Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll über die neue Langsamkeit, zu der ich im wirklichen Leben seit einigen Monaten gezwungen bin, oder ob ich wütend sein soll über meinen Körper, der bei dem manchmal doch gewünschten Tempo nicht mitmacht. Besonders bei Steigungen, und noch mehr, wenn Treppen zu überwinden sind. Immerhin, ich habe es bis hierher geschafft, ein kleiner Aufstieg zu den Anhöhen über dem Tal von Arashiyama, wo tief unten der grüne Fluß fließt und sich selten ein Tourist blicken läßt. Den berühmten Bambushain auf der anderen Seite habe ich gemieden – sollen sie sich dort drängen. Dieser Hain mit seinen hohen und schlanken, zum Spitzbogen zusammenlaufenden Bäumen ist schön, aber viel zu klein für solche Menschenmassen: die millionenfach verbreiteten Fotos verraten das Mißverhältnis nicht. Hier oben bin ich vor einem Jahr gewesen, am 2. Jänner, es war genauso warm wie heute, gutes Schreibwetter, und habe Faulkner gelesen, ich sagte es schon. Damals bin ich noch ein gutes Stück weiter bergaufwärts gelaufen, aber nachdem ich mehrmals Wildschweine in meiner Nähe grunzen hörte, machte ich kehrt. Die Gegend hier spielt in Junichiro Tanizakis Roman Sasameyuki eine Rolle, Die Schwestern Makioka (die deutsche Übersetzung ist nicht gut und schon lange vergriffen); der schön klingende japanische Titel bedeutet »leichter Schneefall« (den es im Winter in Kyoto manchmal gibt). Die Familie Makioka, vier Schwestern, glaube ich mich zu erinnern, verbringt einen Sonntag bei der Kirschblütenschau, mit Flanieren und Speisen und Trinken und Sich-der-Welt-und-des-Lebens-Erfreuen. Unten bei der langen Brücke, wo der Fluß ziemlich in die Breite geht und viel weißes Geröll in seinem Bett zu sehen ist. Tanizaki habe ich – neben Mishima – bei meiner Aufzählung der Autoren, die den Wunsch in mir weckten, alles von ihnen zu lesen, vergessen. Unerfüllbarer Wunsch; zwar habe ich die zweibändige französische Ausgabe seiner Werke in meinem Regal stehen, die viel mehr enthält als das, was auf deutsch von Tanizaki vorliegt, aber immer noch viel weniger als das, was er in einem langen Schreiberleben geschaffen hat. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe nicht einmal die Pléiade-Ausgabe zur Gänze geschafft; man kann nicht alles bewältigen, ist mehr und mehr zum Auswählen gezwungen. Der Blick auf Tanizakis Werk ist im deutschen Sprachraum durch den Erfolg seines schmalen Essays Lob des Schattens verstellt, der immer wieder zitiert wird von Leuten, die zeigen wollen, daß sie die »Essenz der typisch japanischen Ästhetik« (oder so) verstanden haben.
Ein in die (Wechsel)Jahre gekommener, in Berlin lebender Soziologe fährt mit seinem siebenjährigen (namenlos bleibenden) Sohn über die Serpentinen der Schwäbischen Alb, die Stätten seiner Kindheit und seine (zumeist ehemaligen) Freunde besuchend. Von M., der Mutter des »Jungen«, einer erfolgreichen Anwältin, lebt er längst getrennt. Der Grund für die Reise bleibt unklar. Will er mit seinem Sohn eine abenteuerliche Zeit in Wäldern, Höhlen und Museen verbringen? Oder dient sie als Grundlage zum Aufpolieren des virulenten Familien- und Selbsthasses?
Die Antwort ist schnell gefunden. Vater, Großvater und Urgroßvater des ebenfalls anonym bleibenden Ich-Erzählers (er gibt bei der Anmeldung einen falschen Namen an) haben sich umgebracht. Die Väterfrauen waren nun »Selbstmörderwitwen«, die schließlich irgendwann dement wurden (was ihn durchaus amüsiert). Dem Jungen hat er von dieser Selbstmordkette nichts erzählt. Der weiß auch nicht, dass es nicht normal ist, wenn der Vater schon morgens mit dem Biertrinken beginnt (und es erbrechen muss wenn er nichts im Magen hat). Der Junge ist just in dem Alter, in dem der Erzähler damals den erhängten Vater gefunden hatte. Und es wird durchaus furchtbares überlegt. Zum einen, es dem Vater gleich zu tun. Aber dies würde bedeuten, das Kind im Stich zu lassen, also genau das, was er heute, Jahrzehnte später, unter anderem immer noch seinem Vater vorwirft. Da dies eigentlich nicht infrage kommt, erwägt er noch die Möglichkeit, das Kind umzubringen. Danach wäre dann der Weg frei.
