Die Schön­heit des be­ob­ach­ten­den Tiers

Die fein­füh­lig-re­fle­xi­ven Er­zäh­lun­gen des Rai­ner Ra­bow­ski

Rainer Rabowski: Die gerettete Nacht
Rai­ner Ra­bow­ski:
Die ge­ret­te­te Nacht

Mo­men­te der Won­ne: Ei­ne Frau und de­ren Lä­cheln her­aus ei­ner Art Se­kun­den­bei­schlaf an Mit­wis­se­rei und Kom­plizenschaft, wie er manch­mal un­ter völ­lig Frem­den mög­lich ist, durch nichts wei­ter be­dingt. Kon­tra­stie­rend mit dem Wüh­len ei­nes Selbst-Ent­wur­zel­ten in ei­nem rie­si­gen Hau­fen Sperr­müll, red­se­lig auf ei­ne schräg-um­ständ­li­che Wei­se, ein gei­sti­ges Ver­stol­pern im all­mäh­li­chen Sor­tie­ren und Sich­ten des erst noch zu fin­den­den La­ge­plans sei­ner Ge­danken. Es sind fast Epi­pha­ni­en, die Rai­ner Ra­bow­ski da be­schreibt, nein – dar­auf muss man be­stehen -: er­zählt. Es sind Er­zäh­lun­gen, »Le­bens­mit­schrif­ten« vom Aufgehoben­sein in ei­ne von al­lem an­de­ren gelöste[n] Be­we­gung. Was doch die­se Schlaf­lo­sig­keit, die dem Ich-Er­zäh­ler in schö­ner(?) Re­gel­mä­ßig­keit (oder Unregel­mäßigkeit?) al­les her­vor­bringt: Ein Fla­nie­ren in der Stil­le der Nacht. Ei­ner Nacht, die, wenn man ge­nau hin­hört, hin­sieht und riecht die­se Schön­heit des…alles ge­nau be­ob­ach­ten­den Tiers zu er­zeu­gen ver­mag (ganz im Ge­gen­satz zur schau­rig-af­fek­ti­ven Jekyl­l/­Hyde-Ver­wand­lung).

Da der Ich-Er­zäh­ler na­men­los bleibt, ist es ver­füh­re­risch, ihn mit dem Au­tor gleich­zusetzen oder zu ver­wech­seln. Der Ort ist über­deut­lich Düs­sel­dorf (die Stadt Pe­ter Kür­tens, wie es ein­mal heißt) und mehr als nur Ku­lis­se (wie sich schon in der Be­zeich­nung »Düs-Tro­pi­en I« auf der er­sten Sei­te zeigt): Tau­send­füß­ler, Gleis­an­schluss Gather­hof, Haupt­bahn­hof Hin­ter­ein­gang, Für­sten­platz, Burg­platz, Bil­ker Al­lee, See­stern, Ecke Her­zog-/Cor­ne­li­us­stra­ße, Gu­stav-Poens­gen-Stra­ße, Ka­ro­lin­ger­stra­ße, etc. Wer will, kann auf ei­ner Kar­te Punk­te ma­chen, die­se ver­bin­den und er­hält ein Be­we­gungs­pro­fil. Ob­wohl: die wirk­lich wich­ti­gen Or­te blei­ben an­ge­deu­tet, et­wa die B‑Straße, G‑Straße oder K‑Straße – als gel­te es, die­se jung­fräu­lich zu er­hal­ten und dem Zu­griff des neu­gie­ri­gen Le­sers zu ent­zie­hen.

