Ralf Roth­mann: Theo­rie des Re­gens

Ralf Rothmann: Theorie des Regens
Ralf Roth­mann:
Theo­rie des Re­gens

No­ti­zen, Apho­ris­men, kur­ze Er­eig­nis­split­ter oder ein­fach nur Er­schau­tes und Re­fle­xi­ves von All­täg­li­chem: in den letz­ten Jah­ren zieht mich die­se Form von Li­te­ra­tur im­mer mehr an. Der »gro­ße Ro­man«, die kunst­vol­le »Short-Sto­ry« – schon recht. Aber manch­mal spürt man zu sehr den Wil­len oder auch den Wi­der­wil­len des Au­tors, ei­ne Ge­schich­te vor­an­trei­ben zu müs­sen. Die­ser Zwang ent­fällt in die­ser Kür­zest­pro­sa (die frei­lich an­de­re Fall­stricke auf­weist).

Roth­manns No­ti­zen mit dem ly­ri­schen Ti­tel Theo­rie des Re­gens um­fas­sen den Zeit­raum von 1973 bis 2023, al­so sat­te fünf­zig Jah­re. Da­bei zei­gen die nur et­was mehr als 200 Sei­ten, dass hier ei­ne Aus­wahl vor­liegt. Die Ein­tra­gun­gen sind chro­no­lo­gisch, aber ab und zu stockt die Zeit­fol­ge und Roth­mann be­ginnt zu bi­lan­zie­ren, sich mit dem heu­ti­gen Wis­sen zu er­in­nern, et­wa wenn er »das kal­te, ta­schen­so­zio­lo­gi­sche Men­schen­sor­tie­ren in der Li­te­ra­tur die­ser frü­hen acht­zi­ger Jah­re« kri­ti­siert, üb­ri­gens, wie er be­kennt, »auch zwi­schen mei­nen Zei­len«. Manch­mal wer­den, so hat man das Ge­fühl, be­wusst Jah­res­zah­len ein­ge­fügt, da­mit der Le­ser ei­nen Über­blick er­hält.

Der Vor­teil des nicht son­der­lich mit dem Werk ver­trau­ten ist die Un­vor­ein­ge­nom­men­heit, mit der man die Lek­tü­re be­geht. 1973 ist Roth­mann 20 Jah­re alt, lebt im als eng emp­fun­de­nen West-Ber­lin und ist prak­tisch mit­tel­los. Es ist die Zeit der »Ge­burt des Er­zäh­lers aus der Lieb­lo­sig­keit«, »be­fan­gen in ei­ner ma­ni­schen Au­gen­blick­lich­keit«. Für 600 Mark stellt er sich als Stroh­mann für ei­nen Au­to­käu­fer im Iran zur Ver­fü­gung und macht sich mit an­de­ren Stroh­män­nern und ei­nem Käu­fer auf den Weg nach Te­he­ran. Es ist ei­ne von meh­re­ren Rei­sen, die at­mo­sphä­risch dicht skiz­ziert wer­den. So wie die­ser Ame­ri­ka-Trip zehn Jah­re spä­ter, mit Auf­ent­hal­ten in New York, Me­xi­ko-Ci­ty, Ti­jua­na, Aca­pul­co, schließ­lich Ecua­dor und Pe­ru (zu Zei­ten des »Leuch­ten­den Pfad« ge­fähr­lich). Um­wer­fend dar­in die Epi­so­de ei­ner Ge­birgs­tour mit dem fur­zen­den Fós­fo­ri­to, dem sei­ner­zeit klüg­sten Pferd in Ecua­dor; ei­ne Ge­schich­te mit ei­ner my­sti­schen Poin­te.