Das ist ungefähr die Stimmung in Bov Bjergs »Serpentinen«, einer Road-Novel, die immer wieder von Rückblenden, Assoziationen und Verwünschungen aus Kindheit und Schulzeit des Protagonisten unterbrochen wird. Er erinnert sich an Freunde, an Rolf, der eine Bombe gegen seinen prügelnden Vater entwickelte, an den längst verstorbenen Frieder, den »Augenstaubsauger«, mit dem er einst die Kunst in den Museen ergründete, an eine Veronika, die immer »verarscht« wurde (die es dann aber zur Hotelbesitzerin gebracht hat), an seine Mutter, die mit Putzarbeiten den Laden zusammenhielt (daher hat er ein schlechtes Gewissen, selber eine Putzfrau zu beschäftigen) und an den Bruder, der sich wiederum an alles ganz anders erinnert als er selber. In Verbindung gesetzt wird dies mit der Beziehung zu M., der Hass auf seinen (und auch M.s) Beruf, den Universitätsbetrieb, die Reflexionen über all die Nazis in der Familie und die Nazi-Kontinuität in der deutschen Gesellschaft. »Gas geben« erinnert ihn an KZ. Ein Fluß ist ein »Faschismusbächlein«. Und selbst bei marmorierten Fliesen denkt er an »Weltkrieg, Völkermord, Wirtschaftswunder«.
»Zu Hitler fällt mir nichts ein«, schrieb Karl Kraus 1933 und sagte dann doch einiges über ihn.
»Zu Donald Trump fällt mir nichts ein«, denke ich manchmal, und mein Über-Ich, das wie immer recht hat, wendet ein, Trump sei nicht Hitler, und dann will mir wirklich nichts einfallen. Ich glaube nicht, daß ich, hätte ich die Möglichkeit, mich mit diesem Mann an einen Kaffeehaustisch setzen würde. Da verstehe ich Greta Thunberg gut. Der Mann redet ja nur über sich, zu sich und zu allen.
2
Zum Typus, der im Exemplar Gestalt angenommen hat, fällt mir aber doch etwas ein. Er interessiert mich, der Typus, weil ich überzeugt bin, daß der DT, der director técnico, wie man in hispanischen Ländern Fußballtrainer nennt, der beste Repräsentant jenes Menschenbilds ist, das der Neoliberalismus im Zuge der totalen Ökonomisierung der Gesellschaft ohne großes Hallo, vielmehr als »Selbstverständlichkeit«, verbreitet und eingewurzelt hat. DT, der Idealtypus: egoistisch, selbstdarstellerisch, mediensüchtig, ungebildet, laut, vulgär, stets den persönlichen Gewinn, d. h. seine Kohle im Sinn. Irgendwo, irgendwann, es ist Jahre her, gab es mal eine Diskussion, ob ein Land seine politischen Führer verdient habe oder nicht. Man sagt es nicht gern, niemand hört es gern, aber ich glaube wohl, daß es da eine Widerspiegelung gibt, auch wenn sie verzerrt und mißbraucht werden kann. Allerdings ist das eine Wechselwirkung, keine Einbahnwiderspiegelung, die Präsidenten und Kanzler spiegeln zurück, sie bestärken und beeinflussen die Masse und gebrauchen sie mittels der Mittler, also der Medien, und zwar so direkt wie möglich, ohne Journalisten als Dämpfer dazwischen: Mittler Twitter.
Hans Magnus Enzensberger: Fallobst – Nur ein Notizbuch
Fallobst gehört, wie man nachlesen kann, zur Kategorie »Wirtschaftsobst«. Damit wird Obst bezeichnet, welches als Tafelobst »nicht geeignet«, aber dennoch und zur weiteren Verarbeitung oder Zubereitung vorgesehen ist (wie z. B. als Most). Wenn jemand wie Hans Magnus Enzensberger seine Notatensammlung als »Fallobst« bezeichnet, ist das ein wenig eitel. Was durch den Untertitel »Nur ein Notizbuch« fortgesetzt wird.
