nur die Ho­sen nicht, bei den Ho­sen ist grün in Mo­de, das merkt man auch hier. Ah, mein Buch paßt da­zu, die Fahrt­lek­tü­re, ein Ro­man von Phil­ip Roth, na­tür­lich in Rot. Dann Stra­ßen­bahn, Ein­kaufs­stra­ße, Shou­ten­gai, Par­co, das Kauf­haus für jun­ge Leu­te, wo ich frü­her oft ein­kau­fen war, als ich mich noch halb­wegs jung fühl­te, plau­dern mit mei­ner Lieb­lings­ver­käu­fe­rin, die ich neu­lich vor ei­nem Ca­fé ge­trof­fen ha­be, sie ar­bei­tet schon lan­ge nicht mehr in der Bou­tique.

»Und jetzt?«

»Hier in der Ge­gend.«

»Da gibt es doch nichts.«

Sie hat sich schon frü­her für schicke Au­tos in­ter­es­siert, und hier, wo es nichts gibt, gibt es nicht we­ni­ge Zu­lie­fe­rungs­fir­men für Mat­su­da, auf deutsch Maz­da.

Wir lach­ten, gin­gen un­se­rer We­ge. Die Bou­tique im Par­co ist nicht mehr das, was sie war. Die Ge­schäfts­lei­tung der Ket­te, zu der sie ge­hört, woll­ten sie noch mehr ver­jün­gen, jetzt ste­hen dort däm­li­che Jungs mit tou­pier­ten Fri­su­ren als Ver­käu­fer her­um, le­ben­de Schau­fen­ster­pup­pen, we­nig Kun­den. Ich muß oh­ne­hin in den zehn­ten Stock, den letz­ten. Club Quat­tro, hät­te ich im Kel­ler er­war­tet, Goog­le Maps spe­zi­fi­ziert das nicht, ist aber oben über den Dä­chern der Stadt. Was man dann gar nicht merkt, wenn man ein­mal drin ist in der Bu­de. Fen­ster­lo­se Sä­le die­ser Art ha­ben al­le­samt et­was von den al­ten Beat-Kel­lern, Gott hab sie se­lig. Kühl, ge­dämpft, nicht zu groß nicht zu klein, vor­ne Steh­pu­bli­kum, hin­ten Sitz­plät­ze an zwei lan­gen The­ken. An den Sei­ten­wän­den drei ver­grö­ßer­te Fo­tos, die wie Vor­hän­ge wir­ken, rechts die Sze­ne­rie des zer­stör­ten Hi­ro­shi­ma im Au­gust 1945, dar­un­ter ein neu­es Fo­to des­sel­ben Orts, die Dä­cher der Stadt, wie man sie vom Par­co aus sieht, links ein so­fort als sol­ches er­kenn­ba­res Kunst­werk, ei­ne Col­la­ge, die lin­ke Hälf­te des Fo­tos sehr bunt, die rech­te dun­kel, über­wie­gend schwarz we­gen der al­ten Leu­te, die da in Trau­er­klei­dung auf dem Bo­den lie­gen, sich da­bei aber, nach ih­rer Mi­mik zu schlie­ßen, recht gut amü­sie­ren. Auf der lin­ken Hälf­te ste­hen und lie­gen und krab­beln fast nack­te, nur mit Win­deln be­klei­de­te Ba­bys auf der grü­nen Wie­se, ein paar Tie­re sind auch da, ei­ne gro­ße Schild­krö­te, ein Fuchs, ein klei­nes Nas­horn, und in der Mit­te des Gan­zen, schwarz-weiß oder grau-weiß, der Atom­pilz, das Zen­tral­mo­tiv der gan­zen An­ord­nung. Le­ben und Tod? Le­ben und Le­ben. Oder Le­ben und Tod und noch im­mer Le­ben.

Ach ja, das Kon­zert fin­det am 6. Au­gust statt, nicht um 8 Uhr 15, son­dern am Abend. Ab­ge­se­hen von den Vor­hang­fo­tos, die bald im Dun­kel ver­schwin­den wer­den, ist nicht viel da­von zu mer­ken. Der Mo­de­ra­tor sagt pflicht­schul­dig ein paar Wor­te, auch die Jün­ge­ren, auch die Al­ter­na­ti­ven sol­len an die­sem Tag dar­an er­in­nert wer­den und nicht ver­ges­sen, daß es im­mer noch Atom­waf­fen gibt und Krie­ge ge­führt wer­den.

