Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (5/9)

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5 – Dumm­heit ist ein Wund­mal.

Ge­gen En­de des zwei­ten Welt­kriegs und der na­tio­nal­so­zia­li­sti­schen Herr­schaft in Deutsch­land und Öster­reich ver­öf­fent­lich­ten Max Hork­hei­mer und Theo­dor W. Ador­no ein Buch mit dem Ti­tel Dia­lek­tik der Auf­klä­rung, das bis heu­te viel zi­tiert, aber we­nig ge­le­sen wird (was nicht nur an der Schwie­rig­keit der Ge­dan­ken, son­dern auch am ma­nie­rier­ten, über­la­de­nen Satz­bau liegt). So gut wie gar nicht ge­le­sen wird der Schluß­teil, ei­ne Art An­hang von Frag­men­ten und Skiz­zen, der mit die­sem Satz be­ginnt: »Zu den Leh­ren der Hit­ler­zeit ge­hört die von der Dumm­heit des Ge­scheits­eins.« Dar­an ist zu­nächst ein­mal er­staun­lich, daß die Schrei­ber von ei­ner zu En­de ge­gan­ge­nen Epo­che zu spre­chen schei­nen. Das Buch ist aber 1944 er­schie­nen, im Vor­wort aus die­sem Jahr wei­sen die Au­toren auf den An­hang hin, er dürf­te al­so schon in der Erst­aus­ga­be ent­hal­ten ge­we­sen sein. Wa­ren sich die bei­den gar so si­cher, daß die Hit­ler­zeit dem­nächst der Ver­gan­gen­heit an­ge­hö­ren wür­de? We­nig spä­ter noch noch deut­li­cher, im Im­per­fekt: »Die in Deutsch­land zur Macht ka­men, wa­ren ge­schei­ter als die Li­be­ra­len und düm­mer.«

Ador­no lieb­te pa­ra­do­xe For­mu­lie­run­gen, sei­ne ne­ga­ti­ve Dia­lek­tik sta­chel­te ihn im­mer wie­der da­zu an. Die rhe­to­ri­sche Ma­schi­ne­rie hat je­doch die pro­ble­ma­ti­sche Ten­denz, die Re­de zu­neh­mend von der Er­fah­rungs­wirk­lich­keit zu ent­fer­nen, über sie hinwegzu­schweben oder sie ganz aus dem Blick zu ver­lie­ren. Das Bei­spiel, das Hork­hei­mer und Ador­no mehr an­deu­ten als be­spre­chen, ist die – nicht beim Na­men ge­nann­te – Be­schwich­ti­gungs­po­li­tik des sei­ner­zei­ti­gen bri­ti­schen Pre­mier­mi­ni­sters Cham­ber­lain ge­gen­über dem sich im­mer ag­gres­si­ver ver­hal­ten­den NS-Re­gime. Im nach­hin­ein ist man na­tür­lich ge­schei­ter, aber das Zö­gern nicht nur Cham­ber­lains, son­dern zahl­rei­cher Ver­ant­wort­li­cher in ver­schie­de­nen Län­dern wä­re doch zu­nächst nicht als Zei­chen von man­geln­der In­tel­li­genz, son­dern ei­ner Zu­rück­hal­tung zu wer­ten, die in vie­len Si­tua­tio­nen klug sein mag, im ge­ge­be­nen Fall je­doch falsch war. Zu vie­les, vor al­lem aber: zu lan­ges Nach­zu­den­ken kann die not­wen­di­ge Hand­lungs­be­reit­schaft hem­men – das zeigt uns schon das Bei­spiel Ham­lets, des Prin­zen von Dä­ne­mark. Soll man in die­sen Fäl­len aber ge­nau­so von Dumm­heit spre­chen, wie man es bei Ge­dan­ken­lo­sig­keit oder man­geln­der In­tel­li­genz tut? Ich fürch­te, die dia­lek­ti­sche bzw. pa­ra­doxa­le Fi­gur, zu der die bei­den Den­ker ge­lan­gen, rührt da­her, daß sie das Wort »Dumm­heit« mit zwei­er­lei Be­deu­tung ge­brau­chen. Sie be­ruht auf se­man­ti­scher In­kon­gru­enz.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (4/9)

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4 – Wer über Dumm­heit spricht, setzt vor­aus, daß er sich für klug hal­te, ob­wohl es als Zei­chen der Dumm­heit gilt, das zu tun.