Es ist ein umfangreiches Notizbuch mit mehr als 360 Seiten, bisweilen aufgelockert von Illustrationen des 2011 verstorbenen Bernd Bexte, dem Enzensberger am Schluß eine kleine Hommage widmet. Die einzelnen Notate sind nicht datiert; mit etwas detektivischem Gespür lässt sich der Zeitraum irgendwo zwischen 2012 und 2018 verorten. Die Unterteilung in drei »Körbe« (der erste umfasst dabei fast 300 Seiten) wirkt etwas mysteriös. Gegen Ende werden die Notizen etwas ausführlicher.
Besonders zu Beginn gibt es sehr viele Zitate. Der Grundton der eigenen Notate ist heiter und launig. Da sind etymologische Sprachspiele, die bisweilen in Listen münden. Beispielsweise über »Suchtgefahren« – d. h. Hauptwörter, die mit »-sucht« ergänzt werden können, oder auch »Lüste« auf »-lust«. Oder Suche nach Wörtern, die etwas mit »Spitzen-« zu tun haben. Aufgaben, die man Gymnasiasten stellen könnte. Hübsch diese kurze Abhandlung über die Kunst des »Schwurbelns«. Und es gibt sogar eine Aufzählung von besonders »gelungenen« Schlagerreimen. Begriffe wie »Hoheit«, »salopp« oder auch das inzwischen inflationär verwendete »gut aufgestellt« werden aufgespießt (er würdigt en passant die Journalistin Gabriele Göttle für ihr Sprachgefühl).
Warum eigentlich habe ich in meiner neuen, freieren Epoche als Leser begonnen, mich Faulkner anzunähern? Ich kann kaum sagen, daß ich ihn »wiederlese«, weil ich ihn zwar seit meinen zwanziger Jahren hochhalte, d. h. seit den Jahren um 1980, als er einigermaßen aus der Mode gekommen war, er mir aber von Gerd-Peter Eigner ans Herz gelegt wurde, der sich zwanzig Jahre früher literarisch gebildet (»formiert«) hatte, als Faulkner, der Nobelpreis lag ein knappes Jahrzehnt zurück, noch in Mode war. So geht der Stafettenstab über die Generationen. Wirklich gelesen habe ich Faulkner damals aber nicht, nur eine alte, außen hellblaue Taschenbuchausgabe von Absalom! Absalom! gekauft und oft einmal aufgeblättert, die erste Übersetzung ins Deutsche, die, glaube ich, in den dreißiger Jahren angefertigt worden war. Später ist mir der Einfluß Faulkners auf den ganz frühen Handke aufgefallen, und wieder später habe ich gemerkt, wie stark der nordamerikanische Südstaatenautor auf die Romanliteratur Lateinamerikas wirkte, von Juan Carlos Onetti über García Márquez und Vargas Llosa bis hin zu Ricardo Piglia. Es gibt tatsächlich so etwas wie eine amerikanische Literatur, Norden und Süden umfassend, und zwar jenseits ideologischer Konzeptionen, wie sie Pablo Neruda vertrat, zu erschließen allein aus der Literatur selbst, aus den Texten, Perspektivsetzungen, Wahrnehmungsweisen, Erzählformen. Einen derart einflußreichen Autor wollte ich nun doch einmal in aller Freiheit, ohne kontextuelle Zwänge, kennenlernen. Die Qualität literarischer Werke läßt sich nicht aus ihrem Publikumserfolg mutmaßen, eher schon aus der Intensität und – eventuell – Extensität, mit der sie von nachfolgenden Autoren aufgenommen wurden. »Ecrivain pour ecrivains«, für mich bedeutet diese unterschiedlich gebrauchte, oft pejorative Charakterisierung keine Abwertung, im Gegenteil. Ich habe sogar, der Name des Verfassers ist mir entfallen, eine Biographie über Faulkner gelesen1; »sogar« ist vielleicht das falsche Wort, weil ich Schriftstellerbiographien mit größter Neugier zu lesen pflege; ja, ich muß sogar gestehen – »sogar« ist hier am Platz –, daß mir die Biographie fast mehr gesagt hat, mich mehr eingenommen hat für diesen Romancier, der lange seinen Weg nicht und noch länger keinen Erfolg fand, als die einzelnen Romane und Erzählungen (ausgenommen vielleicht Als ich im Sterben lag).
