Uwe Neu­mahr: Das Schloss der Schrift­stel­ler

Uwe Neumahr: Das Schloss der Schriftsteller

Uwe Neu­mahr: Das Schloss der Schrift­stel­ler

Ich ge­ste­he, dass ich den Ti­tel von Uwe Neu­mahrs neue­stem Buch, Das Schloss der Schrift­stel­ler, we­nig ge­lun­gen fin­de. Es klingt mir zu sehr nach Puz­zle­spiel, Dis­ney-World und Sans­sou­ci. Ge­meint ist das Schloss Fa­ber-Ca­stell in Stein (Post­an­schrift Nürn­berg), in dem vom 20. No­vem­ber 1945 an Kor­re­spon­den­ten, Jour­na­li­sten und eben auch Schrift­stel­ler aus al­len mög­li­chen Län­dern (au­ßer aus Deutsch­land – sie hat­ten Ein­tritts­ver­bot) mehr schlecht als recht in ei­nem »Pres­se­la­ger« leb­ten. Sie wa­ren zu je­ner ein­zig­ar­ti­gen Ver­an­stal­tung an­ge­reist, die die un­fass­ba­ren Ver­bre­chen des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus auf­klä­ren und ih­re (noch le­ben­den) Haupt­prot­ago­ni­sten rich­ten soll­ten. Schließ­lich zeigt der Un­ter­ti­tel die rich­ti­ge Rich­tung: Nürn­berg ’46 – Tref­fen am Ab­grund.

Die Al­li­ier­ten hat­ten das Schloss der Blei­stift­fa­mi­lie man­gels an­de­rer Mög­lich­kei­ten (die Stadt war schwer bom­bar­diert wor­den) re­qui­riert. Da die Ame­ri­ka­ner den Pro­zess in ih­rer Be­sat­zungs­zo­ne ab­hal­ten woll­ten, wur­de die am 18. Ok­to­ber in Ber­lin be­gon­ne­ne Be­weis­auf­nah­me nach Nürn­berg ver­legt. Der neue Ort be­saß ei­ne ho­he Sym­bol­kraft – hat­ten doch die Na­zis hier ih­re pom­pös-kit­schi­gen Par­tei­ta­ge ab­ge­hal­ten.

Zeit­wei­se wa­ren 250 Pres­se­ver­tre­ter in der Stadt, 100 da­von aus den USA. Die Un­ter­brin­gung war kom­pli­ziert, die hy­gie­ni­schen Zu­stän­de grenz­wer­tig. Bis zu zehn Per­so­nen teil­ten sich ein Zim­mer. Neu­mahr zi­tiert aus Brie­fen von Er­nest Ce­cil Dea­ne (1911–1991) an sei­ne Frau. Dea­ne war als As­si­stent des ame­ri­ka­ni­schen Pres­se­of­fi­ziers er­ste An­lauf­stel­le und fun­gier­te als Fak­to­tum für die Da­men und Her­ren der Pres­se. Die Be­schwer­den lie­ßen nicht auf sich war­ten; die Jour­na­li­sten wa­ren, wie Neu­mahr an­merkt, oft ge­nug Bes­se­res ge­wöhnt. Wer konn­te und von den Ame­ri­ka­nern zu­ge­las­sen wur­de, ging ins Nürn­ber­ger Grand Ho­tel am Haupt­bahn­hof.