In sei­ner am 11. März 1937, ex­akt ein Jahr vor dem An­schluss Öster­reichs an Deutsch­land, in Wien ge­hal­te­nen Re­de Über die Dumm­heit hielt Ro­bert Mu­sil ein­gangs die Schwierig­keit fest, »daß je­der, der über Dumm­heit spre­chen oder sol­chem Ge­spräch mit Nut­zen bei­woh­nen will, von sich vor­aus­set­zen muß, daß er nicht dumm sei; und al­so zur Schau trägt, daß er sich für klug hal­te, ob­wohl es all­ge­mein für ein Zei­chen von Dumm­heit gilt, das zu tun!« Franz Schuh adel­te die­sen Satz in ei­ner Re­zen­si­on – ein Gen­re, das auch Mu­sil pfleg­te – zum »Mu­sil­schen Pa­ra­dox«, und tat­säch­lich er­in­nert er ein we­nig an das so­kra­ti­sche. Schuh kommt al­ler­dings zu dem Schluß, daß man Dumm­hei­ten mit »re­la­ti­ver In­tel­li­genz« be­nen­nen kön­ne, oh­ne dem Pa­ra­dox der Dumm­heit zu ver­fal­len. Wich­tig scheint mir hier das Epi­the­ton »re­la­tiv«: Der Klu­ge bleibt sich des­sen be­wußt, daß sei­ne Aus­füh­run­gen un­zu­treff­fend sein oder so­gar der Dumm­heit an­heim fal­len könn­ten. Ich glau­be, man kann wei­ter ge­hen und die Mu­sil­schen Skru­pel – zwar nicht be­sei­ti­gen, aber auf ein ge­lin­de­res Maß zu­rück­stut­zen. Ei­ne Aus­sa­ge über Dumm­heit kann sinn­voll oder un­sin­nig, rich­tig oder falsch, ethisch ak­zep­ta­bel oder in­ak­zep­ta­bel sein. Selbst ein Dum­mer kann der ei­ge­nen Dumm­heit ge­wahr wer­den und die­se per­sön­li­che Ei­gen­schaft über­win­den. Es ist nicht not­wen­dig, stän­dig auf Dumm­hei­ten hin­zu­wei­sen – wer wä­re vor ih­nen ge­feit? –, aber manch­mal eben doch, und wer soll­te dies auf sich neh­men, wenn nicht die Klu­gen, un­ab­hän­gig da­von, ob sie ein Da­mo­kles­schwert der Pa­ra­do­xie über ih­ren Häup­tern spü­ren oder nicht. Ist nicht auch die Angst, sich in zwei­ter In­stanz lä­cher­lich zu ma­chen, ei­ne Spiel­art der Ei­tel­keit, der Mu­sil zu Recht die in­tel­lek­tu­el­le Be­schei­den­heit ent­ge­gen­setzt?

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (3/9)

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3 – Du sollst nicht den­ken!

Pau­lus von Tar­sus, die­ser er­ste gro­ße, um nicht zu sa­gen groß­spu­ri­ge Mis­sio­nar, for­der­te von der Chri­sten­ge­mein­de ei­nen re­gel­rech­ten Wil­len zum Nicht­wis­sen, wenn er dar­auf be­stand, daß »gött­li­che Tor­heit« wei­ser sei als mensch­li­che Klug­heit (ei­ne Va­ri­an­te des so­kra­ti­schen Pa­ra­do­xons!), und ver­kün­det, die Tö­rich­ten sei­en von Gott aus­er­wählt, wo­hin­ge­gen die Wei­sen »zu Schan­den« ge­macht wür­den. Nietz­sche zi­tiert die­se Stel­le 1869 in sei­ner Schrift über die Ge­burt der Tra­gö­die; noch zwei Jahr­zehn­te spä­ter be­müht er sich nach­zu­wei­sen, daß das Chri­sten­tum in sei­ner ge­sam­ten Ge­schich­te dar­auf hin­aus­lau­fe, je­de Form des Er­ken­nens zu un­ter­drücken, weil es dem Glau­ben zwangs­läu­fig den Bo­den ent­zie­he. Im 18. Jahr­hun­dert hat­ten Phi­lo­so­phen wie Leib­niz oder Her­der ver­sucht, Ra­tio­na­li­tät und gött­li­che Of­fen­ba­rung in Ein­klang zu brin­gen – ein in nietz­schea­ni­scher Per­spek­ti­ve ab­sur­des Un­ter­fan­gen. Das we­sent­li­che christ­li­che Ge­bot lau­tet nach Nietz­sche: »Du sollst nicht den­ken!« Er führt es auf die Fi­gur des Je­sus Chri­stus zu­rück, dem er den Eh­ren­ti­tel »Idi­ot« ver­leiht.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (2/9)