»Alma war ein ungeduldiges Kind, das nicht verlieren konnte, bei Brettspielen betrog, lieber schrie, als schwieg, die Hände oft zu Fäusten ballte, die auch im Schlaf selten aufgingen.« Das ist der erste Satz von Valerie Fritschs Roman mit dem seltsam anmutenden Titel »Herzklappen von Johnson und Johnson« (und einem noch seltsameren, ehrlich gesagt: hässlichen Cover). ...
Ich könnte die »Neuerscheinungen« und die Namen ihrer Verfasser erwähnen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, weil sie mir mehr oder minder zufällig zwischen die Hände gekommen sind, und die ich widerwillig zu Ende gelesen oder vorzeitig weggelegt habe, aber ich werde es nicht tun. Vielen dieser Autoren kann man die Veröffentlichung nachsehen, vielleicht allen, auch mir selbst. So eingespannt in den Betrieb und/oder in das eigene Werk (wenn man sich einspannen läßt), produziert man zu viel. Oder aus anderen Gründen, sogar aus innerer Notwendigkeit, dennoch zu viel. Ich werde keinen dieser Namen nennen, außer vielleicht den einer Autorin, deren Bücher ich schätze und die fern von wo lebt, von Deutschland Bayern Österreich (wo ich nicht lebe) und diese Notizen nicht lesen wird (aber ihr Lektor, ihr Verleger?), Hiromi Kawakami, ihr letztes Buch in der Übersetzung der von mir ebenfalls sehr geschätzten Ursula Gräfe hatte ich nach meinem neuen Freiheitsprinzip in einer kleinen Buchhandlung in Frankfurt am Main gekauft und noch vor der Hälfte des Ganzen weggelegt, irgendwo im öffentlichen Raum zurückgelassen, vielleicht kann wer anderer was damit anfangen, ich nicht; vielmehr war ich genervt von dieser Art von Leichtigkeit, Literatur light, Geheimnistuerei, Belanglosigkeit, aber egal, ich darf mir das jetzt erlauben, meine Genervtheit und sie auszudrücken, ich unterliege keinen Zwängen (mehr), auch Fehlkäufe darf ich mir erlauben, die geschehen bei jeder Art von Produkten; also keine Namen, sagte ich, denn ich will und muß keine Feindschaften auf mich ziehen, jedenfalls nicht mutwillig, nicht ohne Notwendigkeit. Es gibt Autoren, die ich als – sei es private, sei es öffentliche – Personen schätze oder schlicht und einfach mag, oder die ich respektiere, mit deren künstlerischen Erzeugnissen ich aber nichts anfangen kann. Wie damit umgehen? Eine schwierige und interessante Frage, die man, wenn überhaupt, nur von Fall zu Fall wird beantworten können, und die einen unweigerlich in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Auch das Umgekehrte kommt übrigens vor, unangenehmer Autor, ungute Person, großartiges Werk.