»Wart ihr um acht Uhr schon wach? Habt ihr die An­spra­chen ge­hört? Im Fern­se­hen, ja? Nein? Macht nichts.«

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Sehn­sucht nach Nor­ma­li­tät

Sayaka Murata: Die Ladenhüterin
Saya­ka Mu­ra­ta:
Die La­den­hü­te­rin

Über den Ro­man »Die La­den­hü­te­rin« von Saya­ka Mu­ra­ta

Mit ei­ni­ger Ver­spä­tung – aber wenn es um Li­te­ra­tur geht, ist es be­kannt­lich nie zu spät – ha­be ich Die La­den­hü­te­rin von Saya­ka Mu­ra­ta ge­le­sen. Das Buch ist in Ja­pan 2016 er­schie­nen, Ur­su­la Grä­fes deut­sche Über­set­zung 2018; ich ha­be den klei­nen Ro­man in der 5. Auf­la­ge der Ta­schen­buch­aus­ga­be von 2021 ge­le­sen. Der zeit­li­che Ab­stand zur Erst­pu­bli­ka­ti­on und den Re­ak­tio­nen dar­auf gibt dem Ver­lag die Mög­lich­keit, über den Er­folg zu ju­beln und da­mit Wer­bung zu trei­ben (was ihm durch­aus nicht zu ver­den­ken ist): »Be­ein­druckend leicht und ele­gant«, das Buch ha­be die deut­schen Le­se­rin­nen und Le­ser »im Sturm er­obert« – ob­wohl es gar nicht stür­misch, son­dern so sym­pa­thisch zu­rück­hal­tend wie die Ich-Er­zäh­le­rin und Haupt­fi­gur ist. Aber sei’s drum, wenn Li­te­ra­tur die Men­schen er­obert, soll’s mir recht sein.

Der Ti­tel des Ori­gi­nals ist üb­ri­gens, wört­lich über­setzt, »Kon­bi­ni-Men­schen«, wo­bei im Ja­pa­ni­schen oh­ne Kon­text zu­nächst nicht zu ent­schei­den ist, ob Sin­gu­lar oder Plu­ral, es könn­ten auch Kon­bi­ni-Men­schen sein, ein gan­zer Men­schen­schlag, zu dem ich mich dann auch zäh­len wür­de, weil ich wie fast al­le in Ja­pan Le­ben­den häu­fig ei­nes der zahl­lo­sen Kon­bi­nis – con­ve­ni­ence stores – auf­su­che. Ur­su­la Grä­fe hat den Ti­tel nicht kon­ge­ni­al, son­dern in­ge­ni­ös über­setzt: Die La­den­hü­te­rin, und sie hat das Wort so­gar ein- oder zwei­mal in sei­ner zwei­ten Be­deu­tung in den Text ein­ge­streut: Die Ver­käu­fe­rin im Kon­bi­ni ist ei­ne un­ver­hei­ra­te­te Mitt-Drei­ßi­ge­rin, die an­schei­nend nie­mand hei­ra­ten will und die selbst auch nie auf die Idee ge­kom­men ist, sich dem an­de­ren Ge­schlecht se­xu­ell an­zu­nä­hern. Die Ich-Er­zäh­le­rin, Kei­ko Fu­ru­ku­ra, be­müht sich nach Kräf­ten, nor­mal zu sein, das heißt so wie al­le an­de­ren zu sein, aber sie schafft es nicht, schafft es al­len­falls am Rand der Nor­ma­li­tät als un­ver­hei­ra­te­ter free­ter, der schlecht be­zahl­te Teil­zeit­ar­beit ver­rich­tet und in ei­ner win­zi­gen Woh­nung haust. Zieht man da­zu auch die kurz re­ka­pi­tu­lier­te Vor­ge­schich­te die­ser Frau in Be­tracht, Au­ßen­sei­te­rin seit der Grund­schu­le, fällt die Nä­he zu ei­ner an­de­ren Sym­bol­fi­gur der heu­ti­gen ja­pa­ni­schen Ge­sell­schaft auf, dem hi­ki­ko­m­ori, der sich in sei­nem Zim­mer ver­bar­ri­ka­diert und zur Welt kaum noch Be­zie­hun­gen un­ter­hält.1

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  1. Die österreichisch-tschechisch-japanische Autorin Milena Michiko Flašar hat dieses Thema in ihrem Roman Ich nannte ihn Krawatte aufgegriffen. 

Schwar­ze Blu­men? Wei­ße Blu­men? Blaue Blu­men!

»Das Licht spielt auf je­der Haut an­ders; bei je­dem Men­schen, in je­dem Mo­nat und an je­dem Tag.« (Yo­ko Ta­wa­da)

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Phil­ip Roth hat das al­les kom­men se­hen, als er ge­gen En­de des 20. Jahr­hun­derts Der mensch­li­che Ma­kel schrieb. In die­sem Ro­man, dem drit­ten Teil sei­ner »ame­ri­ka­ni­schen Tri­lo­gie«, gibt sich ein jun­ger, re­la­tiv hell­häu­ti­ger Afro-Ame­ri­ka­ner na­mens Co­le­man Silk 1944 bei der US-Ar­mee als Wei­ßer aus und bleibt bis zum En­de sei­nes Le­bens bei die­ser Lü­ge. Im ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch be­zeich­net man ei­nen sol­chen Schritt, der in der Wirk­lich­keit gar nicht so sel­ten vor­kam, als pas­sing. Nach sei­nem Tod im Jahr 1998 be­merkt Co­lem­ans (dun­kel­häu­ti­ge­re) Schwe­ster im Ge­spräch mit dem Er­zäh­ler, daß En­de des 20. Jahr­hun­derts »kein in­tel­li­gen­ter Ne­ger aus der Mit­tel­schicht« die ras­si­sche Selbst­zu­ord­nung wech­seln wür­de. »Heu­te ist es nicht vor­teil­haft, so et­was zu tun, so wie es da­mals eben sehr wohl vor­teil­haft war.«