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2 – Se­lig die Ar­men im Gei­ste...

»Se­lig die Ar­men im Gei­ste, denn ih­rer ist das Him­mel­reich«: ei­ner der zahl­rei­chen be­rühm­ten Sät­zen, die Chri­stus zu­ge­schrie­ben wer­den. Auch der Hei­land hat sich al­so für Dumm­heit, für gei­sti­ge Be­schränkt­heit aus­ge­spro­chen. Wer aufs Rä­so­nie­ren ver­zich­tet, kommt leich­ter ins Him­mel­reich als die Welt­klu­gen, die Ver­nünft­ler, wie Lu­ther sie spä­ter nen­nen soll­te. Frei­lich, wir ha­ben da ein klei­nes, aber fei­nes Über­set­zungs­pro­blem: Wel­che Art von Gei­stig­keit ist im Mat­thä­us-Evan­ge­li­um ei­gent­lich ge­meint? Eher die re­li­giö­se, der man im Deut­schen das Ad­jek­tiv »geist­lich« zu­ord­net, oder die verstandes­mäßige, mit der wir uns in er­ster Li­nie welt­li­chen Din­gen zu­wen­den? Im grie­chi­schen Text steht das No­men »Pneu­ma«. Da die alt­grie­chi­sche Spra­che ein vor­christ­lich ge­präg­tes Zei­chen­sy­stem ist, soll­te man doch an­neh­men, daß der Ver­fas­ser des grie­chi­schen Tex­tes die zwei­te Be­deu­tung im Sinn hat­te (Lu­ther ver­wen­det in sei­ner Über­set­zung das Wort »geist­lich«). Al­so Leu­te, die nicht zu den Klu­gen, den Stu­dier­ten, den Schrift­ge­lehr­ten ge­hö­ren. Sieht man sich den Kon­text an, fügt sich die­ser Ty­pus in die Rei­he der Se­lig­prei­sun­gen, die die Sanft­mü­ti­gen, Barm­her­zi­gen, Fried­lie­ben­den be­tref­fen.

An an­de­rer Stel­le er­klärt Chri­stus die Kin­der zu den be­vor­zug­ten Be­woh­nern des Him­mel­reichs. Ein kind­li­cher Geist, ein ein­fa­ches, nicht ver­bil­de­tes Ge­müt kann oh­ne Wenn und Aber er­löst wer­den. Liest man sich durch die Ge­schich­ten vom Men­schen­sohn, so fällt auf, daß er be­vor­zugt Au­ßen­sei­ter um sich schar­te, dar­un­ter so­gar Ver­bre­cher und Pro­sti­tu­ier­te, ne­ben Lei­den­den und Ge­brech­li­chen. Die Un­wis­sen­den und gei­stig Minder­bemittelten pas­sen da ins Bild. Der My­sti­ker Mei­ster Eck­hart fand für die von Chri­stus ge­mein­te Ar­mut fol­gen­de For­mel: »Ein ar­mer Mensch ist, wer nichts will, nichts weiß und nichts hat.« Arm im Gei­ste sind für Eck­hart je­ne, die ab­ge­löst sind vom Wis­sen, nach­dem sie sich in ih­rer geist­li­chen Exi­stenz da­von frei­ge­macht ha­ben. Er ge­steht zu, daß es im welt­li­chen Le­ben um Lie­ben und Er­ken­nen geht, doch der Schritt zur Er­leuch­tung set­ze den Ver­zicht auf die­se mensch­li­chen Fä­hig­kei­ten vor­aus. Man kann sich kaum ei­nen schär­fe­ren Ge­gen­satz zu Eck­harts Ide­al­fi­gur vor­stel­len als den smart­phone­ab­hän­gi­gen di­gi­tal na­ti­ve, der zu je­der Ta­ges- und Nacht­zeit Such­ma­schi­nen, En­zy­klo­pä­dien, In­for­ma­ti­ons­dien­ste, Über­set­zug­s­al­go­rith­men be­nutzt. Frei­lich, man kann das auch an­ders­rum se­hen: Der di­gi­ta­li­sier­te Mensch braucht gar nichts zu wis­sen, da die mei­sten in­tel­lek­tu­el­len Funk­tio­nen von Ma­schi­nen und Rech­nern über­nom­men wor­den sind. In ge­wis­ser Wei­se ist der Smart­phone-Ma­ni­ker ein Ar­mer im Geist, der Gei­stig­keit und Ge­dächt­nis von sich ab­ge­trennt hat und sich nun ei­gent­lich hö­he­ren Din­gen zu­wen­den könn­te – wenn er nur Lust da­zu hät­te. Tat­säch­lich wen­det er sich bil­li­gen Ver­gnü­gun­gen zu, al­so welt­li­chen For­men der Dumm­heit.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (1/9)