Ich lese über Dora – von Dora, möchte ich sagen, wie man von jemandem hört und nicht über ihn (»hast du etwas von ihm/ihr gehört?«) – in einem Café namens Cascade (Kaskade, Wasserfall), das ich vor fünfzehn Jahren oft besuchte, als ich hier im Hankyu-Bahnhof von Umeda bald aus‑, bald umstieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jahren, vielleicht besser als damals, was mich an dem Ort anzog, abgesehen davon, daß die Mehlspeisen vielfältig und schmackhaft, nicht zu süß und nicht zu teuer waren (eine sogenannte Bakery, das Café gehört zu einer Bäckerei): die zwei großen, dabei dezenten, immer sauberen Großspiegel an der einen Wand, wo die Gäste nebeneinander an einem langen und ziemlich breiten Tisch saßen, einem Wandtisch aus massivem hellem Holz, wo ich gut lesen und schreiben konnte und kann, und zwischendurch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft hebe, das Kommen und Gehen betrachten, das Sitzen und Sinnieren und Plaudern, das Auswählen von Mehlspeisen im Hintergrund, Frauen mit silbrigen Zangen und weißen waagrechten Tabletts, das Sitzen und Plaudern und Warten und Suchen von Menschen, überwiegend Frauen, die meisten wohl Hausfrauen in Shoppingpause, aber auch von Männern, die die Männerwelt der Büros satthatten, Suchen im Spiegel, manchmal nach mir, nach meinem Blick, den beide dann abwenden, sobald er gefunden ist, und das Spiel geht weiter, die Suche geht weiter. Ich lese von Dora, die auf einem Foto, wo sie neun oder zehn Jahre alt ist, vor einem Vogelkäfig steht, einer Voliere vermutlich, deren Inhalt oder Insassen man nicht ausmachen kann, Vogel oder Vögel, vielleicht zwei, man weiß es nicht, weil die Umgebung des Mädchens in tiefem Schatten liegt und man Umrisse kaum ahnen kann. Ich hebe die Augen vom Buch und bemerke rechts unten auf der Spiegelfläche den Käfig, die Voliere, säuberlich aufgeklebt, wie schwarzes Schmiedeeisen, oben kuppelförmig gerundet, darin ein kleiner Vogel, vielleicht nur ein Sperling, im Schattenriß, sicher kein Papagei, und eine Blume, die sich zwischen den Stäben hineinrankt, um sich mit dem Vogel zu vereinen oder gar – ihn zu befreien. Dieses Bild hatte ich auch vor fünfzehn Jahren bemerkt, aber nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit; jetzt ist es dank meiner Lektüre kräftiger, präsenter. Und die Lektüre, der Wahrnehmungsmoment im Buch, ist durch meinen Aufblick gestärkt, weil mir das Stehen Doras am Rand des Schattens und die Ahnung dessen, was im Dunkel liegt, als Metapher dafür erscheinen kann, was ein Buch, eine Erzählung wie diese tun kann: für uns, mit uns, für die Abwesenden, die Beschworenen, für sich selbst.
Romane enthalten künstliche Welten, Fiktion ist Virtualität, nicht anders als die Bilderflut im Internet oder die Vorstellungsbilder im Kopf. Diese Welt und meinen Text, von dem ich nicht weiß, auf welcher der beiden Seiten sein Ort ist, verlassend habe ich mich auf den sicherlich realen Weg zu einem etwa fünfzig Stockwerke aufragenden Hochhaus gemacht, um dort, nur im dritten Stock, einen Film zu sehen, der wie eine Dokumentation angelegt, aber zweifellos ein sogenannter Spielfilm ist, Sorry We Missed You von Ken Loach (wobei sich gleich die Frage stellen ließe, inwieweit Dokumentation mit filmischen Mitteln nicht ebenfalls Fiktion ist; am Ende enthält jede menschliche Lebensäußerung jenseits des Atmens und der bloßen Bedürfnisbefriedigung wenigstens ein Gran Erfindung, Verdichtung, Auslassung, Negation, und die Schriftsteller, die Dichter sind nichts anderes als besonders geschulte oder talentierte oder erfahrene Spezialisten der Erfindung). Und als ich das Kino verließ, hatte ich vor, in meine Textlandschaft zurückzukehren und dies in einem anderen Café zu tun, am besten oben im dreißigsten Stock des Gran Hankyu Building, in luftiger Höhe, da kann man, wie schon Nietzsche meinte, wirklich gut denken und schreiben, in der Höhenluft. Oben angekommen, ist mir die Warteschlange zu lang, Umeda und seine Cafés quellen an diesem letzten Sonntag des Jahres über von Shoppern und Window-Shoppern, die früher oder später ermüden, auch Männerrunden darunter, die vor dem Jahreswechsel noch einmal miteinander plaudern oder eher, habe ich den Eindruck, schreien wollen (offenbar wirkt Kaffee auf sie wie Alkohol). Ich kann im Lärm und gegen den Lärm recht gut schreiben, doch der Konsumtaumel, dieser kulturkapitalistische Normalzustand der Wochenenden, ist mir dann doch zuviel.
Und wieder so ein »Abenteuerbuch« von Peter Handke. In den 1980er Jahren begannen sie, die Erzählungen vom Aufbruch in ein neues Leben, das, was man Entwicklungs- oder, genauer: Verwandlungsromane nennen könnte. Protagonisten verließen wie einem inneren Zwang gehorchend ihr angestammtes Dasein, bereit für Neues. Die Intentionen waren nur zu erahnen. Alleine als Ein-Mann- oder Ein-Frau-Expeditionen ...