Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (9/9)

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9 – Un­schul­di­ge For­men der Über­trei­bung

First, the facts. Zu­erst die Fak­ten. Mit die­sem Satz be­gann Jo­el Pol­l­ak, Chef­re­dak­teur der Web­site Breit­bart News, am 23. Ja­nu­ar 2017 sei­nen Leit­ar­ti­kel, in dem er Do­nald Trump und sei­ne Mit­ar­bei­ter in Schutz nahm, die in Be­zug auf die Zahl der bei der Amts­einführung des Prä­si­den­ten an­we­sen­den Per­so­nen maß­los über­trie­ben hat­ten. Kel­ly­an­ne Con­way, sei­ne Spre­che­rin, hat­te von »al­ter­na­ti­ven Fak­ten« ge­spro­chen, um Trumps groß­spu­ri­ge Be­haup­tung, das Pu­bli­kum sei zahl­rei­cher ge­we­sen als bei sei­nem Amts­vor­gän­ger, zu ze­men­tie­ren.

Wel­che Fak­ten hat­te Pol­l­ak in die­ser An­ge­le­gen­heit zu bie­ten? Nun, er führ­te aus, daß die Men­ge von der Tri­bü­ne her ge­se­hen, al­so vom Stand­ort des Prä­si­den­ten, ge­wal­tig wirk­te – er selbst kön­ne dies be­stä­ti­gen, denn er ha­be ei­nen Platz auf der Tri­bü­ne er­gat­tert ge­habt. Die­se Recht­fer­ti­gung, der Prä­si­dent sei halt ei­ner sub­jek­ti­ven Täu­schung er­le­gen, mag den Jour­na­li­sten eh­ren. Vom Stand­punkt der Wahr­haf­tig­keit aus ge­se­hen ist es be­denk­lich, wenn sub­jek­ti­ve Ein­drücke zu Fak­ten ge­adelt wer­den. So­wohl in der Wis­sen­schaft als auch in der Po­li­tik und in der me­dia­len Be­richt­erstat­tung soll­te bei­des ge­trennt wer­den. Was Pol­l­ak als Fak­ten be­zeich­ne­te, ist nichts an­de­res als die Fest­stel­lung der Sub­jek­ti­vi­tät der Wahr­neh­mung, die na­tür­lich für je­der­mann gilt. Wir ha­ben täg­lich den Ein­druck, die Son­ne be­we­ge sich um die Er­de, und un­se­re Spra­che spie­gelt die­sen Ein­druck wi­der: Die Son­ne geht auf und sie geht un­ter. Wir wis­sen aber heu­te dank Ko­per­ni­kus und Ga­li­lei, daß die Tat­sa­chen an­ders lie­gen.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (8/9)

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8 – Den­ken ist vor al­lem Mut.

