Der Wil­le zum Nicht­wis­sen (3/9)

An­mer­kun­gen zu ei­ner Hand­voll le­gen­dä­rer Sät­ze

3 – Du sollst nicht den­ken!

Pau­lus von Tar­sus, die­ser er­ste gro­ße, um nicht zu sa­gen groß­spu­ri­ge Mis­sio­nar, for­der­te von der Chri­sten­ge­mein­de ei­nen re­gel­rech­ten Wil­len zum Nicht­wis­sen, wenn er dar­auf be­stand, daß »gött­li­che Tor­heit« wei­ser sei als mensch­li­che Klug­heit (ei­ne Va­ri­an­te des so­kra­ti­schen Pa­ra­do­xons!), und ver­kün­det, die Tö­rich­ten sei­en von Gott aus­er­wählt, wo­hin­ge­gen die Wei­sen »zu Schan­den« ge­macht wür­den. Nietz­sche zi­tiert die­se Stel­le 1869 in sei­ner Schrift über die Ge­burt der Tra­gö­die; noch zwei Jahr­zehn­te spä­ter be­müht er sich nach­zu­wei­sen, daß das Chri­sten­tum in sei­ner ge­sam­ten Ge­schich­te dar­auf hin­aus­lau­fe, je­de Form des Er­ken­nens zu un­ter­drücken, weil es dem Glau­ben zwangs­läu­fig den Bo­den ent­zie­he. Im 18. Jahr­hun­dert hat­ten Phi­lo­so­phen wie Leib­niz oder Her­der ver­sucht, Ra­tio­na­li­tät und gött­li­che Of­fen­ba­rung in Ein­klang zu brin­gen – ein in nietz­schea­ni­scher Per­spek­ti­ve ab­sur­des Un­ter­fan­gen. Das we­sent­li­che christ­li­che Ge­bot lau­tet nach Nietz­sche: »Du sollst nicht den­ken!« Er führt es auf die Fi­gur des Je­sus Chri­stus zu­rück, dem er den Eh­ren­ti­tel »Idi­ot« ver­leiht.

Nietz­sche nimmt in die­sen Er­güs­sen Par­tei für das Den­ken, die Wis­sen­schaft, das Dif­fe­ren­zie­rungs­ver­mö­gen, und die An­wen­dung die­ser Fä­hig­kei­ten fin­det man weit­hin in sei­nem phi­lo­so­phi­schen Werk, vor al­lem in der Mo­ral­kri­tik und psy­cho­lo­gi­schen Ana­ly­se. An­de­rer­seits wen­det sich das­sel­be Werk ge­gen je­den Ra­tio­na­lis­mus, d. h. ge­gen die Zäh­mung der In­stink­te, des Le­bens, des (scho­pen­haue­ri­schen) Wil­lens durch das Be­wußt­sein. Das Pa­thos sei­nes Den­kens ent­zün­det sich in die­sem Grund­wi­der­spruch, der oft auch dis­pa­ra­te Äu­ße­run­gen her­vor­bringt. So­kra­tes, den wei­se­sten al­ler Grie­chen, ver­ach­tet Nietz­sche als hin­ter­li­sti­gen Klüg­ler und ober­sten So­phi­sten, der mit sei­nem Lob von Ver­nunft und glück­lich ma­chen­der Tu­gend die De­ka­denz der einst so kraft­vol­len grie­chi­schen Gei­stes­welt ein­ge­lei­tet ha­be. Er zi­tiert das be­rühm­te Pa­ra­do­xon nicht als Be­leg für Be­schei­den­heit und Skep­sis, son­dern für die »neue und un­er­hör­te Hoch­schätzung des Wis­sens und der Ein­sicht«, die er ge­wis­ser­ma­ßen als le­bens­ge­fähr­lich ein­stuft. Chri­stus, der wah­re Tor, und So­kra­tes, der Gei­stes­mensch, der die unmittel­barsten Le­bens­äu­ße­run­gen kon­trol­liert, sind in glei­chem Ma­ße fa­tal, ihr Auf­tre­ten in der Ge­schich­te mar­kiert ei­nen dop­pel­ten Wen­de­punkt zum Schlech­te­ren, das En­de der an­ti­ken Welt in zwei Ak­ten.