Nach der Ein­lei­tung, in dem aus­führ­lich die Ge­ge­ben­hei­ten im »Fa­ber­schloss« er­zählt wer­den fol­gen zwölf Ka­pi­tel und ein eher är­ger­li­ches so­ge­nann­tes Nach­wort. Es be­ginnt mit John Dos Pas­sos (1886–1970), je­nem ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­ten, der mit Man­hat­tan Trans­fer 1925 ei­nen der gro­ßen ma­gisch-rea­li­sti­schen Groß­stadt­ro­ma­ne der Mo­der­ne ge­schrie­ben hat­te. Dos Pas­sos be­grüß­te die ju­ri­sti­sche Auf­ar­bei­tung der Ver­bre­chen aber wäh­rend die mei­sten Me­di­en­ver­tre­ter die Deut­schen und ih­re Sor­gen als Jam­me­rei­en und Ab­len­kungs­ma­nö­ver von der ei­ge­nen Schuld an­sa­hen, hat­te er Mit­leid mit der deut­schen Be­völ­ke­rung. Die Er­öff­nungs­re­de des US-ame­ri­ka­ni­schen Haupt­an­kla­ge­ver­tre­ters Ro­bert H. Jack­son (1892–1954), der die Not­wen­dig­keit ei­ner recht­li­chen Auf­ar­bei­tung ver­sprach oh­ne Sie­ger­ju­stiz zu üben oder Ra­che zu neh­men, stimm­te Dos Pas­sos stolz, weil er hier sei­ne Li­nie – die Tren­nung zwi­schen den Ver­bre­chern und dem Groß­teil des deut­schen Volks – aus­ge­drückt sah. Mit dem Ver­hal­ten der USA war er nicht ein­ver­stan­den und kri­ti­sier­te sein Land, in dem er vier hi­sto­ri­sche Feh­ler auf­führ­te: »Das Ver­säum­nis von 1776, die Skla­ve­rei nicht ab­ge­schafft zu ha­ben«, den »ver­fehl­ten Wie­der­auf­bau nach dem Ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­krieg«, die Po­li­tik ge­gen­über Hit­ler und Mus­so­li­ni und schließ­lich die Ak­zep­tanz Sta­lins als po­li­ti­schen Al­li­ier­ten. Aus dem Kom­mu­ni­sten­freund in jun­gen Jah­ren war ein Mc­Car­thy-An­hän­ger ge­wor­den.

We­ni­ge Ta­ge nach der Re­de Jack­sons fuhr Dos Pas­sos wie­der zu­rück in die USA. Über­haupt wird wäh­rend der Lek­tü­re deut­lich, dass die mei­sten der »pro­mi­nen­ten« Be­richt­erstat­ter nur ei­ni­ge we­ni­ge Ta­ge vor Ort wa­ren. Bei Al­fred Dö­b­lin (1878–1957) er­ga­ben die Re­cher­chen, dass er, trotz sei­ner un­ter dem Pseud­onym Hans Fie­de­ler er­schie­ne­nen, in 200.000 Stück Auf­la­ge ge­druck­ten »Auf­klä­rungs­schrift« mit dem Ti­tel Der Nürn­ber­ger Lehr­pro­zess, nie­mals in Nürn­berg war. Ei­ne TV-Do­ku­men­ta­ti­on von Pe­ter Hartl über den Nürn­ber­ger Pro­zess aus dem Jahr 2016 zeig­te zwar ei­ne Ak­kre­di­tie­rung Dö­b­lins, aber man gab auf Nach­fra­ge zu, dass die Gra­fi­ker »ei­gen­stän­dig auf Vor­la­gen zu­rück­ge­grif­fen hätte[n], ‘um sie ent­spre­chend zu per­so­na­li­sie­ren’ «. So wird ne­ben­bei ge­zeigt, wie heut­zu­ta­ge Do­ku­men­ta­tio­nen fürs Fern­se­hen ent­ste­hen.

Mit der Wahr­heit nah­men es al­ler­dings auch ei­ni­ge Pro­zess­be­ob­ach­ter nicht so ge­nau, wie Neu­mahr an­hand der Tex­te von El­sa Trio­let (1896–1970) und der nach­träg­li­chen Be­ar­bei­tung durch ih­ren Ehe­mann Lou­is Ara­gon (1897–1982) fest­stellt. Die bei­den Sta­lin-Sym­pa­thi­san­ten kämpf­ten nicht nur ge­gen die An­ge­klag­ten, die sie oh­ne gro­ßen Pro­zess so­fort fü­si­liert hät­ten, son­dern auch ge­gen die »an­glo-ame­ri­ka­ni­sche« Do­mi­nanz. Da­für wur­den auch schon mal Fak­ten und Aus­sa­gen in die »rich­ti­ge« Rich­tung so lan­ge ver­bo­gen, bis es »stimm­te«.