Der Satz stammt stammt in die­ser Form zwar von Lud­wig Hohl, aber man kann ihn fast wort­gleich schon bei Im­ma­nu­el Kant in des­sen Schrift Was ist Auf­klä­rung le­sen. Das Sub­jekt, von dem Kant dort spricht, ist »der Mensch«. Der Kö­nigs­ber­ger Phi­lo­soph be­an­sprucht mit­hin, für al­le zu spre­chen (und bei je­man­dem, der die Schrit­te und Be­grif­fe sei­nes Den­kens so ge­nau zu durch­den­ken ge­wohnt war, kann man an­neh­men, daß er sich des Sinns sei­ner Äu­ße­run­gen bis in die Ein­zel­hei­ten be­wußt war). Dumm sind die Men­schen dann, wenn es ih­nen an Mut man­gelt, den ei­ge­nen Ver­stand zu ge­brau­chen. Den ei­ge­nen Ver­stand zu ge­brau­chen setzt je­doch vor­aus, daß im Prin­zip je­der fä­hig ist, dies auch zu tun und da­durch zu mehr oder min­der ver­nüf­ti­gen Schlüs­sen zu ge­lan­gen. Ernst Cas­si­rer be­tont in sei­ner Er­läu­te­rung der Kri­tik der rei­nen Ver­nunft, das Kant­sche Sub­jekt sei iden­tisch mit der mensch­li­chen Ver­nunft. Ob die­se Be­haup­tung – oder doch eher For­de­rung? – im prak­ti­schen Sinn zu ver­ste­hen ist, muß man sich zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts fra­gen. Im Grun­de ge­nom­men trifft sich Ador­no in sei­ner anthropo­logischen Er­klä­rung der Dumm­heit mit Kant, denn wenn man wei­ter nach­fragt, wie es denn zur be­an­stan­de­ten Mut­lo­sig­keit kom­men konn­te, so wird man frü­her oder spä­ter auf das Phä­no­men der Angst sto­ßen. Frei­lich, im Zeit­al­ter der all­mäch­ti­gen Kul­tur­in­du­strie, die Ador­no als er­ster sy­ste­ma­tisch zu be­schrei­ben un­ter­nahm, be­steht in den so­ge­nann­ten ent­wickel­ten Län­dern für die gro­ße Mehr­heit der Bür­ger we­nig Grund zur Denk- und Sprech­angst. Ih­re Träg­heit ist eher dar­auf zu­rück­zu­füh­ren, daß sie macht­vol­len Stra­te­gien der Ein­lul­lung, der vor­sätz­li­chen Ver­dum­mung, der me­di­en­be­ding­ten In­fan­ti­li­sie­rung zum Op­fer fal­len. Oder muß man gar, im Wi­der­spruch zu Kant, an­neh­men, es ge­be so et­was wie ei­ne mensch­li­che Grund­ei­gen­schaft der Träg­heit als in­di­vi­du­al­psy­cho­lo­gi­sche Ent­spre­chung zum an­thro­po­lo­gi­schen To­des­trieb, den Freud »ent­deck­te«? So daß nicht nur die Neu­gier dem Men­schen an­ge­bo­ren wä­re, son­dern auch ein ge­gen­läu­fi­ges Stre­ben, das ihn, wenn es über­hand nimmt, un­mün­dig macht. Die Kul­tur­in­du­strie – zu die­ser Fest­stel­lung be­darf es kei­ner aus­führ­li­chen Ar­gu­men­ta­ti­on – för­dert die Träg­heit, sti­mu­liert Süch­te, re­du­ziert die In­di­vi­du­en auf ei­ne An­zahl von Re­fle­xen und schwächt die Neu­gier, den selbst­tä­ti­gen For­schungs­geist.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (7/9)

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7 – Wir goo­geln uns blöd!

Di­gi­ta­le De­menz lau­tet der rei­ße­ri­sche Ti­tel ei­nes Buchs, das vor ei­ni­gen Jah­ren in Deutsch­land ein Best­sel­ler­er­folg war. Doch der in zwei Wor­te ge­faß­te Be­fund des Ge­hirn­for­schers und Psych­ia­ters Man­fred Spit­zer ist wohl­über­legt und wohl­for­mu­liert. Bild­schirm­me­di­en hin­dern die Ge­hirn­tä­tig­keit eher, als daß sie sie för­dern: das galt schon für das Fern­seh­zeit­al­ter, und es gilt erst recht für die di­gi­ta­len Me­di­en. Das Ab­neh­men der Lei­stungs­fä­hig­keit des Ge­hirns be­zeich­net man als »De­menz«; es muß nicht zwangs­läu­fig erst im ho­hen Al­ter ein­set­zen. Ei­ne zwei­te Be­deu­tung der For­mel be­zieht sich auf ge­sell­schaft­li­che Aus­wir­kun­gen der in­zwi­schen über­mäch­ti­gen Di­gi­tal­kul­tur. Wer­den die Be­völ­ke­run­gen ten­den­zi­ell im­mer düm­mer? Spit­zer zi­tiert ei­ne Rei­he von Stu­di­en und Ex­pe­ri­men­ten, die die­sen Schluß na­he­le­gen. Ins­ge­samt ist die Schul- und Hochschul­bildung im Ver­lauf des 20. Jahr­hun­derts in den west­li­chen Län­dern si­cher viel brei­ter ge­wor­den. Ob sie – Mas­sen­uni­ver­si­tä­ten statt Eli­te­schmie­den – auch bes­ser ge­wor­den ist, ist ei­ne an­de­re Fra­ge. Wenn es ei­nen Um­kehr­punkt ge­ge­ben hat, wann ge­nau und wes­halb? Die Com­pu­ter wer­den nicht al­lein dar­an schuld sein.