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An­drea Gio­ve­ne: Das Haus der Häu­ser

Andrea Giovene: Das Haus der Häuser
An­drea Gio­ve­ne: Das Haus der Häu­ser

Mit dem drit­ten Band Das Haus der Häu­ser setz­te An­drea Gio­ve­ne die fik­ti­ve Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero fort. Aber­mals hat der Ga­lia­ni-Ver­lag für sei­ne Neu­auf­la­ge ein stim­mi­ges Bild von Fe­li­ce Cas­o­ra­ti (1883–1963) zu die­sem Ro­man als Co­ver aus­ge­wählt – ein Still­le­ben vol­ler Sym­bol­kraft für die Epo­che, die in die­sem Buch her­vor­schim­mert. Es sind die Jah­re zwi­schen 1934 und 1940, wo­bei der Schwer­punkt auf die vier Jah­re bis 1938 liegt. San­se­vero hat sich nach dem un­ver­hoff­ten Er­be des Groß­va­ters Don Mi­che­le im ka­la­bri­schen Ort Li­cu­di, ei­nem klei­nen Dorf »au­ßer­halb von Zeit und Er­in­ne­rung«, »am äu­ßer­sten Rand der mensch­li­chen Ge­mein­schaft«, mit viel­leicht 200 oder 300 Ein­woh­nern, nie­der­ge­las­sen. Die Haupt­ein­nah­me­quel­le ist der Oli­ven­an­bau. Der größ­te Plan­ta­gen­be­sit­zer ist ein ge­wis­ser Don Calì; auch San­se­vero ge­hö­ren jetzt durch das Er­be ei­ni­ge Oli­ven­bäu­me.

Der näch­ste Ort ist die zehn Ki­lo­me­ter ent­fern­te Stadt San Gio­van­ni. Zwi­schen den bei­den Or­ten exi­stiert kei­ne Stra­ße. Das hält die Be­woh­ner nicht da­von ab, Ri­va­li­tät, ja Feind­schaft, für- bzw. ge­gen­ein­an­der zu emp­fin­den. Wäh­rend Li­cu­di ein fik­ti­ver Ort ist, könn­te es sich bei der Stadt um Cam­po­ra San Gio­van­ni han­deln. Da­für spricht nicht zu­letzt die Wahl des Still­le­ben-Co­vers – es zeigt ro­te Zwie­beln, ei­ne Spe­zia­li­tät der Stadt.

San­se­vero ist jetzt wohl­ha­bend; das einst spar­sa­me Le­ben ist nicht mehr not­wen­dig. Er lebt bei und mit ei­ner Fi­scher­fa­mi­lie und ge­nießt den »fei­er­li­chen Frie­den mit­ein­an­der«. Die Ab­ge­schie­den­heit des Dor­fes ver­setzt ihn in ei­ne an­de­re Stim­mung. Im All­tag herrscht in­ner­halb der Dorf­ge­mein­schaft ei­ne Art Na­tu­ral­wirt­schaft – wer ei­nen Esel, ein Werk­zeug oder ei­ne Dienst­lei­stung braucht, be­kommt sie oh­ne pe­ku­niä­re Ent­loh­nung. Im Ge­gen­zug wird er­war­tet, dass man sich sel­ber eben­so ver­hält. Bald wird auch der Er­zäh­ler ein­ge­bun­den, in dem er Be­hör­den­din­ge oder ein­fach nur Brie­fe für die Dorf­be­woh­ner liest, schreibt oder for­mu­liert (nicht we­ni­ge ha­ben Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ge, die aus­ge­wan­dert sind).

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Mar­len Ho­brack: Schrö­din­gers Grrrl

