Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (4/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

4 – Wer über Dumm­heit spricht, setzt vor­aus, daß er sich für klug hal­te, ob­wohl es als Zei­chen der Dumm­heit gilt, das zu tun.

In sei­ner am 11. März 1937, ex­akt ein Jahr vor dem An­schluss Öster­reichs an Deutsch­land, in Wien ge­hal­te­nen Re­de Über die Dumm­heit hielt Ro­bert Mu­sil ein­gangs die Schwierig­keit fest, »daß je­der, der über Dumm­heit spre­chen oder sol­chem Ge­spräch mit Nut­zen bei­woh­nen will, von sich vor­aus­set­zen muß, daß er nicht dumm sei; und al­so zur Schau trägt, daß er sich für klug hal­te, ob­wohl es all­ge­mein für ein Zei­chen von Dumm­heit gilt, das zu tun!« Franz Schuh adel­te die­sen Satz in ei­ner Re­zen­si­on – ein Gen­re, das auch Mu­sil pfleg­te – zum »Mu­sil­schen Pa­ra­dox«, und tat­säch­lich er­in­nert er ein we­nig an das so­kra­ti­sche. Schuh kommt al­ler­dings zu dem Schluß, daß man Dumm­hei­ten mit »re­la­ti­ver In­tel­li­genz« be­nen­nen kön­ne, oh­ne dem Pa­ra­dox der Dumm­heit zu ver­fal­len. Wich­tig scheint mir hier das Epi­the­ton »re­la­tiv«: Der Klu­ge bleibt sich des­sen be­wußt, daß sei­ne Aus­füh­run­gen un­zu­treff­fend sein oder so­gar der Dumm­heit an­heim fal­len könn­ten. Ich glau­be, man kann wei­ter ge­hen und die Mu­sil­schen Skru­pel – zwar nicht be­sei­ti­gen, aber auf ein ge­lin­de­res Maß zu­rück­stut­zen. Ei­ne Aus­sa­ge über Dumm­heit kann sinn­voll oder un­sin­nig, rich­tig oder falsch, ethisch ak­zep­ta­bel oder in­ak­zep­ta­bel sein. Selbst ein Dum­mer kann der ei­ge­nen Dumm­heit ge­wahr wer­den und die­se per­sön­li­che Ei­gen­schaft über­win­den. Es ist nicht not­wen­dig, stän­dig auf Dumm­hei­ten hin­zu­wei­sen – wer wä­re vor ih­nen ge­feit? –, aber manch­mal eben doch, und wer soll­te dies auf sich neh­men, wenn nicht die Klu­gen, un­ab­hän­gig da­von, ob sie ein Da­mo­kles­schwert der Pa­ra­do­xie über ih­ren Häup­tern spü­ren oder nicht. Ist nicht auch die Angst, sich in zwei­ter In­stanz lä­cher­lich zu ma­chen, ei­ne Spiel­art der Ei­tel­keit, der Mu­sil zu Recht die in­tel­lek­tu­el­le Be­schei­den­heit ent­ge­gen­setzt?

Mu­sils Re­de, in ei­ner Si­tua­ti­on der so­zia­len und per­sön­li­chen Be­droht­heit ge­hal­ten, ist von den deut­schen Er­eig­nis­sen grun­diert, ob­wohl er sie in kei­nem Mo­ment deut­lich an­spricht: die von den Öster­rei­chern sehr auf­merk­sam, wenn­gleich mit un­ter­schied­li­chen Ge­füh­len be­ob­ach­te­te Macht­über­nah­me und Macht­aus­wei­tung der deut­schen National­sozialisten. Ich hal­te die­se Un­deut­lich­keit für ein – in der ge­ge­be­nen Si­tua­ti­on viel­leicht un­ver­meid­li­ches – Man­ko der Re­de, in­so­fern Dumm­heit erst in be­stimm­ten Kon­tex­ten ih­ren Sinn und Un­sinn, Ge­fahr oder Harm­lo­sig­keit of­fen­bart. Die kon­kre­te Ge­fahr für Öster­reich und für sich selbst hat Mu­sil ge­wit­tert und mit äu­ßer­ster Vor­sicht be­nannt. Die­se Hem­mun­gen lie­ßen ihn für sei­ne Re­de ei­nen an­de­ren Weg ein­schla­gen als den der kon­kre­ten Ana­ly­se, näm­lich den der Be­griffs­un­ter­su­chung: In wel­chen – im Prin­zip un­end­lich zahl­rei­chen – Kon­tex­ten und Ver­wen­dungs­wei­sen hat das Wort »Dumm­heit« wel­che Be­deu­tung? Auf die­sem Weg ist es un­mög­lich, zu Schluß­fol­ge­run­gen zu kom­men, die ir­gend­ei­ne Hand­lungs­l­ori­en­tie­rung skiz­zie­ren. Ge­nau das aber wä­re 1937 und in den Jah­ren da­vor not­wen­dig ge­we­sen. Die Re­de drückt in ih­rer be­hut­sa­men Form das Di­lem­ma des gei­sti­gen Men­schen zum Aus­druck – was letz­ten En­des auch das Grund­thema des Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten ist.