Die ame­ri­ka­ni­sche Re­por­te­rin Ja­net Flan­ner (1892–1978) brach­te dem Haupt­an­ge­klag­ten Her­mann Gö­ring ei­ne ge­wis­se Fas­zi­na­ti­on ent­ge­gen; sie sprach von ei­ner »dä­mo­ni­schen Grö­ße« Mit der Ein­schät­zung des Schei­terns des Gö­ring-Ver­hörs durch den un­vor­be­rei­tet wir­ken­den Ro­bert H. Jack­son (der Dos Pas­sos noch so be­ein­druckt hat­te), stand sie nicht al­lei­ne. Ih­re fort­lau­fen­de Ame­ri­ka­kri­tik war ir­gend­wann für die Re­dak­ti­on des New Yor­kers nicht mehr trag­bar. Sie wur­de ab­be­ru­fen und durch Re­bec­ca West (1892–1983) er­setzt, die ei­ne Af­fä­re mit dem ame­ri­ka­ni­schen Haupt­rich­ter Fran­cis Bidd­le (1886–1968) be­gann. Für West wa­ren die Deut­schen ein »ver­trot­tel­tes Volk«. Sie hing da­mit dem so­ge­nann­ten Van­sitt­ar­tis­mus an, be­nannt nach dem bri­ti­schen Di­plo­ma­ten (und Geg­ner der Cham­ber­lain-Ap­pease­ment­po­li­tik der 1930er Jah­re) Ro­bert Van­sitt­art (1881–1957). Er mün­de­te in dem Wunsch nach ei­ner dau­er­haf­ten De­mi­li­ta­ri­sie­rung Deutsch­lands, die ein­her ge­hen soll­te mit der Um­er­zie­hung der Deut­schen über meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen hin­weg. Die The­se im­pli­zier­te ei­ne Kol­lek­tiv­schuld al­ler Deut­schen. Die Gren­zen zum Mor­genthau­plan, der aus Deutsch­land dau­er­haft ei­nen Agrar­staat ma­chen woll­te, sind flie­ßend.

Der Van­sitt­ar­tis­mus hat­te un­ter den Be­ob­ach­tern des Pro­zes­ses, die zum Teil auch Op­fer der Na­zi-Herr­schaft wa­ren, (be­greif­li­cher­wei­se) vie­le An­hän­ger. Von den im Buch vor­ge­stell­ten wa­ren dies noch der US-ame­ri­ka­ni­sche Star­re­por­ter und Deutsch­land­ex­per­te Wil­liam Shirer (1904–1993), Eri­ka Mann (1905–1969) und Mar­tha Gell­horn (1908–1998). Letz­te­re pfleg­te, wie es heißt, ei­ne »le­bens­lan­ge Ab­scheu vor al­lem Deut­schen«. Der da­mals weit­ge­hend un­be­kann­te in Lü­beck ge­bo­re­ne Emi­grant Wil­ly Brandt (1913–1992), der für nor­we­gi­sche Me­di­en den Pro­zess be­ob­ach­te­te, hielt da­von nichts. Er plä­dier­te so­gar da­für, auch un­be­la­ste­te deut­sche Rich­ter ein­zu­set­zen. Brandt setz­te sich für die Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen »Schuld und Ver­ant­wor­tung« ein und sprach im Rah­men der Ent­na­zi­fi­zie­run­gen durch die Al­li­ier­ten so­gar von »bü­ro­kra­ti­schen He­xen­pro­zes­sen«. Die ei­gent­li­chen Pro­zess­be­rich­te von Brandt sol­len eher be­schrei­bend ge­we­sen sein.

Im Ka­pi­tel um Wil­ly Brandt wird auch die Teil­nah­me ei­nes ge­wis­sen Mar­kus Wolf (1923–2006) be­han­delt, der sei­ner­zeit ei­ne »klas­sen­be­zo­ge­ne« Be­richt­erstat­tung für Me­di­en in der so­wje­ti­schen Be­sat­zungs­zo­ne lie­fer­te. Fast drei Jahr­zehn­te spä­ter war es der Ge­heim­dienst, dem Wolf in der DDR vor­stand, der ei­nen Spi­on im bun­des­deut­schen Kanz­ler­amt ein­ge­schleust hat­te und so­mit nach des­sen Ent­tar­nung zum Rück­tritt des er­sten so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Bun­des­kanz­lers der Nach­kriegs­zeit bei­tra­gen soll­te. Ob die bei­den sich da­mals in Nürn­berg be­geg­net wa­ren? Und wenn ja: Hat­ten Sie sich was zu sa­gen?