Marlen Hobrack: Schrödingers Grrrl
Mar­len Ho­brack:
Schrö­din­gers Grrrl

Ma­ra Wolf ist zu Be­ginn von Mar­len Ho­bracks Ro­man Schrö­din­gers Grrr 23 Jah­re alt. Der Ti­tel ist Ma­ras Pseud­onym auf In­sta­gram; ih­re Fas­zi­na­ti­on zur po­pu­lä­ren Deu­tung des Quan­ten­phy­sik-Pro­blems »Schrö­din­gers Kat­ze« ist der­art, dass sie schon auf der er­sten Sei­te ih­ren Brief­ka­sten zu »Schrö­din­gers Gift­box« er­klärt – mit all den Rech­nun­gen, Mah­nun­gen und Be­hör­den­schrei­ben, die re­al sind und zu­gleich ir­re­al er­schei­nen, so­bald der Ka­sten ge­schlos­sen ist. Ma­ra Wolf ist mit 15 als Ein­ser-Schü­le­rin von der Schu­le ge­gan­gen (war­um, er­fährt der Le­ser ge­gen En­de) und ver­bringt ih­ren Tag mit ei­nem merk­wür­di­gen Ka­ter, den sie »Psy­ka­ter« nennt, in ei­ner klei­nen Woh­nung in Dres­den. Der Va­ter ist tot, ih­re Mut­ter führt ei­ne Art Mes­sie-Da­sein; ge­le­gent­li­che Be­su­che der Toch­ter er­schöp­fen sich in ge­gen­sei­ti­gem Ein­an­der­vor­bei­re­den beim Fern­seh­kon­sum und der Fest­stel­lung des Mot­ten­be­falls bei den Le­bens­mit­teln der Mut­ter. Ma­ras Le­ben ist »ein täg­li­ches Schei­tern«. Es sind Zei­chen ei­ner ve­ri­ta­blen All­tags­de­pres­si­on, die zeit­wei­se von bor­der­li­ne­ähn­li­chen Eu­pho­rien ab­ge­löst wer­den. Aber die De­pres­sio­nen sind das ein­zi­ge, was Ma­ra Wolf tat­säch­lich ge­hört, wie sie keck be­tont und da­her Hil­fe ab­lehnt.

Ihr Traum ist ei­ne In­fluen­cer­kar­rie­re bei In­sta­gram, aber vor­erst ist sie eher sel­ber Kun­din und lei­det dar­un­ter, die an­ge­sag­ten Makeups aus Geld­man­gel nicht kau­fen zu kön­nen. Die bil­li­ge­ren Sa­chen klaut sie bis­wei­len mit ei­nem cle­ve­ren Trick aus dem Su­per­markt. Alarm ist bei ihr, wenn sie sich zu ei­nem Ter­min beim Job­cen­ter ein­zu­fin­den hat, aber Frau Kra­mer ist ver­ständ­nis­voll und um­gäng­lich. Be­son­ders be­sorgt ist Ma­ra um ihr Aus­se­hen; je­de Haut­un­rein­heit stürzt sie in Re­pa­ra­tur­ar­bei­ten; Deh­nungs­fal­ten ver­set­zen sie in Schrecken. Das Kör­per­ge­wicht möch­te sie der­art re­gu­lie­ren, dass sie von Grö­ße 38 auf 36 kommt; die Becken­kno­chen zei­gen ihr ir­gend­wann an, dass das Ziel er­reicht hat und dem­nächst un­ter­schrei­ten wird.

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Uwe Neu­mahr: Das Schloss der Schrift­stel­ler

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller
Uwe Neu­mahr: Das Schloss der Schrift­stel­ler

Ich ge­ste­he, dass ich den Ti­tel von Uwe Neu­mahrs neue­stem Buch, Das Schloss der Schrift­stel­ler, we­nig ge­lun­gen fin­de. Es klingt mir zu sehr nach Puz­zle­spiel, Dis­ney-World und Sans­sou­ci. Ge­meint ist das Schloss Fa­ber-Ca­stell in Stein (Post­an­schrift Nürn­berg), in dem vom 20. No­vem­ber 1945 an Kor­re­spon­den­ten, Jour­na­li­sten und eben auch Schrift­stel­ler aus al­len mög­li­chen Län­dern (au­ßer aus Deutsch­land – sie hat­ten Ein­tritts­ver­bot) mehr schlecht als recht in ei­nem »Pres­se­la­ger« leb­ten. Sie wa­ren zu je­ner ein­zig­ar­ti­gen Ver­an­stal­tung an­ge­reist, die die un­fass­ba­ren Ver­bre­chen des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus auf­klä­ren und ih­re (noch le­ben­den) Haupt­prot­ago­ni­sten rich­ten soll­ten. Schließ­lich zeigt der Un­ter­ti­tel die rich­ti­ge Rich­tung: Nürn­berg ’46 – Tref­fen am Ab­grund.

