Von Alb­traum­ma­schi­nen

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Giu­lia­no da Em­po­li:
Der Ma­gi­er im Kreml

Der Ma­gi­er im Kreml ist na­tür­lich ein Ro­man, Ge­schrie­ben wur­de er vom italo-schwei­ze­ri­schen Au­tor Giu­lia­no da Em­po­li (Über­set­zung aus dem Fran­zö­si­schen von Mi­chae­la Meß­ner). Die einst ge­bets­müh­len­ar­tig vor­ge­brach­te Er­klä­rung, dass Ähn­lich­kei­ten mit re­al exi­stie­ren­den Per­so­nen rein zu­fäl­lig sei­en, ist im Zeit­al­ter des Do­ku-Dra­mas längst über­holt. Statt­des­sen wird zu Be­ginn dar­auf hin­ge­wie­sen, dass der Ro­man auf wah­ren Be­ge­ben­hei­ten und rea­len Per­so­nen ba­siert, de­nen »ein Pri­vat­le­ben und er­fun­de­ne Äu­ße­run­gen zu­ge­ord­net« wor­den sei­en. Das war, wenn man sich die Welt­li­te­ra­tur an­sieht, ei­ni­ge Jahr­hun­der­te lang nicht un­ge­wöhn­lich. Shake­speare tat es mit Ri­chard III., Schil­ler schrieb Wal­len­stein Tex­te zu, die er nicht wis­sen konn­te und im­mer noch glau­ben Men­schen, dass der Re­vo­lu­tio­när Dan­ton so ge­spro­chen hat, wie man in Ge­org Büch­ners Stück nach­le­sen kann. Die Au­toren konn­ten sich dar­auf ver­las­sen, dass ihr Pu­bli­kum die Fik­tio­na­li­tät in­ner­halb des hi­sto­ri­schen Um­felds ver­stand – und wenn nicht, war es eher be­deu­tungs­los, weil es da­mals kei­ne Hor­den von Schrei­bern gab, die zwi­schen Rea­li­tät und Schrift­stel­le­rei nicht un­ter­schei­den konn­ten.

Der Erz­engel des To­des und sein (fik­ti­ver) Be­ra­ter

Da­mit der Ro­man nicht im Kor­sett der (bis­her weit­ge­hend un­be­kann­ten und da­her eher tri­via­len) Rea­li­tät er­stickt, hat Em­po­li die Haupt­fi­gur Wa­dim Bara­now er­fun­den. Ein nicht nä­her vor­ge­stell­ter Ich-Er­zäh­ler, der sich in Mos­kau auf­hält, der »un­er­gründ­li­chen Haupt­stadt ei­ner neu­en Epo­che«, ist ei­ner­seits fas­zi­niert von die­sem ge­heim­nis­vol­len Bara­now, dem vor ei­ni­ger Zeit de­mis­sio­nier­ten Be­ra­ter des »Za­ren« Wla­di­mir Pu­tin. Und er ist be­ses­sen von Jew­ge­ni Sam­ja­tin, ei­nem rus­si­schen Schiff­bau­in­ge­nieur und Schrift­stel­ler (1884–1937), der in den 1920er Jah­ren den dys­to­pi­schen Ro­man Wir ver­fass­te und da­mit bei Sta­lin in Un­gna­de fiel. Es gibt in Em­po­lis Ro­man, va­ge In­ter­es­sen­ten an ei­ner Neu­auf­la­ge von Wir so­wie ei­ner Ver­fil­mung, was als Ur­sa­che für den Auf­ent­halt ge­nom­men wird. Wann der Ro­man spielt bleibt un­klar; es ist dif­fus vom Ukrai­ne-Krieg in der Ver­gan­gen­heit die Re­de. So recht kommt der Er­zäh­ler nicht vor­an; er pflegt sein Au­ßen­sei­ter­tum ob­wohl (oder ge­ra­de weil?) er als Aus­län­der ei­ner stän­di­gen Über­wa­chung zu un­ter­lie­gen scheint (die Be­glei­ter nennt er »Brief­mar­ken«).