Erich Käst­ner (1899–1974) und Wolf­gang Hil­des­hei­mer (1916–1991) bil­den die An­ti­po­den der deut­schen Pro­zess­be­ob­ach­ter. Käst­ner, ein Prot­ago­nist der »in­ne­ren Emi­gra­ti­on«, flüch­te­te sich aber­mals in die Di­stan­zie­rung. Mit dem Pro­zess konn­te er we­nig an­fan­gen und ver­focht ei­ne »au­to­chtho­ne Neu­ord­nung Deutsch­lands«. Das Ka­pi­tel zu Hil­des­hei­mer ist das Schön­ste und In­struk­tiv­ste. Hil­des­hei­mer kam erst zu den Nach­fol­ge­pro­zes­sen (von 1946–49) nach Nürn­berg und ar­bei­te­te dort als Si­mul­tan­dol­met­scher. Im Ein­satz­grup­pen­pro­zess über­setz­te er Ot­to Oh­len­dorf, der frei­mü­tig be­kann­te, für die Er­mor­dung von rund 90.000 Men­schen ver­ant­wort­lich ge­we­sen zu sein, sich je­doch – ver­geb­lich – auf Pu­ta­tiv­not­wehr be­rief. Die auch psy­chi­schen Be­la­stun­gen die­ser Über­set­zungs­ar­beit kom­pen­sier­te der ei­gent­lich eher schrift­stel­le­risch am­bi­tio­nier­te Hil­des­hei­mer mit Zeich­nen und Ma­len.

Hil­des­hei­mer war mit sei­nen El­tern in den 1930er Jah­ren nach Pa­lä­sti­na emi­griert und hielt die Deut­schen zu­nächst eben­falls für »phy­sisch un­sym­pa­thisch«. Die­ses Ur­teil re­vi­dier­te er spä­ter und neig­te in der Schuld­fra­ge dem Ter­mi­nus Karl Jas­pers’ von der »Kol­lek­tiv-Haf­tung« zu. Jas­pers hat­te vier »Schuld­be­grif­fe« for­mu­liert, nach de­nen zu un­ter­schei­den sei: »die kri­mi­nel­le Schuld, die po­li­ti­sche Schuld, die mo­ra­li­sche Schuld und die me­ta­phy­si­sche Schuld, de­ren Gra­de von ent­spre­chen­den In­stan­zen zu klä­ren sei­en: Ge­richt, Ge­walt und Wil­le des Sie­gers, dem ei­ge­nen Ge­wis­sen, Gott.« Im Ge­gen­satz zu vie­len pseu­do­pro­gres­si­ven Kräf­ten hat­te Hil­des­hei­mer den po­li­tisch not­wen­di­gen An­pas­sun­gen an die Ge­ge­ben­hei­ten des Kal­ten Krie­ges er­kannt. Er blieb al­ler­dings, wie es bei Neu­mahr heißt, ins­be­son­de­re in den 1970er und 80er Jah­ren in ei­ner »de­pres­si­ven Grund­stim­mung«.

Das als »ei­ne Art Nach­wort« apo­stro­phier­te Ka­pi­tel über Go­lo Mann (1909–1994) ent­behrt nicht ei­ner ge­wis­sen Pein­lich­keit. Be­han­delt wird Go­lo Manns En­ga­ge­ment zur Frei­las­sung des letz­ten Ge­fan­ge­nen von Span­dau, des ein­sti­gen »Stell­ver­tre­ters des Füh­rers« Ru­dolf Heß, der zu ei­ner le­bens­läng­li­chen Haft ver­ur­teilt wor­den war. Neu­mahr macht klar, dass es da­mals vie­le »pro­mi­nen­te Un­ter­stüt­zer« da­für gab, wie Carl Zuck­may­er, Ri­chard von Weiz­säcker und so­gar den bri­ti­schen Chef­an­klä­ger im Haupt­kriegs­ver­bre­cher­pro­zess, Hart­ley Shaw­cross.