Schon 1933 hat­te Mu­sil in ei­nem Es­say, mit dem er zu den da­mals ge­ra­de erst ein­setzenden Um­wäl­zun­gen Stel­lung neh­men und nach Mög­lich­keit auf die Er­eig­nis­se ein­wir­ken woll­te, be­dau­ert, die »Gei­stes­män­ner« hät­ten die po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen »ver­schla­fen« und den »Tat­men­schen«, mit de­nen er ver­mut­lich die Na­tio­nal­so­zia­li­sten meint (oh­ne sie beim Na­men zu nen­nen, aber deut­li­cher als 1937), freie Bahn ge­las­sen. Der öster­rei­chi­sche Au­tor, der zu Be­ginn Er­sten Re­pu­blik bzw. der Wei­ma­rer Re­pu­blik sich noch am Puls der Zeit wäh­nen durf­te, war mit sei­nem li­te­ra­ri­schen Groß­pro­jekt im­mer mehr in Ver­zug ge­ra­ten, und nun, in den drei­ßi­ger Jah­ren, mach­te sich – pa­ra­dox! – et­was wie stil­le, an­hal­ten­de Pa­nik breit. Frei­lich war Mu­sil viel zu klug, um sich die­ser Pa­nik hin­zu­ge­ben. Statt in ziel­lo­se Hy­per­ak­ti­vi­tät zu ver­fal­len, schick­te er sich an, die Ent­wick­lung zu ana­ly­sie­ren. Die Ana­ly­se ging je­doch in die Brei­te, statt ein kon­kre­tes Ziel ins Vi­sier zu neh­men. Mu­sils Es­say mit dem tref­fen­den Ti­tel Be­den­ken ei­nes Lang­sa­men blieb Frag­ment, groß­teils skiz­zen­haft. Hät­te er ihn voll­endet und, wie be­ab­sich­tigt, in der Neu­en Rund­schau, der Zeit­schrift des S. Fi­scher Ver­lags, ver­öf­fent­licht, die Wir­kung wä­re zwei­fel­los sehr be­schei­den ge­we­sen. Mu­sils ei­ge­nes Schaf­fen seit Mit­te der zwan­zi­ger Jah­re ist ei­ne ein­zi­ge Be­stä­ti­gung, ja, Ver­an­schau­li­chung der fun­da­men­ta­len Ohn­macht des Gei­stes ge­gen­über der Roh­heit, im Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten, des­sen Held sich in sei­ner Hand­lungs­hem­mung ge­fällt, eben­so wie in den klei­ne­ren, po­li­tisch auf­ge­la­de­nen und zu­gleich selt­sam zu­rück­hal­ten­den Schrif­ten.