In den so­zia­len Netz­wer­ken ent­deckt er ei­nen ge­wis­sen Ni­co­las Brand­eis. Der Na­me er­in­nert an ei­ne Fi­gur aus ei­nem Jo­seph-Roth-Ro­man und ist vor al­lem das Pseud­onym, un­ter dem Bara­now einst Es­says, Auf­sät­ze und ein Thea­ter­stück ver­öf­fent­licht hat­te. Brand­eis’ Po­stings sind eher sel­ten und meist ge­heim­nis­voll. Ist es Bara­now oder ein­fach nur ir­gend­ein Stu­dent, der das Pseud­onym an­ge­nom­men hat? Als Brand­eis ei­nen Satz aus Wir po­stet, wird er hell­hö­rig. Er ant­wor­tet dem un­be­kann­ten Nut­zer eben­falls mit ei­nem Zi­tat und rasch steht der Re­por­ter in Bara­nows für rus­si­sche Ver­hält­nis­se lu­xu­riö­sen An­we­sen au­ßer­halb von Mos­kau.

Nach kur­zer Be­grü­ßung und Be­wun­de­rung ei­nes Ori­gi­nal-Brie­fes von Sam­ja­tin an Sta­lin folgt ein nur durch ge­le­gent­li­che Fra­gen un­ter­bro­che­ner Mo­no­log Bara­nows, der den Haupt­teil des Bu­ches aus­macht (ab Sei­te 52 hö­ren die Fra­gen auf und die An­füh­rungs­zei­chen ver­schwin­den). Es be­ginnt mit Bara­nows Fa­mi­li­en­ge­schich­te, dem ari­sto­kra­tisch-re­bel­li­schen Groß­va­ter, der ge­nug An­pas­sungs­ver­mö­gen be­saß, um nicht Op­fer von Säu­be­rungs­ak­tio­nen zu wer­den und dem eher ängst­li­chen, im wis­sen­schaft­li­chen Dienst ge­stan­de­nen Va­ter, des­sen Welt nach dem Zu­sam­men­bruch der So­wjet­uni­on bald zu­sam­men­brach, wäh­rend Bara­now in den wil­den Jah­ren der 1990ern ir­gend­wie im ORT, dem größ­ten Fern­seh­sen­der, un­ter­kam und sich um Dunst­kreis ei­nes Mi­cha­el Cho­dor­kow­ski be­weg­te (der ihm die Freun­din Xen­ja ab­spen­stig mach­te). Er kam in Kon­takt mit Bo­ris Be­re­sow­ski, Olig­arch, Be­sit­zer ei­nes Me­di­en-Im­pe­ri­ums und Günst­ling der Jel­zin-Fa­mi­lie, des­sen Idee dar­in be­stand, sich ei­nen leicht in sei­nem Sinn form­ba­ren Nach­fol­ger für den ge­sund­heit­lich an­ge­schla­ge­nen Jel­zin zu su­chen. Er kam auf den da­mals voll­kom­men un­be­kann­ten FSB-Chef Wla­di­mir Pu­tin. Bara­now schil­dert sei­ne er­ste Be­geg­nung mit Pu­tin in Bei­sein von Be­re­sow­ski.

Bara­now hält mit sei­nen Ur­tei­len über die Jel­zin-Jah­re nicht hin­ter dem Berg. Pu­tins Dok­trin decken sich mit sei­nen: Die Zeit der Herr­schaft der »Bü­ro­kra­ten« sei vor­bei – das Volk sehnt sich nach ei­nem star­ken Mann, der ih­nen Si­cher­heit gibt. Im Grun­de war die­se Epo­che kurz nach dem Zu­sam­men­bruch der So­wjet­uni­on nur ei­ne Art Pau­se, nach­dem es in der er­sten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ein »Wett­streit zwi­schen Künst­lern« ge­ge­ben ha­be. Zu den Künst­lern ge­hö­ren für ihn Sta­lin, Hit­ler und Chur­chill.