Spit­zers zwang­haf­te Art, den Ein­druck wis­sen­schaft­li­cher Ab­si­che­rung zu er­wecken, ist ei­ne der Sei­ten, die an sei­nen Auf­trit­ten kri­ti­siert wer­den. Je­de Men­ge Sta­ti­sti­ken, Kor­re­la­tio­nen, aber kein Ent­fal­ten von Zu­sam­men­hän­gen. Und pau­scha­le Ver­ur­tei­lun­gen, ein ums an­de­re Mal wie­der­holt. We­nig Er­zäh­lung, wür­de ich hin­zu­fü­gen: We­nig kon­kre­te Bei­spie­le, we­nig ei­ge­ne Er­fah­run­gen. Aber das mag Auf­ga­be der Li­te­ra­tur sein, al­so mei­ne. Im gro­ßen und gan­zen stim­me ich Spit­zers Ein­schät­zun­gen zu, auch wenn mir sein häm­mern­der Stil auf die Ner­ven geht. Daß wir uns vom di­gi­tal-me­dia­len Über­bau nicht gänz­lich be­frei­en kön­nen und das folg­lich auch nicht ver­su­chen soll­ten, ge­steht er selbst zu, al­ler­dings tönt die Kon­zes­si­on viel lei­ser als sei­ne Un­ken­ru­fe. Wir soll­ten un­se­re Auf­ent­halts­zeit in der di­gi­ta­len Welt be­schrän­ken, d. h. re­gu­lie­ren (hor­ri­bi­le dic­tu!), manch­mal auch län­ge­re Pau­sen ein­le­gen, und vor al­lem soll­ten wir ei­ne sol­che Di­ät schon un­se­ren Kin­dern an­ge­dei­hen las­sen. Die viel­be­schwo­re­nen di­gi­ta­len Kom­pe­ten­zen las­sen sich nur in Ver­bin­dung mit »Vor­wis­sen«, wie Spit­zer es nennt, al­so mit tra­di­tio­nel­len gei­sti­gen Fä­hig­kei­ten, die man nicht am Bild­schirm er­wirbt, son­dern im Kon­takt mit der Er­fah­rungs­welt, mit Bü­chern und mit Er­zie­hungs­per­so­nen, sinn­voll aus­üben.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (6/9)

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6 – Der schma­le Grat zwi­schen Ge­fähr­dung und Idio­tie

Mu­sil, Hork­hei­mer und Ador­no brin­gen kei­ne kon­kre­ten Bei­spie­le für ih­re The­sen, we­der po­li­ti­scher noch le­bens­welt­li­cher, we­der in­di­vi­du­el­ler noch kol­lek­ti­ver Art. Was er bringt, sind Re­de­ge­wohn­hei­ten und ei­ni­ge all­ge­mein­mensch­li­che, ide­al­ty­pi­sche Fäl­le. Wel­che For­men, wel­chen Sinn und Un­sinn kann Dumm­heit an­neh­men, wel­che Funk­ti­on er­fül­len? Je­der kennt Bei­spie­le, nicht zu­letzt von sich selbst.