Mar­tin Heid­eg­ger hat­te sich 1933/34 dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus in die Ar­me ge­wor­fen und sei­ne hoch­gra­dig ab­strak­te exi­sten­tia­li­sti­sche Re­de von »Ent­schlos­sen­heit« und »Selbst­behauptung« un­mit­tel­bar mit der po­li­ti­schen Ent­wick­lung ver­kop­pelt. Die­sen Schritt hat er spä­ter an­geb­lich – Hein­rich Wie­gand Pet­zet zu­fol­ge – im Ge­spräch als sei­ne »größ­te Dumm­heit« be­zeich­net. Klug wä­re es dem­nach ge­we­sen, sich wei­ter­hin aus dem Ge­sche­hen her­aus­zu­hal­ten (und nicht et­wa, Wi­der­stand zu lei­sten oder für jü­di­sche Kol­le­gen ein­zu­tre­ten). Die bei­den Schlüs­sel­be­grif­fe ga­ben in der Um­bruchs­zeit wenn nicht der Ge­walt, so zu­min­dest dem ra­bia­ten Auf­tre­ten und dem na­tio­na­len Ego­is­mus philo­sophische Wei­hen. Mu­sil ver­such­te dem­ge­gen­über zu zei­gen, daß »Roh­heit« ei­ne mög­li­che, ja, na­he­li­gen­de Kon­se­quenz von Dumm­heit im Sinn der Ver­wei­ge­rung von dif­fe­ren­zie­ren­dem Den­ken ist. Heu­te wie da­mals ist in die­sem Zu­sam­men­hang auf die Hoch­kon­junk­tur von Ver­schwö­rungs­theo­rien hin­zu­wei­sen. Das schier un­über­wind­li­che Pro­blem und das wah­re Mu­sil­sche Pa­ra­dox liegt dar­in, daß ei­ne sich in im­mer hö­he­re Hö­hen (und tie­fe­re Tie­fen) be­ge­ben­de Re­fle­xi­on ir­gend­wann das Han­deln un­mög­lich macht und nicht ein­mal in­di­rekt Bei­trä­ge zu ir­gend­ei­ner Form von Pra­xis zu lei­sten im­stan­de ist.

Ei­ne Form der Dumm­heit, nicht als Ge­gen­satz zur Klug­heit, son­dern als Eindimen­sionalität ver­stan­den, ist das schran­ken­lo­se, vom Ver­stand un­kon­trol­lier­te Aus­le­ben von Af­fek­ten, das be­son­ders dann auf­tritt, wenn das Ich im Wir ei­ner Mas­se auf­geht. Eli­as Ca­net­ti, der gro­ße Theo­re­ti­ker der Mas­se, der wie Mu­sil von der Er­fah­rung des Wie­ner Ju­stiz­pa­last­brands 1927 ge­prägt war, hat dies­be­züg­lich von »Ent­la­dung« ge­spro­chen. In der di­gi­ta­len Welt sind an die Stel­le der Mas­sen die dis­kon­ti­nier­li­chen, stets nur kurz­fristig be­stehen­den »Schwär­me« ge­tre­ten, in de­nen sich an­ony­me und pseud­ony­me Ein­zel­ne aus­le­ben kön­nen, oh­ne die Dich­te der Mas­se zu er­fah­ren, da sie ver­ein­zelt blei­ben, in der Re­gel zu Hau­se vor dem Bild­schirm. Di­ver­se Fo­ren, Platt­for­men, vir­tu­el­le Or­te, al­so das, was man als »so­zia­le Me­di­en« zu be­zeich­nen ge­wöhnt ist, die­nen vie­len Per­so­nen al­lein da­zu, »die Sau raus­zu­las­sen«, was als mehr oder min­der dum­mes Pri­vat­ver­gnü­gen, als pri­va­te Af­fekt­ent­la­dung hin­ge­hen mag, tat­säch­lich aber po­li­tisch in­stru­men­ta­li­siert wird und in vie­len Fäl­len an­de­ren scha­det, nicht un­be­dingt nur in ih­rer vir­tu­el­len Exi­stenz. Die Ver­schwö­rungs­theo­rie, ei­ne der Grund­for­men des vereinfachen­den Den­kens, ist je­ne gei­sti­ge Hal­tung, die dem af­fekt­fi­xier­ten, schwär­men­den, aber durch Fil­ter vor Ein­wän­den und Re­la­ti­vie­run­gen ge­schütz­ten Da­sein am be­sten ent­spricht.