Es gel­te sich nun wie­der an Sta­lin zu ori­en­tie­ren. Bara­nows The­se: Des­sen Säu­be­rungs­ak­tio­nen wa­ren die Bot­schaft an das Volk, dem blut­rün­sti­gen Dik­ta­tor, dass man sei­ne Sor­gen wahr­nahm. Die Schau­pro­zes­se wa­ren »Hol­ly­wood-Me­ga­pro­duk­tio­nen« um den »Fluß der Wut« zu ka­na­li­sie­ren. Es war ein­fa­cher, ei­nen Ver­ant­wort­li­chen zu er­schie­ßen, als den Sach­ver­halt des Ver­sa­gens von In­sti­tu­tio­nen zu ana­ly­sie­ren und ab­zu­stel­len. Und so wur­de der un­be­kann­te Pu­tin durch sein har­tes Durch­grei­fen im Tsche­tsche­ni­en-Krieg nach dem (ver­meint­li­chen?) Ter­ror-An­schlag in Mos­kau (zwei Wohn­häu­ser wer­den in die Luft ge­sprengt) nicht zu­letzt von Be­re­sow­skis Me­di­en er­folg­reich als Ma­cher in­sze­niert. Er wer­de die Ter­ro­ri­sten auch noch auf der La­tri­ne kalt­ma­chen, so ver­kün­de­te Pu­tin im Herbst 1999. Von nun an ist er für Bara­now der Zar und ein ein­zi­ges Mal wird es pa­the­tisch in die­sem Buch, wenn da­von die Re­de ist, wie sich bin­nen we­ni­ger Au­gen­blicke der »as­ke­ti­schen Funk­tio­när« zum »Erz­engel des To­des« wan­del­te.

Sei­ne Ra­tio­na­li­tät wä­re Pu­tin beim Un­ter­gang der »Kursk« fast zum Ver­häng­nis ge­wor­den. Statt sich öf­fent­lich­keits­wirk­sam als Be­trof­fe­ner zu zei­gen, zog er es vor, in sei­nem Ur­laubs­ort zu ver­wei­len. Be­re­sow­ski war em­pört, sei­ne Me­di­en agi­tier­ten ge­gen den kal­ten Prä­si­den­ten. Als er zu Spen­den für die Hin­ter­blie­be­nen auf­rief, platz­te Pu­tin der Kra­gen. War­um Be­re­sow­ski denn nicht sel­ber sei­ne Cha­lets in der Schweiz ver­schen­ke. Es ist der An­fang von En­de Be­re­sow­skis; man nahm ihm ein­fach sei­nen Fern­seh­sen­der ab, zwang ihn, sei­ne Fir­men un­ter Wert zu ver­kau­fen (es blie­ben den­noch Mil­li­ar­den). Sein Sti­cheln ge­gen Pu­tin ließ er auch im aus­län­di­schen Exil nicht sein. Schließ­lich wur­de er in Lon­don tot auf­ge­fun­den. Die Po­li­zei leg­te sich rasch auf Sui­zid fest. Bara­now ver­mied es, Pu­tin di­rekt auf ei­ne mög­li­che Be­tei­li­gung des FSB an­zu­spre­chen.

Schon vor­her wur­de deut­lich, dass Be­re­sow­ski ge­irrt hat­te. Denn Pu­tin lässt sich nicht for­men – er formt sel­ber. Bara­now wur­de Pu­tins Be­ra­ter; ei­ne eher in­for­mel­le Tä­tig­keit, die ihn nicht vor even­tu­el­len In­tri­gen aus dem Hof­staat, ins­be­son­de­re von Igor Set­schin, den man »Russ­lands Darth Va­der« nennt, schütz­te. Bara­now war klug ge­nug, sei­ne Emo­tio­nen aus­zu­blen­den und sich zu­rück zu neh­men. Er ver­such­te eher, die Re­ak­tio­nen und Hand­lun­gen sei­nes Za­ren zu an­ti­zi­pie­ren. In den grund­sätz­li­che The­men be­han­deln­den Dia­lo­gen mit Pu­tin kam es vor al­lem dar­auf an, an den rich­ti­gen Stel­len nichts zu sa­gen oder mit »Ich glau­be gar nichts, Prä­si­dent« al­les in der Schwe­be zu las­sen.