Die Al­li­ier­ten hat­ten das Schloss der Blei­stift­fa­mi­lie man­gels an­de­rer Mög­lich­kei­ten (die Stadt war schwer bom­bar­diert wor­den) re­qui­riert. Da die Ame­ri­ka­ner den Pro­zess in ih­rer Be­sat­zungs­zo­ne ab­hal­ten woll­ten, wur­de die am 18. Ok­to­ber in Ber­lin be­gon­ne­ne Be­weis­auf­nah­me nach Nürn­berg ver­legt. Der neue Ort be­saß ei­ne ho­he Sym­bol­kraft – hat­ten doch die Na­zis hier ih­re pom­pös-kit­schi­gen Par­tei­ta­ge ab­ge­hal­ten.

Zeit­wei­se wa­ren 250 Pres­se­ver­tre­ter in der Stadt, 100 da­von aus den USA. Die Un­ter­brin­gung war kom­pli­ziert, die hy­gie­ni­schen Zu­stän­de grenz­wer­tig. Bis zu zehn Per­so­nen teil­ten sich ein Zim­mer. Neu­mahr zi­tiert aus Brie­fen von Er­nest Ce­cil Dea­ne (1911–1991) an sei­ne Frau. Dea­ne war als As­si­stent des ame­ri­ka­ni­schen Pres­se­of­fi­ziers er­ste An­lauf­stel­le und fun­gier­te als Fak­to­tum für die Da­men und Her­ren der Pres­se. Die Be­schwer­den lie­ßen nicht auf sich war­ten; die Jour­na­li­sten wa­ren, wie Neu­mahr an­merkt, oft ge­nug Bes­se­res ge­wöhnt. Wer konn­te und von den Ame­ri­ka­nern zu­ge­las­sen wur­de, ging ins Nürn­ber­ger Grand Ho­tel am Haupt­bahn­hof.

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Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re: Noch wach?

Benjamin von Stuckrad-Barre: Noch wach?
Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re: Noch wach?

Der pas­sen­de­re Ti­tel für die­sen Ro­man fin­det sich ganz hin­ten im Buch: »ei­ne män­ner­i­ge Män­ner­ge­schich­te« sei das, so So­phia, je­ne Re­dak­teu­rin, der sich der na­men­los blei­ben­de Schrift­stel­ler-Er­zäh­ler an­nimmt (nicht so, wie Sie das viel­leicht ver­ste­hen!). Der hat näm­lich seit fünf­zehn Jah­ren die­sen Freund, al­so ei­nen ech­ten Freund, so ei­ner mit dem man, wie Lo­ri­ot in der Zoo­hand­lung, durch Dick und Dünn geht, was sich dar­an zeigt, dass sie ein ein­ge­rahm­tes Ori­gi­nal­re­zept von Gott­fried Benn be­sit­zen, je­nem Dich­ter und »Arzt für Haut- und Ge­schlechts­krank­hei­ten«, ei­ne Re­li­quie, die je nach see­li­scher Ver­fasst­heit zwi­schen den bei­den hin- und her­wan­dert. Und na­tür­lich ha­ben sie auch ein Lied, ein ge­mein­sa­mes Lied, Keep on Dancing von Pa­rov Stelar, und das tan­zen sie manch­mal zu­sam­men und dann ver­sinkt der Kopf des Er­zäh­lers im Jackett des Freun­des und er »weint Creme auf sein Hemd« und der Freund strei­chelt dann sei­nen Kopf.

