Transversale Reisen durch die Welt der Romane
»Road movie« ist ein geläufiger Begriff der Cinephilie, jeder Kinogeher könnte sofort ein paar Beispiele dafür aufzählen. Aber »Reiseroman« sagt man gewöhnlich nicht, obwohl es sehr viele Reiseromane gibt. Road novels. Viele Romanhelden bewegen sich gern, sind nicht seßhaft, verspüren Wanderlust wie weiland Eichendorffs Taugenichts.
Schon die Wilhelm Meister-Romane sind road novels; die Theatertruppe, der sich Wilhelm anschließt, ist eine Wandertruppe. Reisen birgt Gefahren und die Chance auf Abenteuer. Gehen wir noch weiter zurück: Don Quijote, der, wie oft gesagt wird, erste europäische Roman, ist ein Reiseroman, das Genre definiert sich zunächst als eines der Beweglichkeit, erst später, im 19. Jahrhundert, mehren sich die häuslichen Romane, von welchen Buddenbrooks einen Kulminationspunkt darstellt. Das Haus Buddenbrook und seine Repräsentanten., die Erben von Vermögen und Verantwortung. Dagegen sind Don Quijote und seine Nachfahren bis hin zu den Romantikern Nomaden.
Ein Gutteil der Romane Peter Handkes sind Reiseromane. Der kurze Brief zum langen Abschied sowieso, ein Amerikaroman, wie Langsame Heimkehr, wo der Weg in die umgekehrte Richtung führt. Später die Heimat Niemandsbucht, wo der Erzähler sieben Reiseberichte von Freunden empfängt: multiple road novel. Aber auch späte Werke wie Die Obstdiebin.
Oder Roberto Bolaños Wilde Detektive, wo die mexikanische Reise im amerikanischen Straßenkreuzer als Quest der jungen Dichter und Lebenskünstler angelegt ist.
(Nebenbei bemerkt: Adventure-Videogames folgen fast immer dem mittelalterlichen Schema der Quest. Erzähltechnisch also nichts Neues. Nur medientechnisch. Eine Quest, was oder wen immer du auch suchst, macht jede Geschichte spannend. Amen!)
Wiederlektüren stehen einem alten Mann besser an als Neulektüren. Warum? Weil vom Neuen bei ihm nicht viel hängen bleibt; weil es ihn nicht tief berührt und jedenfalls seine Persönlichkeit nicht mehr prägen kann. Von neuen Büchern, die ich jetzt lese, merke ich mir bei weitem nicht so viel wie von Büchern, die ich als 15‑, 20- oder 30jähriger las. Die jetzigen Lektüren senken sich nicht in die Tiefe meines Wesens. Klingt pathetisch, ist aber einfach so. Derzeit lese ich Wilhelm Meisters Lehrjahre wieder, und parallel dazu Torquato Tasso (kein Roman, sondern ein sehr klassisches Drama). Da denke ich ein ums andere Mal: Aha, genau, so ist er, dieser Wilhelm, dieser Tasso! Ich kenne sie, meine Pappenheimer. Dann wieder Erinnerungsblitze: Ach, das hatte ich ganz vergessen! Ich sehe manche Figuren, Situationen, gedanklichen Implikationen neu, auch das kommt vor. Einiges hatte ich vielleicht vor vierzig Jahren nicht begriffen. Aber insgesamt hatte ich viel, viel mehr begriffen, als ich jetzt bei einer Erstlektüre begreife. Mein Gehirn ist nicht mehr das, was es war. In mancher Hinsicht ist es jetzt vielleicht sogar besser: konnektiver, manchmal auch schneller, weil geschult. In anderer Hinsicht ist es schwächer, träger: begeisterungsträge.