Die au­ßen­po­li­ti­sche Dok­trin Pu­tins hat Bara­now in­ter­na­li­siert. Es wird das En­de der »Füg­sam­keit« an­ge­sagt. Vor­bei wer­den die Zei­ten der De­mü­ti­gung sein, als ein ame­ri­ka­ni­scher Prä­si­dent bei der Re­de des rus­si­schen Prä­si­den­ten in ei­nen nicht en­den wol­len­den Lach­an­fall ver­fällt oder sich im ame­ri­ka­ni­schen Fern­se­hen von ei­nem Mann in Ho­sen­trä­gern be­fra­gen las­sen muss. Hin­ter der mar­kan­ten Rhe­to­rik zei­gen sich al­ler­dings mas­si­ve Min­der­wer­tig­keits­kom­ple­xe, et­wa wenn Clin­tons Fra­ge, wie es Jel­zin ge­he, von Pu­tin schon als Be­lei­di­gung auf­ge­fasst wird. Im­mer wie­der be­tont Pu­tin die Grö­ße der Na­ti­on. Die Rus­sen sei­nen näm­lich, so wird er zi­tiert, 1991 nicht be­siegt wor­den, son­dern sie hät­ten sich ei­ner Dik­ta­tur ent­le­digt. Nicht der We­sten ha­be die Mau­er zum Ein­sturz ge­bracht und den War­schau­er Pakt auf­ge­löst, son­dern Russ­land. Bara­nows Ver­ach­tung für den We­sten ist in­tel­lek­tu­el­ler und wird in manch­mal schnei­den­den Al­le­go­rien aus­ge­drückt. Manch­mal schießt Em­po­li aber auch über das Ziel hin­aus, bei­spiels­wei­se als er die Sze­ne mit der La­bra­dor-Hün­din Ko­ni, die um die ängst­li­che Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel um­her streift und um Zu­nei­gung bit­tet, als neue Vol­te der Au­ßen­po­li­tik aus­gibt.

Pu­tin strebt »Ord­nung im In­ne­ren und Macht nach au­ßen« an. Er möch­te ge­fürch­tet wer­den; Ver­bre­chen und Grau­sam­keit als Ba­sis – so be­zeich­ne­te einst Ma­chia­vel­li die­se Herr­schafts­form. Ge­walt sei das »Herz« des rus­si­schen Staa­tes. Pu­tins Alb­traum sei es, wenn bei ei­ner Re­vo­lu­ti­on die Trup­pen ge­gen ihn auf­be­geh­ren wür­den, statt ge­gen die Re­vo­lu­tio­nä­re. Da­mit es nicht da­zu kommt, muss die Be­völ­ke­rung in den Zu­stand der stän­di­gen Un­ge­wiss­heit ver­setzt wer­den, ei­ne »stän­di­ge Alarm­be­reit­schaft«, die nie­man­den in Si­cher­heit wähnt vor dem Zu­griff des Ap­pa­ra­tes. Ein star­ker Herr­scher müs­se Loya­li­tät von »den Star­ken« er­lan­gen, nicht von den »Mit­tel­mä­ssi­gen und Schwa­chen«; die­se müss­ten den Staat fürch­ten. Bara­now wie Pu­tin se­hen die Loya­li­tät zum Bei­spiel da­hin­ge­hend er­reicht, wenn Olig­ar­chen sich aus po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen her­aus­hal­ten. Zwar ist Bara­now schockiert ist, wie sein ehe­ma­li­ger Freund Cho­dor­kow­ski in Hand­schel­len und in ei­nem Kä­fig im Fern­se­hen vor­ge­führt wird. Un­vor­stell­bar, dass im We­sten ein Mur­doch oder Zucker­berg in Hand­schel­len ab­ge­führt wür­de, so Bara­now süf­fi­sant. Aber es sei der Be­leg da­für, dass in Russ­land nicht Geld re­gie­re, so stellt er fast tri­um­phie­rend fest, son­dern der Wunsch, »Teil von et­was Ein­zig­ar­ti­gem« zu sein.

Das Vor­bild Wla­dis­law Sur­kow

Spä­te­stens hier muss auf das ver­mut­li­che Vor­bild für die Fi­gur Bara­now ein­ge­gan­gen wer­den. Es dürf­te sich um Wla­dis­law Sur­kow han­deln, der tat­säch­lich für ei­ni­ge Zeit als Be­ra­ter Pu­tins fun­gier­te. Es gibt zwei In­di­zi­en, die da­für spre­chen. Zum ei­nen be­schreibt die Jour­na­li­stin Ca­the­ri­ne Bel­ton Sur­kow in ih­rem Buch Pu­tins Netz als »kin­der­ge­sich­tig«. Und im Ma­gi­er im Kreml ist auf Sei­te 9 vom »kind­li­chen Ge­sicht« die Re­de. In Bel­tons Schur­ken­ka­ta­log ist von Sur­kow al­ler­dings nur drei Mal und ziem­lich kurz die Re­de und zwar stets in Ver­bin­dung mit Alex­an­der Wo­lo­schin, der lan­ge Zeit Stabs­chef des Kreml war und da­mit Sur­kows Vor­ge­setz­ter. Für Sur­kow als Vor­bild spricht zu­dem, dass die­ser auch wie der fik­ti­ve Bara­now un­ter ei­nem Pseud­onym schrift­stel­le­risch tä­tig war. So wird ihm der 2009 er­schie­ne­ne Ro­man Na­he Null zu­ge­schrie­ben, der ein Jahr spä­ter über­setzt von Gan­na-Ma­ria Braun­gardt im Ber­lin-Ver­lag auf Deutsch mit dem Au­toren­na­men »Na­tan Du­bo­wiz­ki« er­schie­nen war (und in­zwi­schen spur­los aus al­len An­ti­qua­ria­ten ver­schwun­den zu sein scheint). Sur­kow soll den Ro­man so­gar sel­ber re­zen­siert und ge­lobt ha­ben.