Ich zum Bei­spiel ha­be mei­ne letz­te Dumm­heit vor we­ni­gen Mi­nu­ten be­gan­gen, kei­ne ver­ba­le, son­dern ei­ne Dumm­heit der Tat. Ich fuhr auf ei­nem viel­be­fah­re­nen, re­la­tiv brei­ten Weg hin­ter zwei Fahr­rad­fah­rern, jun­gen Män­nern, die bei eher lang­sa­mer Ge­schwin­dig­keit ne­ben­ein­an­der­fah­rend plau­der­ten und län­ge­re Zeit die Bahn ver­sperr­ten, die sie nur für Ent­ge­gen­kom­men­de kurz frei­ga­ben. Ich woll­te nicht klin­geln, woll­te nicht auf­dring­lich sein, fuhr ein, zwei Ki­lo­me­ter na­he an den bei­den Hin­ter­rä­dern und über­holte, als sich ei­ne Chan­ce da­zu bot. Ab­sicht­lich schnitt ich den ei­nen Fah­rer, woll­te ihn da­bei nicht wirk­lich be­rüh­ren, be­rühr­te ihn dann aber doch mit dem Ell­bo­gen, den ich viel­leicht ein paar Zen­ti­me­ter zur Sei­te ge­streckt hat­te. Der jun­ge Mann kam ins Schleu­dern und stürz­te schließ­lich. Sein Freund schnauz­te mich an, ich schnauz­te zu­rück, ging dann aber doch be­sorgt, et­was klein­laut ge­wor­den, zu dem Ge­stürz­ten. Er hat­te sich an ei­ner Hand leich­te Ab­schür­fun­gen zu­ge­zo­gen – ei­ne ge­ring­fü­gi­ge Ver­let­zung, aber eben doch ei­ne sicht­ba­re Fol­ge mei­ner Hand­lung, ich war dar­an schuld. Ich ent­schul­dig­te mich. Der Ge­stürz­te, wie­der auf den Bei­nen, schau­te mich ver­dat­tert an.

Ei­ne Dumm­heit; wenn mir wirk­lich so viel an ei­nem ge­ord­ne­ten Fahr­rad­ver­kehr ge­le­gen ist, soll­te ich ver­su­chen, Ver­kehrs­sün­der zur Re­de zu stel­len, an mei­ner Uni­ver­si­tät auf­klä­rend zu wir­ken, in der Schu­le mei­ner Toch­ter ei­ne ver­nünf­ti­ge Ver­kehrs­er­zie­hung for­dern. Das wä­ren, viel­leicht, klu­ge Hand­lun­gen. Aber ei­nen un­schul­di­gen, bloß ein we­nig leicht­sin­ni­gen Jun­gen in Ge­fahr zu brin­gen...

Wor­in be­stand mei­ne Dumm­heit? In der fal­schen, nicht zweck­füh­ren­den – aber wer weiß? – Wahl der Mit­tel? Oder wur­zel­te sie nicht doch eher im emo­tio­na­len Be­reich, in man­geln­der Ein­füh­lungs­be­reit­schaft und, ja, Ag­gres­si­vi­tät, al­so un­zu­rei­chen­der Af­fekt­kon­trol­le? In der Nicht­be­rück­sich­ti­gung der mög­li­chen Fol­gen mei­nes Han­delns? Schließ­lich hät­te die Sa­che schlim­mer en­den kön­nen. Ge­fühl und Ver­stand ver­mi­schen sich, ge­nau wie Mu­sil es in sei­ner Re­de be­schrieb.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (5/9)

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5 – Dumm­heit ist ein Wund­mal.

Ge­gen En­de des zwei­ten Welt­kriegs und der na­tio­nal­so­zia­li­sti­schen Herr­schaft in Deutsch­land und Öster­reich ver­öf­fent­lich­ten Max Hork­hei­mer und Theo­dor W. Ador­no ein Buch mit dem Ti­tel Dia­lek­tik der Auf­klä­rung, das bis heu­te viel zi­tiert, aber we­nig ge­le­sen wird (was nicht nur an der Schwie­rig­keit der Ge­dan­ken, son­dern auch am ma­nie­rier­ten, über­la­de­nen Satz­bau liegt). So gut wie gar nicht ge­le­sen wird der Schluß­teil, ei­ne Art An­hang von Frag­men­ten und Skiz­zen, der mit die­sem Satz be­ginnt: »Zu den Leh­ren der Hit­ler­zeit ge­hört die von der Dumm­heit des Ge­scheits­eins.« Dar­an ist zu­nächst ein­mal er­staun­lich, daß die Schrei­ber von ei­ner zu En­de ge­gan­ge­nen Epo­che zu spre­chen schei­nen. Das Buch ist aber 1944 er­schie­nen, im Vor­wort aus die­sem Jahr wei­sen die Au­toren auf den An­hang hin, er dürf­te al­so schon in der Erst­aus­ga­be ent­hal­ten ge­we­sen sein. Wa­ren sich die bei­den gar so si­cher, daß die Hit­ler­zeit dem­nächst der Ver­gan­gen­heit an­ge­hö­ren wür­de? We­nig spä­ter noch noch deut­li­cher, im Im­per­fekt: »Die in Deutsch­land zur Macht ka­men, wa­ren ge­schei­ter als die Li­be­ra­len und düm­mer.«