Wie ge­sagt, Nietz­sches li­te­ra­ri­sche Äu­ße­run­gen, zu­meist in Frag­men­ten dar­ge­bo­ten, sind wi­der­sprüch­lich und schwan­kend. Im An­ti­christ be­haup­tet er tax­frei, gro­ße Gei­ster sei­en Skep­ti­ker; er trifft sich hier über­ra­schend mit Mon­tai­gne, der sich So­kra­tes als stets zwei­feln­den Den­ker zum Vor­bild nahm. Was Nietz­sche be­kämpf­te, auch bei sich selbst, wa­ren al­le Ar­ten von Über­zeu­gun­gen, sei­en sie welt­li­cher oder re­li­giö­ser Na­tur. Den­ken soll­te nicht die vor­lie­gen­den Ideo­lo­gien ver­fe­sti­gen, son­dern im Ge­gen­teil, es soll­te flie­ßen und Ver­här­tun­gen auf­wei­chen, un­ter­mi­nie­ren, zer­trüm­mern, je nach dem, ob der Den­ker eher mit dem Ham­mer oder mit den In­stru­men­ten der Dif­fe­ren­zie­rung und kri­ti­schen Ana­ly­se zu Wer­ke ging. Im Rück­blick auf das 20. Jahr­hun­dert kön­nen wir heu­te sa­gen, daß Ideo­lo­gien die mo­der­ne Form von mit Ver­stan­des­mit­teln auf die Spit­ze ge­trie­be­ner Glau­bens­dumm­heit sind. Dumm­heit, so könn­te die Bot­schaft ei­nes ge­gen den Strich ge­le­se­nen Nietz­sche lau­ten, ist eben­so ge­mein­ge­fähr­lich wie der phan­ta­sie- und ge­fühl­lo­se Ge­brauch des Ver­stan­des. Am fa­tal­sten aber war in der neue­ren Ge­schich­te die Kreu­zung von bei­dem, der letz­te Akt des­sen, was man auch »Dia­lek­tik der Auf­klä­rung« ge­nannt hat.

-> 4 – Wer über Dumm­heit spricht, setzt vor­aus, daß er sich für klug hal­te, ob­wohl es als Zei­chen der Dumm­heit gilt, das zu tun.

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© Leo­pold Fe­der­mair

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Du sollst nicht den­ken,

    Ein Satz, den ich ei­gent­lich nicht Nietz­sche zu­ge­ord­net hät­te.
    Auch wenn er ihn im ne­ga­ti­ven Sin­ne ver­stan­den ha­ben woll­te.

    Eher be­kannt von Vor­ge­setz­ten und Be­fehls­ge­bern.
    „ sie sol­len nicht den­ken, dass kön­nen sie den Pfer­den über­las­sen, die ha­ben grö­ße­re Köp­fe.“
    Und da­nach „ zu­rück in die Rei­he, marsch,marsch.“

    Al­so ein aus­schal­ten des frei­en Wil­len, durch Au­to­ri­tät, ge­paart mit Ar­ro­ganz.
    Nietz­sches Plä­doy­er wird da­ge­gen ger­ne mit Ni­hi­lis­mus un­ter­mau­ert. Wo kein Glau­be, da kein Gott. Und da­her gro­ße Sinn­lo­sig­keit.

    Die Fra­ge stellt sich, war­um soll der an sich freie Mensch nicht den­ken. Und wer zieht Vor­teil aus dem nicht Den­ken.
    Wä­re das Den­ken nicht uns in die Wie­ge ge­legt wor­den, so wä­re es et­was ab­nor­mes.

    War­um soll­ten Bü­cher wie Fah­ren­heit 471 , 1984 , schö­ne neue Welt , ge­schrie­ben wor­den sein,
    um dar­auf hin­zu­wei­sen. „Denk nach, über­las das nicht an­de­ren.

    Und weist nicht die Lied­zei­le, „Die Ge­dan­ken sind frei,“ dar­auf hin, das man Ge­dan­ken ent­wickeln soll, und so ei­nem Kä­fig ent­flie­hen kann.

    Und Letzt End­lich stellt sich die Fra­ge, war­um durf­te je­mand den Ge­dan­ken
    „ Du sollst nicht Den­ken“
    ‚den­ken und for­mu­lie­ren.

    Stand Pau­lus von Tar­sus, au­ßer­halb die­ser Er­kennt­nis, da er Gott ge­schaut hat?

  2. Letz­ter Akt? Die in­stru­men­tel­le Ver­nunft scheint ih­re Herr­schaft im­mer wei­ter aus­zu­bau­en, der Ver­stand, der sich in ei­nem Wech­sel­spiel mit dem füh­len­den, ir­ra­tio­na­len Teil des Men­schen be­fin­det, ist doch al­ler­or­ten und ge­ra­de in den so­ge­nann­ten Bil­dungs­ein­rich­tun­gen auf dem Rück­zug. Ich se­he In­di­vi­du­en, die förm­lich kurz­ge­schlos­sen, durch ihr Le­ben lau­fen und all das in ei­nem dif­fu­sen En­de der gro­ßen Er­zäh­lun­gen, je­der ge­mäß sei­ner Wahr­heit, sei­ner In­di­vi­dua­li­tät, sei­nem Ent­wurf (dem was von »der Post­mo­der­ne« blieb) und ne­ben dem Näch­sten, gar nicht be­mer­ken.