Der Schrift­stel­ler Vik­tor Jero­fe­jew, der Sur­kow für den Au­tor von Na­he Null hält, nann­te ihn den »Chef­ideo­lo­gen« des Kreml. Für den bri­ti­schen Jour­na­li­sten Pe­ter Po­me­rants­ev, der so­li­de Kennt­nis­se über Sur­kow hat, die auch bei Em­po­li Ver­wen­dung fin­den, war er Pu­tins »Ras­pu­tin« und der »graue Kar­di­nal« im Kreml. (Zu Be­ginn wird auf ei­ne Lek­tü­re von Kar­di­nal de Retz’ Me­moi­ren hin­ge­wie­sen.) Ganz »grau« war Sur­kow al­ler­dings nicht bzw. nicht im­mer. So gab er 2005 dem Spie­gel ein In­ter­view (die nichts­sa­gen­den Fra­gen sind al­ler­dings kein Ruh­mes­blatt für das Nach­rich­ten­ma­ga­zin; man mag sich nach­träg­lich Sur­kows Amü­se­ment vor­stel­len). Im Ro­man wird Bara­now von Gar­ri Kas­pa­row als »Ma­gi­er« apo­stro­phiert. Er sel­ber be­zeich­net sich als »Hand­lan­ger«, der im Ru­he­stand sei. An grif­fi­gen Zu­schrei­bun­gen fehlt es al­so nicht.

Die Kom­po­si­ti­on zählt

Bara­nows Zy­nis­mus steht im Ro­man von Em­po­li für sich al­lei­ne – und sorgt da­mit für schau­ri­ge Un­ter­hal­tung. Er be­kommt »ei­ne Büh­ne«. Der Jour­na­list im Buch macht das, was schwer fällt: er hört zu. Giu­lia­no da Em­po­li wi­der­steht nicht nur der Ver­su­chung, Pu­tin bzw. sei­ne Haupt­fi­gur zu dä­mo­ni­sie­ren, son­dern er un­ter­lässt auch ei­ne un­mit­tel­ba­re mo­ra­li­sche Wi­der­re­de. Auch bleibt man von Vor­her­sa­gen jeg­li­cher Art ver­schont. Im Ge­gen­satz zu so vie­len pa­ter­na­li­stisch auf­trump­fen­den »Ex­per­ten« ge­nießt hier der Le­ser das Ver­trau­en. Man kann (und wird) die Wi­der­sprü­che in Bara­nows kru­den Ein­schät­zun­gen sel­ber ent­decken müs­sen.

Zwar sind die hier aus­ge­brei­te­ten Fak­ten, die Pu­tins Welt­sicht be­schrei­ben, hin­läng­lich be­kannt. Aber es geht in die­sem Ro­man um das kom­po­si­to­ri­sche Ar­ran­ge­ment, um Bün­de­lung. Die wah­re Haupt­fi­gur in die­sem Buch ist Pu­tin. Man­che Be­schrei­bun­gen sind ein biss­chen dif­fus, et­wa wenn von Pu­tins Ge­sicht mit »mi­ne­ra­li­schen Här­te« die Re­de ist. Man­ches ver­stört, et­wa die Aus­sa­ge Bara­nows an ei­nen rus­si­schen Söld­ner im Don­bass, dass es bei krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen nicht um den voll­stän­di­gen Er­folg, den Sieg, ge­he. Die Er­obe­rung dür­fe nicht end­gül­tig sein, son­dern es sei »nur« ein be­stimm­tes Cha­os-Le­vel an­zu­stre­ben. Dies lässt in Ver­bin­dung mit dem ak­tu­el­len Ukrai­ne-Krieg nichts Gu­tes er­war­ten. Zu­wei­len ver­gisst man, dass die­ser Mann im Kreml re­al ist und nicht nur ei­ne Ro­man­fi­gur.