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1 – Ich weiß, daß ich nichts weiß.

»Ich weiß, daß ich nichts weiß«, ei­ner der be­rühm­te­sten Sät­ze der Gei­stes­ge­schich­te: im Grun­de ge­nom­men klingt die­se Aus­sa­ge nach ei­ner Dumm­heit. Was soll die­ses Ein­geständnis des Nicht­wis­sens, an­geb­lich ge­äu­ßert vom an­geb­lich klüg­sten Mann des grie­chi­schen Al­ter­tums (dem Ora­kel von Del­phi zu­fol­ge)? Ist ja in Ord­nung, wenn er nichts weiß, aber soll­te das Stre­ben ei­nes Klu­gen nicht da­hin ge­hen, et­was zu wis­sen, auch wenn er sich der ei­ge­nen Be­schränkt­hei­ten und der Re­la­ti­vi­tät al­les Fest­ge­stell­ten be­wußt sein mag? Der be­rühm­te Satz klingt wei­ter, und er klingt jetzt ein we­nig nach ei­nem trot­zi­gen Ich will-auch-gar-nichts-wis­sen! Ist die­ser Satz nicht, ge­nau­er be­trach­tet, ei­ne blo­ße Va­ria­ti­on des Pa­ra­do­xons des Lüg­ners, der die Wahr­heit sagt, wenn er be­haup­tet, er lü­ge, und lügt, wenn er be­haup­tet, er sa­ge die Wahr­heit? Wie kann denn der Nicht­wissende et­was wis­sen (näm­lich daß er nichts weiß)? Of­fen­sicht­lich han­delt es sich hier um ei­nen So­phis­mus, und tat­säch­lich wird die­ser Satz dem So­kra­tes le­dig­lich zugeschrieb­en, ge­rüch­te­wei­se, man fin­det ihn nir­gend­wo in schrift­li­chen Auf­zeich­nun­gen, we­der bei Pla­ton noch bei Xe­no­phon.

Für Mi­chel de Mon­tai­gne war So­kra­tes ein gro­ßes Vor­bild: nicht nur ein scharf­sin­ni­ger Den­ker, son­dern ei­ner, der stets den rich­ti­gen Blick, die an­ge­mes­se­ne Hal­tung zu den Din­gen und Wech­sel­fäl­len des Le­bens und zu­letzt auch zum Tod fand – fast so et­was wie der idea­le Mensch. Den­noch zi­tiert Mon­tai­gne in sei­nen weit­läu­fig mä­an­dern­den Es­sais den So­kra­tes zu­ge­schrie­be­nen Satz vom Nicht­wis­sen kein ein­zi­ges Mal. Er un­ter­läßt es nicht aus quel­len­kri­ti­scher Vor­sicht, son­dern, wie ich ver­mu­te, weil er in die­ser Form nicht zur Ge­stalt des Phi­lo­so­phen zu pas­sen scheint. Wohl aber fin­det sich an zen­tra­ler Stel­le im Werk Mon­tai­gnes wie auch in auch in sei­nem Le­bens­kon­text, an dem Ort näm­lich, an dem sein Werk ent­stand, im Bü­cher­zim­mer oben im Turm des Schlos­ses von Ey­quem, ein ähn­li­cher, wenn auch viel schlich­te­rer Satz: »Que scay-je?« Al­so ei­ne Fra­ge, kei­ne Be­haup­tung, ver­ewigt im Bla­son des Gei­stes­adels un­ter ei­ner Waa­ge; ich glau­be nicht, daß dies ein Zu­fall oder blo­ßes Or­na­ment ist.