Wenn schon pas­sing , dann in die an­de­re Rich­tung. Aus Weiß mach Schwarz oder ei­ne an­de­re Far­be, war­um nicht Rot – das könn­te doch vor­teil­haft sein, wenn es dar­um geht, ein Uni­ver­si­täts­sti­pen­di­um oder Wäh­ler­stim­men zu be­kom­men. So mach­ten es die de­mo­kra­ti­sche Po­li­ti­ke­rin Eliza­beth War­ren, die be­haup­te­te, in­dia­ni­sche Vor­fah­ren zu ha­ben, oder die Hi­sto­ri­ke­rin Jes­si­ca Krug, die sich un­ter an­de­rem als Afro-Pu­er­to­ri­ka­ne­rin aus­gab, oder die Künst­le­rin und Po­lit­ak­ti­vi­stin Ra­chel Do­le­zal, die mitt­ler­wei­le als Fri­sö­rin jobbt, nach­dem ihr Be­trug als »schwar­ze« Stu­den­tin an der tra­di­tio­nell afro-ame­ri­ka­ni­schen Ho­ward Uni­ver­si­ty auf­ge­flo­gen war. Wenn man es als Be­trug auf­fas­sen will, denn Do­le­zal selbst meint, ras­si­sche Zu­ge­hö­rig­keit – den Ame­ri­ka­nern geht das Wort »race« leicht über die Lip­pen – sei kei­ne bio­lo­gi­sche Fra­ge, son­dern ei­ne der per­sön­li­chen Ent­schei­dung und der So­zia­li­sie­rung.

Do­le­zal ist üb­ri­gens jü­di­scher Her­kunft. In Eu­ro­pa, be­son­ders in Deutsch­land und Öster­reich, wur­den Ju­den aus ras­si­schen Grün­den ver­folgt und schließ­lich er­mor­det. In den USA gel­ten sie als »weiß«, und sie selbst se­hen sich wohl mei­stens auch so. Co­le­man Silk, der Held in Phil­ip Roths Ro­man, gibt sich nicht als ir­gend­ein Wei­ßer aus, son­dern als Ju­de. Und zu­fäl­lig hat auch er an der Ho­ward Uni­ver­si­ty stu­diert, wenn­gleich nur ei­ne Wo­che lang, vor sei­nem Ein­tritt in die Na­vy. Er hielt den Ras­sis­mus im da­ma­li­gen Wa­shing­ton D. C. nicht aus und ent­zog sich dem bren­nen­den Wunsch sei­nes Va­ters, ei­nes »be­ken­nen­den« Schwar­zen, an die­ser Uni­ver­si­tät zu stu­die­ren. In sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren wird Co­le­man auf pa­ra­do­xe Wei­se von sei­ner Her­kunft ein­ge­holt. Nach­dem er lan­ge Zeit De­kan ei­ner klei­ne­ren Uni­ver­si­tät ge­we­sen ist, wird ihm der Vor­wurf des Ras­sis­mus ge­macht, und dar­über ver­liert er sei­ne (jü­di­sche) Frau und sei­ne Stel­lung am Col­lege. Iro­nie des Schick­sals, Iro­nie der ame­ri­ka­ni­schen Ge­schich­te. Der sy­ste­mi­sche An­ti­ras­sis­mus ist ras­si­stisch ge­wor­den und bringt ei­nen Mann mit afro-ame­ri­ka­ni­schen Wur­zeln zu Fall.

Who­o­pi Gold­berg, die dun­kel­häu­ti­ge Schau­spie­le­rin, ist nicht ras­si­stisch, sie ist nur et­was na­iv und viel­leicht, im Un­ter­schied zu Co­le­man Silk, nicht sehr ge­bil­det. Die Ver­fol­gung der Ju­den durch die Na­zis sei ein Pro­blem un­ter Wei­ßen ge­we­sen, sag­te sie An­fang 2022 in ih­rer TV-Show. Nun ja, vie­le Ju­den ha­ben ei­ne eher hel­le Haut­far­be – und für Gold­berg ist »Ras­se« gleich­be­deu­tend mit Haut­far­be. Ihr Fa­mi­li­en­na­me klingt deutsch-jü­disch, doch ih­re Vor­fah­ren, so­weit man et­was über sie weiß, wa­ren Afro-Ame­ri­ka­ner. Fünf Jah­re zu­vor ko­ket­tier­te sie in ei­nem In­ter­view mit ih­rem Jü­disch-Sein; sie spre­che oft zu Gott, sag­te sie, ließ aber of­fen, zu wel­chem.

Wei­ter­le­sen ...