Das Buch hat al­ler­dings auch Schwä­chen. Dra­ma­tur­gisch mag es un­er­läss­lich sein, der Haupt­per­son ei­ne Fa­mi­li­en­ge­schich­te zu­zu­wei­sen. Hier nimmt sich Em­po­li hin­sicht­lich des mög­li­chen Vor­bilds gro­ße Frei­hei­ten, und schmückt mit sei­ner Groß­va­ter­ge­schich­te die Sta­lin-Zeit aus. Aber die Er­zäh­lung rund um von Xen­ja, der gro­ßen Lie­be Bara­nows, die zu­nächst mit Cho­dor­kow­ski geht und spä­ter dann den Be­ra­ter des Za­ren lie­ben lernt, wirkt eher auf­ge­setzt. Bara­nows Me­lan­cho­lie, nicht mehr nach Schwe­den rei­sen zu kön­nen, weil er auf der Sank­ti­ons­li­ste der EU steht, kommt ähn­lich der neu­en Fi­xie­rung auf das Fa­mi­li­en­le­ben, auf sei­ne fünf­jäh­ri­ge Toch­ter An­ja, ein biss­chen höl­zern da­her.

Jewgenij Samjatin: Wir

Jew­ge­nij Sam­ja­tin: Wir

Jew­ge­ni Sam­ja­tins Wir

Bes­ser wä­re es ge­we­sen, der Ro­man hät­te nach Ka­pi­tel 30 ge­en­det, wel­ches mit der »Alb­traum­ma­schi­ne« des We­stens – Russ­land – be­ginnt. Dort be­schwört Bara­now ge­gen En­de rau­nend die kom­men­de Herr­schaft der Ma­schi­nen über den Men­schen. Da­mit wird der Bo­gen zu Sam­ja­tins Wir ge­spannt. Je­wje­ni Sam­ja­tin, der zu­nächst mit der Re­vo­lu­ti­on sym­pa­thi­sier­te, war Schiff­bau­in­ge­nieur und spiel­te auch im li­te­ra­ri­schen Le­ben Mos­kaus ei­ne Rol­le. 1920 ver­fass­te er Wir. Der Ro­man wur­de als »kon­ter­re­ak­tio­när« ein­ge­stuft und ist nie­mals in der So­wjet­uni­on er­schie­nen. Be­kannt wur­de er im Aus­land durch zahl­rei­che Über­set­zun­gen. Nur knapp ent­kam der Au­tor dem Straf­la­ger; der Brief an Sta­lin, mit dem er den Dik­ta­tor mil­de stimm­te und nach Eu­ro­pa aus­rei­sen durf­te, wird im Ma­gi­er im Kreml aus­schnitt­wei­se zi­tiert.

Haupt­fi­gur in Wir ist der 32jährige »D‑503«, der im »Ein­zi­gen Staat« lebt. Er ist der Kon­struk­teur des »In­te­gral«; ei­ner Art Welt­raum­ra­ke­te, die das Pre­sti­ge­ob­jekt des Staa­tes zu sein scheint. Sein Den­ken ist wie die Staats­rä­son rein ra­tio­nal ge­prägt. Emo­tio­nen wer­den als über­flüs­sig und min­der­wer­tig be­trach­tet. Es ist ein Über­wa­chungs­staat par ex­cel­lence. Der Tag ist ge­tak­tet; es gibt fe­ste Auf­steh- und Schlaf­zei­ten. Wenn man nachts nicht schläft, ist dies ein Ver­bre­chen. Es gibt Pflicht­spa­zier­gän­ge, fest­ge­leg­te Es­sens­zei­ten für die »Naph­tha-Nah­rung«, die mit vor­ge­schrie­be­nen 50 Kau­be­we­gun­gen für je­den Bis­sen zu ver­zeh­ren ist. Man lebt glä­sern selbst in den zwei pri­va­ten Stun­den pro Tag. Nur mit ro­sa Bil­letts, an den »Ge­schlechts­ta­gen«, dür­fen Vor­hän­ge her­un­ter­ge­las­sen wer­den, wo­bei die »blin­de Lust« ver­pönt ist; es gilt die »Lex se­xua­lis«. Tref­fen mit an­de­ren Per­so­nen wer­den mit Abon­ne­ments ge­bucht, die na­tür­lich eben­falls kon­trol­liert wer­den. So­gar Ge­sprä­che auf der Stra­ße kön­nen mit spe­zi­el­len Mem­bra­nen ab­ge­hört wer­den. Brie­fe wer­den vor der Zu­stel­lung ge­le­sen. Poe­sie hat dem »Nütz­li­chen« zu die­nen; an­de­re Li­te­ra­tur wird als schäd­lich be­trach­tet. Im Staat gibt es kei­ne Tie­re, Bäu­me oder Pflan­zen. Sie gel­ten als »un­ver­nünf­tig« und häss­lich; die­se Welt, die wir »Na­tur« nen­nen, be­fin­det sich jen­seits der omi­nö­sen »Grü­nen Mau­er«. Dort sol­len noch Men­schen le­ben, wäh­rend im Ein­zi­gen Staat al­le Be­woh­ner num­me­riert sind. Statt der zehn Ge­bo­te wer­den die Ge­set­ze des Staa­tes ge­lehrt. Die Wahl des »Wohl­tä­ters« (es ist die 48. Wie­der­wahl) wird per Ak­kla­ma­ti­on im Sta­di­on, ei­ner »ge­wal­ti­gen Scha­le der Ein­stim­mig­keit«, durch­ge­führt.