Der eben­falls na­men­los blei­ben­de Freund ist der Chef ei­nes Fern­seh­sen­ders, so ein deut­scher Fox-News-»Brüllsender«, ei­ne wah­re »Hetz­ma­nu­fak­tur«, mit bös­ar­ti­gen Schlag­zei­len im Stun­den­takt, oh­ne Rück­sicht auf Pri­vat­sphä­ren. Der Freund be­schäf­tigt dort die­sen »wut­maß­li­chen Chef­re­dak­teur«, ei­nen ehe­ma­li­gen Kriegs­re­por­ter, der »prak­tisch al­les durf­te«, wie »rum­schrei­en, bloß­stel­len, ver­höh­nen, het­zen« und sich im Krieg mit »links­grün­ver­sifft« be­fin­det, und so wei­ter.

Es ist un­mög­lich, den Ro­man Noch wach? von Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re oh­ne die Be­haup­tung, dass es sich um ei­nen »Schlüs­sel­ro­mans« han­de­le, zu le­sen. Schon ist man rein­ge­fal­len. Und da­mit man wirk­lich al­les GANZ GENAU so ver­steht, wie es der Er­zäh­ler möch­te, sind ge­fühlt ein Vier­tel des Ro­man­tex­tes in Ver­sa­li­en, par­don: GROSSBUCHSTABEN, ge­setzt – das gibt beim Le­sen so ein Sit­com-Ge­fühl, wenn die künst­li­chen La­cher für das als blö­de ein­ge­schätz­te Pu­bli­kum ein­ge­blen­det wer­den, da­mit sie wis­sen, wann es lu­stig ist, denn an­son­sten wür­de man ver­mut­lich schnell ein­nicken und ir­gend­wann vom Le­bens­part­ner ge­fragt wer­den, ob man noch wach ist (der Ti­tel des Ro­mans ist al­ler­dings an­ders ge­meint).

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Ma­thi­as Enard: Der per­fek­te Schuss

Mathias Enard: Der perfekte Schuss
Ma­thi­as Enard:
Der per­fek­te Schuss

2003 er­schien vom da­mals 31jährigen Her­aus­ge­ber und Über­set­zer Ma­thi­as Enard das be­mer­kens­wer­te Ro­man­de­but La per­fec­tion du tir (et­wa: »Die Per­fek­ti­on des Schie­ßens«). Haupt­fi­gur ist ein na­men­los blei­ben­der Ich-Er­zäh­ler, der zu Be­ginn 17 Jah­re alt ist. Der Ro­man spielt in ei­nem nicht nä­her ge­nann­ten Land, in dem ein Bür­ger­krieg tobt. Da­mals mut­maß­te man, dass der Li­ba­non ein Vor­bild ge­we­sen sein könn­te. Mir er­schei­nen die ju­go­sla­wi­schen Se­zes­si­ons­krie­ge nä­her­lie­gend. Die Kom­bat­tan­ten des Ro­mans kön­nen sich ver­stän­di­gen, spre­chen die glei­che Spra­che. Der Ver­lag schreibt zu Be­ginn, dass Enard für die »vor­lie­gen­de Über­set­zung« des Der per­fek­te Schuss ge­nann­ten, von Sa­bi­ne Mül­ler über­setz­ten Bu­ches, den Text »neu durch­ge­se­hen« ha­be (Enard spricht her­vor­ra­gend Deutsch). Die ak­tu­el­le Nach­rich­ten­la­ge ver­lei­tet da­zu, den Text in die Ukrai­ne zu ver­or­ten, was wo­mög­lich jetzt auch den Han­ser-Ver­lag er­mun­tert hat, ihn zwan­zig Jah­re spä­ter zu pu­bli­zie­ren.

Er­zählt wird im Prä­ter­itum rück­blickend auf et­was mehr als ein Jahr. Der Er­zäh­ler ist be­reits seit drei Jah­ren »da­bei«, ver­ließ das Gym­na­si­um, ver­mut­lich, weil es ge­schlos­sen wur­de. Er lebt mit sei­ner 50jährigen Mut­ter zu­sam­men, die dem Wahn­sinn oder der De­menz ver­fal­len ist und die zu Be­ginn pfle­ge­be­dürf­tig ist. Der Va­ter, einst ein wohl­ha­ben­der Bau­un­ter­neh­mer, starb bei ei­nem Sturz vom Ge­rüst; es ist nicht klar, ob dies ei­ne Tat ei­nes der schlecht­be­zahl­ten Ar­bei­ter war oder ein Un­fall. Die Mut­ter zer­brach dar­an.