Ador­no lieb­te pa­ra­do­xe For­mu­lie­run­gen, sei­ne ne­ga­ti­ve Dia­lek­tik sta­chel­te ihn im­mer wie­der da­zu an. Die rhe­to­ri­sche Ma­schi­ne­rie hat je­doch die pro­ble­ma­ti­sche Ten­denz, die Re­de zu­neh­mend von der Er­fah­rungs­wirk­lich­keit zu ent­fer­nen, über sie hinwegzu­schweben oder sie ganz aus dem Blick zu ver­lie­ren. Das Bei­spiel, das Hork­hei­mer und Ador­no mehr an­deu­ten als be­spre­chen, ist die – nicht beim Na­men ge­nann­te – Be­schwich­ti­gungs­po­li­tik des sei­ner­zei­ti­gen bri­ti­schen Pre­mier­mi­ni­sters Cham­ber­lain ge­gen­über dem sich im­mer ag­gres­si­ver ver­hal­ten­den NS-Re­gime. Im nach­hin­ein ist man na­tür­lich ge­schei­ter, aber das Zö­gern nicht nur Cham­ber­lains, son­dern zahl­rei­cher Ver­ant­wort­li­cher in ver­schie­de­nen Län­dern wä­re doch zu­nächst nicht als Zei­chen von man­geln­der In­tel­li­genz, son­dern ei­ner Zu­rück­hal­tung zu wer­ten, die in vie­len Si­tua­tio­nen klug sein mag, im ge­ge­be­nen Fall je­doch falsch war. Zu vie­les, vor al­lem aber: zu lan­ges Nach­zu­den­ken kann die not­wen­di­ge Hand­lungs­be­reit­schaft hem­men – das zeigt uns schon das Bei­spiel Ham­lets, des Prin­zen von Dä­ne­mark. Soll man in die­sen Fäl­len aber ge­nau­so von Dumm­heit spre­chen, wie man es bei Ge­dan­ken­lo­sig­keit oder man­geln­der In­tel­li­genz tut? Ich fürch­te, die dia­lek­ti­sche bzw. pa­ra­doxa­le Fi­gur, zu der die bei­den Den­ker ge­lan­gen, rührt da­her, daß sie das Wort »Dumm­heit« mit zwei­er­lei Be­deu­tung ge­brau­chen. Sie be­ruht auf se­man­ti­scher In­kon­gru­enz.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (4/9)

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4 – Wer über Dumm­heit spricht, setzt vor­aus, daß er sich für klug hal­te, ob­wohl es als Zei­chen der Dumm­heit gilt, das zu tun.