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Go­ya und die Zeit­fä­den

Ein Künst­ler, der durch Be­harr­lich­keit, Un­be­irr­bar­keit und na­tür­lich durch Fleiß im Lauf der Jah­re im­mer bes­ser, tie­fer, dü­ste­rer wur­de. Bes­ser ist dü­ste­rer?

Ja. Viel­leicht nur durch Nach­denk­lich­keit, viel­leicht ist das die wich­tig­ste Ei­gen­schaft. Durch­drin­gung, das braucht Zeit, oft Jahr­zehn­te. Be­son­ders, wenn man aus ei­nem ab­ge­le­ge­nen Dorf stammt, wo es nichts zu se­hen gibt. Das muß man erst ein­mal ver­ste­hen: nichts zu se­hen.

Aber Die Er­schie­ßung der Auf­stän­di­schen ist doch ei­ne Art Ge­le­gen­heits­ma­le­rei, fast wie Jour­na­lis­mus, Il­lu­stra­ti­on der jüng­sten Er­eig­nis­se...

Francisco de Goya: "Die Erschießung der Aufständischen" - Francisco De Goya de España [Public domain], via Wikimedia Commons (Quelle)
Fran­cis­co de Go­ya: »Die Er­schie­ßung der Auf­stän­di­schen« –
Fran­cis­co De Go­ya de Es­pa­ña [Pu­blic do­main], via Wi­ki­me­dia Com­mons (Quel­le)

Ja, aber ver­tieft, und da­zu ge­hört Vor­be­rei­tung. Viel­leicht brin­gen glück­li­che Um­stän­de die Zeit­fä­den zu­sam­men, time li­nes, sagt man heu­te, so daß ein Werk ent­ste­hen kann. Man­che Künst­ler brau­chen kei­ne Ent­wick­lung, sie sind von An­fang an die, die sie sind. Für die an­de­ren bleibt nur Ent­wick­lung, und die geht lang­sam, sie braucht Zeit. Die Er­schie­ßung über­schrei­tet als Kunst­werk die Zeit, sie zeigt die Sol­da­ten als be­lang­lo­se Mör­der, als un­ter­ge­ord­ne­te Graue Her­ren, als Funk­tio­nä­re, die das Le­ben be­herr­schen (und letzt­lich aus­rot­ten) wol­len, wo es sich nicht be­herr­schen läßt. Sie sind ge­fühl­los, ge­sichts­los, zei­chen­los. Für sie gibt es nur ein ein­zi­ges Zei­chen: Feu­er!

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Kind­ver­lust­ge­schich­te

1

ge­setzt, ich wür­de
ge­setzt, ich hät­te
al­so: ich hat­te
mei­ne Toch­ter, mein Ein und Al­les und mich
mei­nen ein­zi­gen Schatz, der ich sonst nichts be­sit­ze
                                                                                     be­sit­zen will
mein Ta­lent ver
                              ge­ssen
                        ver
                              schleu­dert
                        ver
                              dör­ren las­sen