Wie meist in sol­chen Dys­to­pien, ten­die­ren ei­ni­ge Fi­gu­ren zum Aus­bruch aus die­sen Struk­tu­ren. So lernt D‑503 ei­ne Frau, I‑330, ken­nen. Sie ver­wirrt ihn und ge­gen al­le Ver­nunft ver­liebt er sich in sie (sei­ne rein se­xu­el­le Af­fä­re mit ei­ner an­de­ren Frau, die er pflicht­schul­digst schwän­gert, wird ihm lä­stig). Der Be­fund, der dem Ma­the­ma­ti­ker, der die Wis­sen­schaft im Dienst des Staa­tes stel­len will, über­mit­telt wird, kommt ei­ner Ka­ta­stro­phe gleich: »Bei Ih­nen hat sich of­fen­bar ei­ne See­le ge­bil­det.« Hin­zu kommt, dass I‑330 ei­ne Ver­tre­te­rin der »Me­phi« ist, ei­ner re­vo­lu­tio­nä­ren Wi­der­stands­be­we­gung, die im­mer mehr Zu­lauf er­hält. Das Re­gime er­kennt, dass sich die »Krank­heit der Phan­ta­sie« ge­bil­det hat. In gro­ßen Pro­pa­gan­da­ak­tio­nen wird ver­kün­det, dass man mit­tels ei­ner klei­nen Ope­ra­ti­on im Ge­hirn den für die Phan­ta­sie zu­stän­di­gen Be­reich zer­stö­ren kann und da­nach das ge­wohn­te, pa­ra­die­si­sche Le­ben wei­ter­geht. Mas­sen lau­fen mit dem Be­kennt­nis »Wir sind ope­riert!« durch die Stra­ßen. D‑503 ist ver­zwei­felt. Ei­ner­seits will er sein bis­her so sta­bi­les Welt­bild er­hal­ten, an­de­rer­seits liebt er I‑330. Als er zu er­ken­nen glaubt, dass man ihn nur als Kon­struk­teur des »In­te­gral« ge­braucht hat, lässt er sich ope­rie­ren und tri­um­phiert mit dem ver­meint­li­chen Sieg der Ver­nunft, wäh­rend die Ab­trün­ni­ge un­ter der »Gas­glocke« ge­fol­tert wird – und ver­mut­lich stirbt.