Wor­auf woll­te Mu­sil mit sei­ner Re­de über die Dumm­heit ei­gent­lich hin­aus? Schwie­rig, auf die­se Fra­ge ei­ne Ant­wort zu fin­den, zu­mal sich der Au­tor in ei­ner Schluß­vol­te auf kryp­ti­sche An­deu­tun­gen be­schränkt, wenn er das »Be­deu­ten­de« ins Spiel bringt, das ver­mut­lich ei­ne Al­ter­na­ti­ve zur blo­ßen In­tel­li­genz bie­ten soll. Er kön­ne dies nur noch »gänz­lich uto­pi­scher­wei­se« er­wäh­nen, schloß Mu­sil im März 1937 vor zahl­rei­chem Pu­bli­kum, doch wer den Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten auf­merk­sam ge­le­sen hat, wird sich er­in­nern, daß das Wort­feld »be­deu­tend«, meist als Ad­jek­tiv, in die­sem ge­wal­ti­gen Sprach­kunst­werk ei­ne nicht zu un­ter­schät­zen­de Rol­le spielt. Das Mu­sil­sche »Be­deu­ten­de« hängt wohl, wie­der­um kryp­tisch, mit sei­nen Ver­su­chen zu­sam­men, das­je­ni­ge, was er mit dem nicht ganz sym­me­tri­schen Be­griffs­paar »Ge­nau­ig­keit und See­le« be­nann­te, mög­lichst eng zu ver­quicken und da­mit ein al­ter­na­ti­ves Men­schen­bild zu ent­wer­fen. Das Wort »Ge­nau­ig­keit« kommt auch in der Re­de von 1937 vor, und zwar an pro­mi­nen­ter Stel­le, wo es dar­um geht, die her­aus­ra­gen­den Merk­ma­le »klu­gen Den­kens« zu be­stim­men. Dumm­heit und Roh­heit ge­hen häu­fig auf hem­mungs­lo­se Af­fekt­ent­la­dung zu­rück, aber auch der Ver­stand sei nicht viel wert, wenn er sich von Ge­fühl und Af­fekt ab­schot­te. »Be­deu­tend« scheint in Mu­sil­scher De­fi­ni­ti­on ein Den­ken, Ge­stal­ten und Han­deln zu sein, das Ge­nau­ig­keit und See­le zu in­te­grie­ren ver­steht. Dar­in liegt der ge­hei­me, im Ro­man er­ör­ter­te Ho­ri­zont von Mu­sils Groß­pro­jekt, das fast zwangs­läu­fig schei­tern muß­te. Das wich­tig­ste Mit­tel ge­gen die Dumm­heit wä­re, so Mu­sil, die »Be­schei­dung«. (An de­ren Wirk­mäch­tig­keit muß man frei­lich im Rück­blick auf das 20. Jahr­hun­dert zwei­feln.) Mu­sil wuß­te dar­über hin­aus, daß die gren­zen­lo­se Be­denk­sam­keit, zu wel­cher er selbst neig­te, zwar die Re­fle­xi­on in im­mer hö­he­re Hö­hen zu trei­ben ver­mag, in prak­ti­scher Hin­sicht aber zur Er­star­rung füh­ren muß.

Wenn Mu­sil in sei­ner Re­de über die Dumm­heit ei­nem Pa­ra­dox er­lag, dann dem, daß er mit dem Lob der Be­schei­dung letz­ten En­des nur sich selbst mei­nen konn­te, ge­nau­er: sei­ne ka­ka­ni­sche Uto­pie. Des­halb der ver­schäm­te Ton, in dem er sein Schluß­vol­te vor­brach­te. Er wuß­te ver­mut­lich auch, daß nie­mand die Er­star­rung durch Klug­heit bes­ser ver­kör­pert als Ul­rich, der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten.

-> 5 – Dumm­heit ist ein Wund­mal.

← 3 – Du sollst nicht den­ken!

© Leo­pold Fe­der­mair

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Ich ken­ne von Mu­sil nicht viel, aber wenn Ge­nau­ig­keit, die der sinn­li­chen Wahr­neh­mung (sei­ner selbst, ei­nes Ge­gen­über und der Um­welt) meint, dann passt das sehr gut zum Be­griff der See­le (eben­so wie ein ge­nau­es Den­ken, das die sinn­li­che Welt nicht ko­lo­ni­siert). — Die See­le (das Le­ben­di­ge) ge­langt mit ei­ner ge­wis­sen Ge­nau­ig­keit über­haupt erst zur Ent­fal­tung.