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Die Auf­ga­be der Re­gie­rung

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 14

Neu­lich, am Nep­tun­brun­nen, un­ter schwe­ren Wol­ken, steigt ein jun­ger Mann bei mir ein. Er trägt frisch ge­wich­ste Schu­he, dun­kel­blaue Jeans und der blü­ten­wei­ße Hemd­kra­gen steht so läs­sig of­fen, wie ihm das Jacket von den schma­len Schul­tern fällt. Sei­ne Haut ist wie fri­scher Rahm, die Au­gen was­ser­blau. Er möch­te in die Staats­bi­blio­thek Un­ter den Lin­den, wir fah­ren los. So­gleich tut er kund, dass er sich ganz be­wusst für das umwelt­verträgliche Fahr­rad­ta­xi ent­schie­den ha­be. Ich lo­be ihn da­für. Er sagt, die En­er­gie­po­li­tik sei das Schwer­punkt­the­ma sei­nes En­ga­ge­ments in der Jun­gen Uni­on. Dann wirft er mit ei­ner ruck­ar­ti­gen Kopf­be­we­gung den Schopf aus der Stirn, holt Luft und setzt an zu ei­nem Vor­trag über sein Schwer­punkt­the­ma, den ich be­quem auf mei­nem Fahrrad­sattel aus­sit­ze. Ich fah­re fast kraft­los, der Jung­unio­nist ist ein Flie­gen­ge­wicht. Er hat ei­nen Arm auf die Leh­ne und ein Bein halb auf die Sitz­bank hoch­ge­legt. Am Schiffs­an­le­ger schaue ich hin­über zur Kup­pel der Neu­en Syn­ago­ge. Ein paar Son­nen­strah­len las­sen vor dem ver­dun­kel­ten Him­mel durch Wol­ken­lö­cher hin­durch ihr Gold ins ge­ra­de­zu Un­wirk­li­che er­glän­zen. Wäh­rend ich über­le­ge, wie ich das The­ma wech­seln könn­te, hö­re ich den Jung­unio­ni­sten fra­gen: »Oder wol­len Sie et­wa so ein Wind­rad in Ih­rem Vor­gar­ten ste­hen ha­ben?« – »Gott be­wah­re, nein, ein Atom­müll­end­la­ger wä­re mir viel lie­ber.« – »Das ist ver­nünf­tig. Ato­ma­re Strah­lung kön­nen wir si­cher ab­schir­men, aber wel­che ge­sund­heit­li­chen Ge­fah­ren von Wind­rä­dern aus­ge­hen, ist noch nicht ein­mal rich­tig er­forscht.«

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Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel oder Die Ent­mün­di­gung Eu­ro­pas

Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel

Sel­ten pass­te ein Ti­tel so prä­zi­se zum Duk­tus des Bu­ches: »Sanf­tes Mon­ster Brüs­sel« steht dort in gro­ßen, ro­ten Buch­sta­ben. Der Zu­satz »oder Die Ent­mün­di­gung Eu­ro­pas« ist dann schon der Be­ginn ei­nes Miss­ver­ständ­nis­ses. Muss es nicht hei­ßen »Die Ent­mün­di­gung der Eu­ro­pä­er«? Wie wird »Eu­ro­pa« ent­mün­digt? Was ist das über­haupt – »Eu­ro­pa«?

Sanft und mit fei­ner Iro­nie kommt Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger da­her. Wie soll­te er auch an­ders? Ein deut­scher In­tel­lek­tu­el­ler, der ei­ne schar­fe Schrift ge­gen »Eu­ro­pa« bzw. die Eu­ro­päi­sche Uni­on hin­legt – un­denk­bar. So­fort wür­den die gän­gi­gen Eti­ket­ten her­vor­ge­holt. »Eu­ro­pa­skep­tisch« be­deu­tet in Deutsch­land noch mehr als in an­de­ren Län­dern rechts, dumpf und an­ti­mo­der­ni­stisch. Wer möch­te das schon sein? Das Pro­blem sieht En­zens­ber­ger sehr wohl, denn hin­ter die­ser Rhe­to­rik macht er ei­ne Stra­te­gie aus, die…gegen je­de Kri­tik im­mu­ni­sie­ren soll. Wer ih­ren Plä­nen wi­der­spricht, wird als An­ti­eu­ro­pä­er de­nun­ziert. Dies er­in­ne­re von fer­ne an die Rhe­to­rik des Se­na­tors Jo­seph Mc­Car­thy und des Po­lit­bü­ros der KPdSU. Wenn­gleich er an an­de­rer Stel­le den Ver­gleich der EU mit to­ta­li­tä­ren Re­gi­men als ab­we­gig fest­stellt und so­mit ni­vel­liert.