al­so ich, hilfs­be­dürf­tig und ver­schwie­gen, hat­te sie, da sie noch klein war, bei Ver­wand­ten ge­las­sen, wuß­te aber lei­der nicht mehr, bei wel­chen, so daß ich nun mei­ne ei­ge­ne Fa­mi­li­en­ge­schich­te ab­gra­sen müß­te, um zu mei­nem Ein und Al­les zu­rück­zu­fin­den. Das will ich jetzt ver­su­chen, was bleibt mir üb­rig (nichts!), denn ich hat­te doch – mei­ne Recht­fer­ti­gung! – ei­nen Auf­trag zu er­fül­len (ge­habt) im Na­men mei­ner Schwe­ster Ma­ria oder mei­ner Freun­din Adel­heid, die ihn selbst nicht er­le­di­gen konn­te. Ich hat­te mich mit ih­rem Hünd­chen in der Ein­kaufs­ta­sche, ei­nem win­zi­gen wu­se­li­gen grau­en Hünd­chen, das er­krankt war und fast er­schlafft jetzt, auf den Weg zum Klein­tier­arzt ge­macht, wie hät­te ich mei­ner Freun­din oder Schwe­ster die Bit­te ab­schla­gen sol­len un­ter sol­chen Um­stän­den, da sie ver­hin­dert war. Und wo an­ders hät­te ich mich hin­be­ge­ben sol­len als in die Klein­tierarztpraxis un­se­rer ge­mein­sa­men Freun­din Bri­git­te. Als ich dort an­kam, war das War­te­zim­mer men­schen­leer und über­sät von mehr oder we­ni­ger ka­put­tem Kinderspiel­zeug und Pa­pier­schnip­seln und be­druck­ten, aus Kin­der­bü­chern ge­ris­se­nen Sei­ten: ei­ne ge­stran­de­te und ver­las­se­ne Ar­che No­ah, al­le Tie­re und Kin­der längst aus­ge­schifft. Die Gu­ten hat­ten sich mit ein we­nig Glück ei­ne neue Welt zu­recht­ge­macht, aber oh­ne sie, oh­ne mei­ne Toch­ter, mein Ein und Al­les, mein Ta­lent: trau­ri­ge Welt! Nein, hier konn­te ich das Hünd­chen nicht hei­len las­sen, und in die­sem Au­gen­blick war mei­ne Toch­ter viel­leicht zum er­sten Mal, oh­ne daß ich es merk­te, ver­schwun­den, da­bei hat­te ich nicht ein­mal mei­nen Auf­trag er­fül­len kön­nen

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Pass­wort (3)

Teil 2 / Teil 1

3

Ei­ne Wo­che spä­ter sag­te sie mir, sie ha­be end­lich ei­ne Spur ge­fun­den.

Ei­ne Spur?

Ja, und sie ha­be die­se Spur gleich ver­folgt. Ta­ge­lang hat­te sie ver­geb­lich ver­sucht, irgend­einen An­halts­punkt zu fin­den, und jetzt, end­lich. Ihr Sohn hat­te fast nichts hin­ter­las­sen, nur die Bäl­le und Ke­gel, Qua­der und Tü­cher, ein paar Zau­be­ru­ten­si­li­en. Und na­tür­lich das Smart­phone – oh­ne Kopf­hö­rer, der war ver­schwun­den – und den Com­pu­ter. Die­se bei­den Ge­rä­te wür­den ver­mut­lich al­les ent­hal­ten (sie be­ton­te das Wort ALLES), aber sie ken­ne das Pass­wort nicht, ihr Mann schon gar nicht, nie­mand ken­ne das Pass­wort au­ßer ih­rem Sohn, und ihn kön­ne man nicht mehr fra­gen. Stun­den­lang ha­be sie al­le mög­li­chen Ein­ga­ben ver­sucht, Ge­burts­ta­ge, Lieb­lings­man­ga­fi­gu­ren, Na­men von Familienange­hörigen, Pop­bands, Sek­kai, An­fang, En­de, Sek­kaio­wa­ri, Sek­kai­no, Owa­ri­sek­kai, al­les mög­li­che, Zu­falls­kom­bi­na­tio­nen, Zah­len und Buch­sta­ben, ab­wech­selnd, die Zei­chen auf der Ta­sta­tur in Ver­bin­dun­gen, die wie­der an­de­re Zei­chen er­ga­ben, Kreu­ze, Zacken, um­sonst. Se­sam öff­ne­te sich nicht. Und die Wahr­schein­lich­keit, daß er es noch tun wür­de, war gleich null.

Ein IT-Dienst? Wenn man den Schlüs­sel zu sei­ner Woh­nung ver­liert, ruft man doch auch den Schlüs­sel­dienst.

»Ich ha­be doch te­le­pho­niert«, sag­te sie, fast schon ein we­nig ent­rü­stet. »Die ma­chen das nur auf An­wei­sung der Po­li­zei. Ich müss­te die Po­li­zei ein­schal­ten. Aber was soll ich de­nen sa­gen? Daß ich nach Adres­sen su­che?«

»Und Hacker? Ich mei­ne, es gibt Leu­te, die ma­chen sich dar­aus ein Spiel, Com­pu­ter knacken.«

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