Wir ist als ei­ne Art Ta­ge­buch ver­fasst. D‑503 wen­det sich in ins­ge­samt 40 Ein­tra­gun­gen of­fen­siv an ima­gi­nä­re Le­ser. Die Ein­tra­gun­gen sind in ex­pres­sio­ni­sti­schem Duk­tus ver­fasst. Nicht im­mer ist ein­deu­tig, was Traum und was Rea­li­tät ist. Zu­dem wi­der­spricht sich die Fi­gur, was ver­mut­lich be­ab­sich­tigt ist, und be­wusst ei­ne Iden­ti­fi­ka­ti­on er­schwert. In der Aus­ga­be, die mir vor­liegt (Ki­Wi Pa­per­back, 1958 und 1984, 10. Auf­la­ge 2008; Über­set­zung von Gi­se­la Droh­la), ist ein Nach­wort des Jour­na­li­sten und Fil­me­ma­chers Jür­gen Rüh­le (1924–1986) zu fin­den. Er weist zu­recht auf Par­al­le­len zu H. G. Wells hin und er­klärt Ver­wandt­schaft und Un­ter­schie­de zu Hux­leys Schö­ne Neue Welt und Or­wells 1984 (zwölf bzw. vier­und­zwan­zig Jah­re spä­ter ent­stan­den). So­mit wä­re Wir der Ur­sprung der gro­ßen Dys­to­pien des 20. Jahr­hun­derts, wo­bei zu­min­dest Or­well nach­weis­lich Kennt­nis von Sam­ja­tins Ro­man hat­te. Die Ein­schät­zung, dass es sich um ei­ne »op­ti­mi­sti­sche Tra­gö­die« han­delt, kann ich in An­be­tracht des Aus­gangs nicht nach­voll­zie­hen. Zu­mal dem »Ein­zi­gen Staat« ein na­he­zu apo­ka­lyp­ti­scher, 200jähriger Ver­nich­tungs­krieg vor­aus­ge­gan­gen sein muss. Als des­sen Re­sul­tat hät­ten nur 0,2% der Be­völ­ke­rung über­lebt.

Der Ro­man be­kommt durch die ste­tig wach­sen­de Be­deu­tung di­gi­ta­li­sier­ter Me­di­en ei­ne neue, zu­sätz­li­che Bri­sanz. Em­po­li möch­te Sur­kows Ma­xi­me von der »sou­ve­rä­nen De­mo­kra­tie« mit Sam­ja­tins Ro­man als »letz­te Waf­fe ge­gen den di­gi­ta­len Bie­nen­stock« ver­knüp­fen. Der Dich­ter ha­be, so der Er­zäh­ler im Ma­gi­er, »ein Jahr­hun­dert über­sprun­gen und sich di­rekt an un­se­re Zeit ge­wandt«. Tat­säch­lich kann man hier und da ei­ni­ge Im­pe­ra­ti­ve des »Ein­zi­gen Staa­tes« be­reits ver­wirk­licht se­hen. Da­mit sind nicht nur die gän­gi­gen Dik­ta­tu­ren (ins­be­son­de­re Chi­na und Nord­ko­rea) ge­meint. Die Stel­le, in der die Kam­pa­gne für die Ge­hirn-Ope­ra­ti­on zwecks Ent­fer­nung der »Phan­ta­sie« aus­ge­führt wird, zeigt ver­blüf­fen­de Par­al­le­len zur (deut­schen) Hy­ste­rie um die Co­vid-Imp­fung 2021. Das Den­ken von D‑503 ist ge­ra­de­zu ein Mo­dell für die zeit­ge­nös­si­sche »Follow-The-Science«-Forderung, die in­zwi­schen häu­fig po­li­tisch be­ein­flusst ist. Auch die Ge­fah­ren ge­gen­wär­ti­ger pro­gres­siv-iden­ti­tä­rer Be­we­gun­gen er­schei­nen am Ho­ri­zont, wenn es heißt »Ori­gi­na­li­tät zer­stört Gleich­heit« und die Kon­se­quenz dann eben aus der Be­sei­ti­gung von In­di­vi­dua­li­tät be­steht. Oder wenn vom »Ata­vis­mus« der »Ver­schie­den­heit« von Na­sen als »Grund zum Neid« die Re­de ist, was zu ei­ner ab­stru­sen Auf­ga­ben­for­mu­lie­rung führt, in der Zu­kunft für ein­heit­li­che Na­sen zu sor­gen. Die Quint­essenz ei­nes om­ni­prä­sen­ten, »für­sorg­li­chen« Staa­tes wird in der Recht­fer­ti­gung »Ist die Frei­heit des Men­schen gleich Null, be­geht er kei­ne Ver­bre­chen« zu­sam­men­ge­fasst. Die Zu­stim­mung zu die­ser Aus­sa­ge fin­det sich merk­wür­di­ger­wei­se auch im­mer mehr in de­mo­kra­tisch ver­fass­ten Ge­sell­schaf­ten.

Ne­ben ei­nem un­ter­halt­sam-gru­se­li­gen Ro­man über das Sy­stem Pu­tin ge­bührt Giu­lia­no da Em­po­li vor al­lem Dank, auf Sam­ja­tins Wir hin­ge­wie­sen zu ha­ben.