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Dass mor­gen die Son­ne

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 13

Der Wecker klin­gelt. Ich stel­le ihn aus. Ich wa­che auf. Ich dre­he mich um. Gleich wer­de ich auf­ste­hen und Früh­stück ma­chen. Soll ich heu­te raus­fah­ren, oder soll ich nicht? Mal se­hen. Die­se Ent­schei­dung wer­de ich nach dem Früh­stück tref­fen. Ein Him­mel­reich für ein An­ge­stell­ten­ver­hält­nis. Das Wet­ter ist un­zu­ver­läs­sig, von der Kund­schaft nicht zu re­den. Fah­re ich raus, ste­he dann bloß wie­der rum, wer­de miss­mu­tig da­von und ver­lie­re mei­ne Zeit, oder blei­be ich zu Hau­se, schrei­be den näch­sten Ad­LeR und küm­me­re mich um den Haus­halt? (Bei mir siehts aus wie bei Hem­pels un­term So­fa.)

Ich früh­stücke reich­hal­tig und in Ru­he. Da­bei fra­ge ich mich, ob ich heu­te raus­fah­ren soll oder nicht. Ich fin­de kei­ne Ant­wort und ver­schie­be die Fra­ge zum zwei­ten Mal auf nach dem Früh­stück, das ich ge­nie­ssen möch­te. Das Ge­nie­ssen ist frei­lich nicht so ein­fach mit die­ser Fra­ge im Hin­ter­kopf. Wie mans macht, macht mans ver­kehrt. Auf je­den Fall wer­de ich, wenn ich nicht raus­fah­re, ein schlech­tes Ge­wis­sen ha­ben we­gen mei­ner Faul­heit. Denn wenn ich mir schon frei neh­me, will ich na­tür­lich nicht auch noch zu Hau­se ar­bei­ten, der Haus­halt kann war­ten. Ich wer­de von mei­nem So­fa aus mit hoch­ge­leg­ten Fü­ßen an je­ne Kol­le­gin den­ken, die über den Dau­men ge­rech­net sie­ben­mal in der Wo­che Tag und Nacht drau­ßen ist.

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Ich be­ken­ne, al­so bin ich

Vor­erst ist die La­wi­ne »Atom­kraft – nein dan­ke!« zum Still­stand ge­kom­men. Die Face­book-Pro­fil­bild­chen wer­den wie­der ge­än­dert. Als näch­ste Be­kennt­nis­se wer­den fa­vo­ri­siert: »S21 oben blei­ben« – ein Re­vi­val – (ins­be­son­de­re nach Be­kannt­ga­be even­tu­ell prag­ma­ti­scher Ko­ali­ti­ons­ver­hand­lungs­er­geb­nis­se in Ba­den-Würt­tem­berg) oder »Frei­heit für Ai Wei­Wei«. Scha­de, dass sich »Free Li­bya« nicht so rich­tig durch­ge­setzt hat, aber den Atom­kraft­geg­nern war das Hemd nä­her als der Rock.

So rich­tig voll­wer­ti­ges Mit­glied in den »so­zia­len Netz­wer­ken« ist man ja nur mit ent­spre­chen­dem Be­kennt­nis. Und das soll schon am Pro­fil­bild er­kenn­bar sein. Ich be­ken­ne, al­so bin ich. Schon op­tisch wird deut­lich: Dis­kus­si­on sinn­los. Hier hört der Spaß auf. Wie hal­te ich mir si­cher an­ders­lau­ten­de Ur­tei­le vom Hals? Ich be­ken­ne mich bei Face­book. Da spielt dann auf ein­mal die an­de­re Iko­ne – der Da­ten­schutz – kei­ne Rol­le mehr.