Tat­säch­lich war auch Go­lo Mann mehr­fach für »Ra­dio Frank­furt« beim Nürn­ber­ger Pro­zess und hat­te, wie sei­ne Schwe­ster Eri­ka, nach dem Krieg deut­schen Bo­den in ame­ri­ka­ni­scher Uni­form be­tre­ten. Mit Eri­kas Zeit ih­res Le­bens ge­pfleg­tem Deut­schen­hass konn­te er nichts an­fan­gen. Den Pro­zess sah er von Be­ginn an kri­tisch. Spä­ter rück­te Go­lo Mann im­mer mehr vom links­li­be­ra­len Kon­sens der bun­des­deut­schen In­tel­lek­tu­el­len ab. Sein Ein­satz für die Frei­las­sung von Heß er­folg­te nicht aus öko­no­mi­schen Mo­ti­ven her­aus (die Haft ko­ste­te Mil­lio­nen DM im Jahr), son­dern als hu­ma­ni­tä­re Maß­nah­me. Neu­mahr fin­det noch ei­nen an­de­ren Grund: Mann emp­fand »ei­ne ge­wis­se Dank­bar­keit« für Ru­dolf Heß, der an­schei­nend sei­ne schüt­zen­de Hand über sei­nen Groß­va­ter müt­ter­li­cher­seits, dem jü­di­schen Ma­the­ma­ti­ker Adolf Pringsheim, ge­hal­ten hat­te und die­sem »je­ne De­mü­ti­gun­gen [er­spar­te], de­ren Op­fer die deut­schen Ju­den schon in den drei­ßi­ger Jah­ren wur­den…« Was Mann und die Un­ter­stüt­zer über­sa­hen: In­zwi­schen hat­te sich in Deutsch­land ei­ne neue Rech­te ge­bil­det, für die Heß zur Gal­li­ons­fi­gur ge­wor­den war.

Das Schloss der Schrift­stel­ler ist kei­ne Chro­nik der Nürn­ber­ger Pro­zes­se. Fach­li­che In­for­ma­tio­nen zum Pro­zess­ge­sche­hen fin­den sich ver­streut und eher ne­ben­bei in den ver­schie­de­nen Ka­pi­teln. Zwar wer­den die Eck­da­ten er­wähnt – dass es 22 An­ge­klag­te gab und da­von zwölf zum To­de, drei zu le­bens­läng­li­chen, vier zu lang­jäh­ri­gen Frei­heits­stra­fen ver­ur­teilt und drei frei­ge­spro­chen wur­den. Und man er­fährt, wie will­kür­lich die Ent­schei­dun­gen für To­des- oder Haft­stra­fe ge­trof­fen wur­den. Et­wa wenn Bidd­le aus ei­nem 2:2 für die To­des­stra­fe ge­gen Speer auf ein 3:1 zu Gun­sten ei­ner Haft­stra­fe um­schwenk­te – und da­mit der deut­schen Öf­fent­lich­keit die »Er­in­ne­run­gen« des Kriegs­ver­bre­chers in den 1970er Jah­ren, nach sei­ner Frei­las­sung, nicht er­spart blie­ben. Es wird auch er­klärt, war­um die Sho­ah nur als Un­ter­punkt zu »Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit« ver­han­delt wur­de und da­mit kaum di­rekt in den Fo­kus ge­riet.

Der Schwer­punkt liegt auf die im Buch be­han­del­ten Per­sön­lich­kei­ten, de­ren Bio­gra­fien bis­wei­len sehr aus­führ­lich her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den, wo­bei Neu­mahr es weit­ge­hend ver­mei­det, die Pro­zess­be­ob­ach­ter zu idea­li­sie­ren. Den mei­sten der hier auf­ge­führ­ten Per­sön­lich­kei­ten wa­ren die ju­ri­sti­schen Fein­hei­ten, in die das Pro­zess­ge­sche­hen im­mer mehr ge­riet, eher ein Dorn im Au­ge. Man sprach von ei­nem »Kau­gum­mi­pro­zess« und rasch zog die Lan­ge­wei­le ein. Die­se wur­de nur ein­mal un­ter­bro­chen; in ei­nem Schock­mo­ment am 29.11.1945, der nach­träg­lich als Wen­de­punkt im Pro­zess an­ge­se­hen wur­de. An die­sem Tag wur­den Fil­me von den be­frei­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern ge­zeigt. Erst­mals muss­ten sich die An­ge­klag­ten die­sen von ih­nen zu ver­ant­wor­ten­den grau­en­er­re­gen­den Bil­dern stel­len. Hier­zu gibt ei­ni­ge Zi­ta­te aus Au­gen­zeu­gen­be­rich­ten. Hier wur­de der Aus­maß der Ver­bre­chen im wört­li­chen Sinn sicht­bar.

Bei der Bild­aus­wahl kommt ei­nem nicht im­mer glück­lich vor; wie­so zwei Mal Er­nest He­ming­way ab­ge­bil­det ist, er­schließt sich ei­nem nicht. Aber es ist nicht zu­letzt Neu­mahrs un­prä­ten­tiö­ser Ton, der die­ses Buch le­sens­wert macht.