Ein­zel­hei­ten zu dem Krieg gibt es nicht. Er zeigt un­ter­schied­li­che In­ten­si­tä­ten, trifft die Be­tei­lig­ten in Wel­len. Im­mer wie­der gibt es Waf­fen­still­stän­de, die aber nur kur­ze Zeit hal­ten. Der Er­zäh­ler lebt in ei­ner Stadt, von der er je nach La­ge wie bei ei­nem re­gel­mä­ßi­gen Ar­beits­ver­hält­nis an die Front geht und abends wie­der nach Hau­se kom­men kann. Ein­mal er­lebt die Stadt ei­nen star­ken Ar­til­le­rie­an­griff, bei dem Wohn­häu­ser ge­trof­fen wer­den; am Ran­de auch das Haus, in dem er lebt.

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Von Alb­traum­ma­schi­nen

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml
Giu­lia­no da Em­po­li:
Der Ma­gi­er im Kreml

Der Ma­gi­er im Kreml ist na­tür­lich ein Ro­man, Ge­schrie­ben wur­de er vom italo-schwei­ze­ri­schen Au­tor Giu­lia­no da Em­po­li (Über­set­zung aus dem Fran­zö­si­schen von Mi­chae­la Meß­ner). Die einst ge­bets­müh­len­ar­tig vor­ge­brach­te Er­klä­rung, dass Ähn­lich­kei­ten mit re­al exi­stie­ren­den Per­so­nen rein zu­fäl­lig sei­en, ist im Zeit­al­ter des Do­ku-Dra­mas längst über­holt. Statt­des­sen wird zu Be­ginn dar­auf hin­ge­wie­sen, dass der Ro­man auf wah­ren Be­ge­ben­hei­ten und rea­len Per­so­nen ba­siert, de­nen »ein Pri­vat­le­ben und er­fun­de­ne Äu­ße­run­gen zu­ge­ord­net« wor­den sei­en. Das war, wenn man sich die Welt­li­te­ra­tur an­sieht, ei­ni­ge Jahr­hun­der­te lang nicht un­ge­wöhn­lich. Shake­speare tat es mit Ri­chard III., Schil­ler schrieb Wal­len­stein Tex­te zu, die er nicht wis­sen konn­te und im­mer noch glau­ben Men­schen, dass der Re­vo­lu­tio­när Dan­ton so ge­spro­chen hat, wie man in Ge­org Büch­ners Stück nach­le­sen kann. Die Au­toren konn­ten sich dar­auf ver­las­sen, dass ihr Pu­bli­kum die Fik­tio­na­li­tät in­ner­halb des hi­sto­ri­schen Um­felds ver­stand – und wenn nicht, war es eher be­deu­tungs­los, weil es da­mals kei­ne Hor­den von Schrei­bern gab, die zwi­schen Rea­li­tät und Schrift­stel­le­rei nicht un­ter­schei­den konn­ten.