In sei­ner am 11. März 1937, ex­akt ein Jahr vor dem An­schluss Öster­reichs an Deutsch­land, in Wien ge­hal­te­nen Re­de Über die Dumm­heit hielt Ro­bert Mu­sil ein­gangs die Schwierig­keit fest, »daß je­der, der über Dumm­heit spre­chen oder sol­chem Ge­spräch mit Nut­zen bei­woh­nen will, von sich vor­aus­set­zen muß, daß er nicht dumm sei; und al­so zur Schau trägt, daß er sich für klug hal­te, ob­wohl es all­ge­mein für ein Zei­chen von Dumm­heit gilt, das zu tun!« Franz Schuh adel­te die­sen Satz in ei­ner Re­zen­si­on – ein Gen­re, das auch Mu­sil pfleg­te – zum »Mu­sil­schen Pa­ra­dox«, und tat­säch­lich er­in­nert er ein we­nig an das so­kra­ti­sche. Schuh kommt al­ler­dings zu dem Schluß, daß man Dumm­hei­ten mit »re­la­ti­ver In­tel­li­genz« be­nen­nen kön­ne, oh­ne dem Pa­ra­dox der Dumm­heit zu ver­fal­len. Wich­tig scheint mir hier das Epi­the­ton »re­la­tiv«: Der Klu­ge bleibt sich des­sen be­wußt, daß sei­ne Aus­füh­run­gen un­zu­treff­fend sein oder so­gar der Dumm­heit an­heim fal­len könn­ten. Ich glau­be, man kann wei­ter ge­hen und die Mu­sil­schen Skru­pel – zwar nicht be­sei­ti­gen, aber auf ein ge­lin­de­res Maß zu­rück­stut­zen. Ei­ne Aus­sa­ge über Dumm­heit kann sinn­voll oder un­sin­nig, rich­tig oder falsch, ethisch ak­zep­ta­bel oder in­ak­zep­ta­bel sein. Selbst ein Dum­mer kann der ei­ge­nen Dumm­heit ge­wahr wer­den und die­se per­sön­li­che Ei­gen­schaft über­win­den. Es ist nicht not­wen­dig, stän­dig auf Dumm­hei­ten hin­zu­wei­sen – wer wä­re vor ih­nen ge­feit? –, aber manch­mal eben doch, und wer soll­te dies auf sich neh­men, wenn nicht die Klu­gen, un­ab­hän­gig da­von, ob sie ein Da­mo­kles­schwert der Pa­ra­do­xie über ih­ren Häup­tern spü­ren oder nicht. Ist nicht auch die Angst, sich in zwei­ter In­stanz lä­cher­lich zu ma­chen, ei­ne Spiel­art der Ei­tel­keit, der Mu­sil zu Recht die in­tel­lek­tu­el­le Be­schei­den­heit ent­ge­gen­setzt?

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (3/9)

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3 – Du sollst nicht den­ken!

Pau­lus von Tar­sus, die­ser er­ste gro­ße, um nicht zu sa­gen groß­spu­ri­ge Mis­sio­nar, for­der­te von der Chri­sten­ge­mein­de ei­nen re­gel­rech­ten Wil­len zum Nicht­wis­sen, wenn er dar­auf be­stand, daß »gött­li­che Tor­heit« wei­ser sei als mensch­li­che Klug­heit (ei­ne Va­ri­an­te des so­kra­ti­schen Pa­ra­do­xons!), und ver­kün­det, die Tö­rich­ten sei­en von Gott aus­er­wählt, wo­hin­ge­gen die Wei­sen »zu Schan­den« ge­macht wür­den. Nietz­sche zi­tiert die­se Stel­le 1869 in sei­ner Schrift über die Ge­burt der Tra­gö­die; noch zwei Jahr­zehn­te spä­ter be­müht er sich nach­zu­wei­sen, daß das Chri­sten­tum in sei­ner ge­sam­ten Ge­schich­te dar­auf hin­aus­lau­fe, je­de Form des Er­ken­nens zu un­ter­drücken, weil es dem Glau­ben zwangs­läu­fig den Bo­den ent­zie­he. Im 18. Jahr­hun­dert hat­ten Phi­lo­so­phen wie Leib­niz oder Her­der ver­sucht, Ra­tio­na­li­tät und gött­li­che Of­fen­ba­rung in Ein­klang zu brin­gen – ein in nietz­schea­ni­scher Per­spek­ti­ve ab­sur­des Un­ter­fan­gen. Das we­sent­li­che christ­li­che Ge­bot lau­tet nach Nietz­sche: »Du sollst nicht den­ken!« Er führt es auf die Fi­gur des Je­sus Chri­stus zu­rück, dem er den Eh­ren­ti­tel »Idi­ot« ver­leiht.

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Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (2/9)

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2 – Se­lig die Ar­men im Gei­ste...

»Se­lig die Ar­men im Gei­ste, denn ih­rer ist das Him­mel­reich«: ei­ner der zahl­rei­chen be­rühm­ten Sät­zen, die Chri­stus zu­ge­schrie­ben wer­den. Auch der Hei­land hat sich al­so für Dumm­heit, für gei­sti­ge Be­schränkt­heit aus­ge­spro­chen. Wer aufs Rä­so­nie­ren ver­zich­tet, kommt leich­ter ins Him­mel­reich als die Welt­klu­gen, die Ver­nünft­ler, wie Lu­ther sie spä­ter nen­nen soll­te. Frei­lich, wir ha­ben da ein klei­nes, aber fei­nes Über­set­zungs­pro­blem: Wel­che Art von Gei­stig­keit ist im Mat­thä­us-Evan­ge­li­um ei­gent­lich ge­meint? Eher die re­li­giö­se, der man im Deut­schen das Ad­jek­tiv »geist­lich« zu­ord­net, oder die verstandes­mäßige, mit der wir uns in er­ster Li­nie welt­li­chen Din­gen zu­wen­den? Im grie­chi­schen Text steht das No­men »Pneu­ma«. Da die alt­grie­chi­sche Spra­che ein vor­christ­lich ge­präg­tes Zei­chen­sy­stem ist, soll­te man doch an­neh­men, daß der Ver­fas­ser des grie­chi­schen Tex­tes die zwei­te Be­deu­tung im Sinn hat­te (Lu­ther ver­wen­det in sei­ner Über­set­zung das Wort »geist­lich«). Al­so Leu­te, die nicht zu den Klu­gen, den Stu­dier­ten, den Schrift­ge­lehr­ten ge­hö­ren. Sieht man sich den Kon­text an, fügt sich die­ser Ty­pus in die Rei­he der Se­lig­prei­sun­gen, die die Sanft­mü­ti­gen, Barm­her­zi­gen, Fried­lie­ben­den be­tref­fen.

An an­de­rer Stel­le er­klärt Chri­stus die Kin­der zu den be­vor­zug­ten Be­woh­nern des Him­mel­reichs. Ein kind­li­cher Geist, ein ein­fa­ches, nicht ver­bil­de­tes Ge­müt kann oh­ne Wenn und Aber er­löst wer­den. Liest man sich durch die Ge­schich­ten vom Men­schen­sohn, so fällt auf, daß er be­vor­zugt Au­ßen­sei­ter um sich schar­te, dar­un­ter so­gar Ver­bre­cher und Pro­sti­tu­ier­te, ne­ben Lei­den­den und Ge­brech­li­chen. Die Un­wis­sen­den und gei­stig Minder­bemittelten pas­sen da ins Bild. Der My­sti­ker Mei­ster Eck­hart fand für die von Chri­stus ge­mein­te Ar­mut fol­gen­de For­mel: »Ein ar­mer Mensch ist, wer nichts will, nichts weiß und nichts hat.« Arm im Gei­ste sind für Eck­hart je­ne, die ab­ge­löst sind vom Wis­sen, nach­dem sie sich in ih­rer geist­li­chen Exi­stenz da­von frei­ge­macht ha­ben. Er ge­steht zu, daß es im welt­li­chen Le­ben um Lie­ben und Er­ken­nen geht, doch der Schritt zur Er­leuch­tung set­ze den Ver­zicht auf die­se mensch­li­chen Fä­hig­kei­ten vor­aus. Man kann sich kaum ei­nen schär­fe­ren Ge­gen­satz zu Eck­harts Ide­al­fi­gur vor­stel­len als den smart­phone­ab­hän­gi­gen di­gi­tal na­ti­ve, der zu je­der Ta­ges- und Nacht­zeit Such­ma­schi­nen, En­zy­klo­pä­dien, In­for­ma­ti­ons­dien­ste, Über­set­zug­s­al­go­rith­men be­nutzt. Frei­lich, man kann das auch an­ders­rum se­hen: Der di­gi­ta­li­sier­te Mensch braucht gar nichts zu wis­sen, da die mei­sten in­tel­lek­tu­el­len Funk­tio­nen von Ma­schi­nen und Rech­nern über­nom­men wor­den sind. In ge­wis­ser Wei­se ist der Smart­phone-Ma­ni­ker ein Ar­mer im Geist, der Gei­stig­keit und Ge­dächt­nis von sich ab­ge­trennt hat und sich nun ei­gent­lich hö­he­ren Din­gen zu­wen­den könn­te – wenn er nur Lust da­zu hät­te. Tat­säch­lich wen­det er sich bil­li­gen Ver­gnü­gun­gen zu, al­so welt­li­chen For­men der Dumm­heit.

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