Der Erz­engel des To­des und sein (fik­ti­ver) Be­ra­ter

Da­mit der Ro­man nicht im Kor­sett der (bis­her weit­ge­hend un­be­kann­ten und da­her eher tri­via­len) Rea­li­tät er­stickt, hat Em­po­li die Haupt­fi­gur Wa­dim Bara­now er­fun­den. Ein nicht nä­her vor­ge­stell­ter Ich-Er­zäh­ler, der sich in Mos­kau auf­hält, der »un­er­gründ­li­chen Haupt­stadt ei­ner neu­en Epo­che«, ist ei­ner­seits fas­zi­niert von die­sem ge­heim­nis­vol­len Bara­now, dem vor ei­ni­ger Zeit de­mis­sio­nier­ten Be­ra­ter des »Za­ren« Wla­di­mir Pu­tin. Und er ist be­ses­sen von Jew­ge­ni Sam­ja­tin, ei­nem rus­si­schen Schiff­bau­in­ge­nieur und Schrift­stel­ler (1884–1937), der in den 1920er Jah­ren den dys­to­pi­schen Ro­man Wir ver­fass­te und da­mit bei Sta­lin in Un­gna­de fiel. Es gibt in Em­po­lis Ro­man, va­ge In­ter­es­sen­ten an ei­ner Neu­auf­la­ge von Wir so­wie ei­ner Ver­fil­mung, was als Ur­sa­che für den Auf­ent­halt ge­nom­men wird. Wann der Ro­man spielt bleibt un­klar; es ist dif­fus vom Ukrai­ne-Krieg in der Ver­gan­gen­heit die Re­de. So recht kommt der Er­zäh­ler nicht vor­an; er pflegt sein Au­ßen­sei­ter­tum ob­wohl (oder ge­ra­de weil?) er als Aus­län­der ei­ner stän­di­gen Über­wa­chung zu un­ter­lie­gen scheint (die Be­glei­ter nennt er »Brief­mar­ken«).

In den so­zia­len Netz­wer­ken ent­deckt er ei­nen ge­wis­sen Ni­co­las Brand­eis. Der Na­me er­in­nert an ei­ne Fi­gur aus ei­nem Jo­seph-Roth-Ro­man und ist vor al­lem das Pseud­onym, un­ter dem Bara­now einst Es­says, Auf­sät­ze und ein Thea­ter­stück ver­öf­fent­licht hat­te. Brand­eis’ Po­stings sind eher sel­ten und meist ge­heim­nis­voll. Ist es Bara­now oder ein­fach nur ir­gend­ein Stu­dent, der das Pseud­onym an­ge­nom­men hat? Als Brand­eis ei­nen Satz aus Wir po­stet, wird er hell­hö­rig. Er ant­wor­tet dem un­be­kann­ten Nut­zer eben­falls mit ei­nem Zi­tat und rasch steht der Re­por­ter in Bara­nows für rus­si­sche Ver­hält­nis­se lu­xu­riö­sen An­we­sen au­ßer­halb von Mos­kau.

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Trash for cash

Ei­gent­lich dach­te man, dass mit dem Pod­cast Fa­king Hit­ler von Mal­te Her­wig (2019) die Sa­che mit den Hit­ler-Ta­ge­bü­chern er­le­digt sei. Si­cher­lich, es gab noch die­se un­säg­lich drö­ge so­ge­nann­te Ver­fil­mung glei­chen Na­mens (mit Lars Ei­din­ger als Gerd Hei­de­mann), aber die hat­te ge­gen die Hu­mo­res­ke Schtonk von Hel­mut Dietl kei­ne Chan­ce.

Nun ist man al­ler­dings der Ori­gi­nal-Fäl­schun­gen Ku­jaus hab­haft ge­wor­den, hat sie tran­skri­biert und setzt zum er­neu­ten Scoop an. Fast zeit­gleich ver­öf­fent­li­chen der NDR (an­ge­kün­digt in der Sen­dung Resch­ke-Fern­se­hen) und der März-Ver­lag Ku­jaus Fäl­schun­gen. Der NDR bie­tet zu­sätz­lich ei­ne Voll­text­su­che der (di­gi­ta­li­sier­ten) »Ta­ge­bü­cher« an. Kom­men­tiert wer­den die Ein­tra­gun­gen in bei­den Me­di­en von Ha­jo Fun­ke. So­wohl die Er­läu­te­run­gen des Her­aus­ge­bers des Bu­ches John Goetz als auch die hi­sto­ri­schen Ein­ord­nun­gen von Hei­ke B. Gör­tema­ker fin­den sich im Buch wie auch auf der NDR-Sei­te. In­ter­es­sant ist, dass auf der NDR-Sei­te kein ein­zi­ger Hin­weis auf das Buch im März-Ver­lag zu fin­den ist.

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