Nie war es so ein­fach im woh­li­gen Mief der glei­chen Mei­nung un­ter sich zu blei­ben – und sich da­bei gut zu füh­len. Der Preis auf die­sem Sub­prime-Markt der po­li­ti­schen Ge­sin­nungs­pro­sti­tu­ti­on ist klein. Das Ver­spre­chen auf An­er­ken­nung ist groß; das Ri­si­ko ge­ring. Wenn man sich jetzt nicht en­ga­giert, wann dann?

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Alex­an­der Ro­sen­stock: Das Los­buch des Lo­ren­zo Spi­ri­to von 1482

Alexander Rosenstock: Das Losbuch des Lorenzo Spirito von 1482
Alex­an­der Ro­sen­stock: Das Los­buch des Lo­ren­zo Spi­ri­to von 1482

Ei­ne schö­ne Be­schrei­bung für die­sen präch­ti­gen Band: »Ei­ne Spu­ren­su­che« nennt Alex­an­der Ro­sen­stock, stell­ver­tre­ten­der Lei­ter der Stadt­bi­blio­thek Ulm, sei­ne Schrift über das Los­buch des Lo­ren­zo Spi­ri­to von 1482. Das Los­buch ist die ver­mut­lich kost­bar­ste In­ku­na­bel des Bi­blio­theks­be­stands. In je­dem Fall han­delt es sich um ein Uni­kat – zwar mit Ge­brauchs­spu­ren, aber durch­aus gut er­hal­ten. Der Bü­cher­samm­ler Er­hard Schad (1604–1681) hat­te das Buch er­wor­ben. Es kam mit sei­ner Bi­blio­thek 1826 in die Stadt­bi­blio­thek Ulm. Zu Be­ginn be­weist Ro­sen­stock mit kri­mi­na­li­stisch-bi­blio­gra­phi­scher Fi­nes­se, dass Lo­ren­zo Spi­ri­tos Los­buch tat­säch­lich das er­ste ge­druck­te Wür­fel­los­buch ist und von 1482 stammt. Ge­zeigt wer­den die Irr­we­ge und fal­schen Quel­len­an­ga­ben ge­nau so wie die Lö­sung des Falls.

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Be­ja­hen und Über­schrei­ten; Le­ben und Wi­der­spre­chen: Ei­ne Kri­tik der Mo­der­ne

In sei­nen An­fän­gen war das Pro­jekt Mo­der­ne1 noch der Su­che nach Wahr­heit ver­bun­den; aber das Wah­re be­gann zu ver­blas­sen, als man das Pro­jekt rück­halt­los dem Neu­en ver­schrieb, es mit der Wahr­heit in eins setz­te, warf, ver­wech­sel­te und misch­te: Das Wah­re wur­de ab­strakt und die Such­be­we­gun­gen der Mo­der­ne hilf­los: Aber man trieb das Pro­jekt vor­an und über­ant­wor­te­te Mensch und Na­tur die­sen os­zil­lie­ren­den Be­we­gun­gen: Im Leer­lauf ver­brauch­ten, zer­rie­ben und über­hitz­ten sich die Kör­per: Die Re­ste ver­brann­ten Treib­stoffs und der Ruß er­lo­sche­ner Flam­men [mar­kie­ren] die Flug­bah­nen des Fort­schritts2.

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Das Fal­sche, das Schlech­te und das Häss­li­che

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 12

Mein Kol­le­ge ist auf eins, und ich bin auf zwei, als von hin­ten ein un­auf­fäl­lig ge­klei­de­ter Mann her­an­kommt und mei­nen Kol­le­gen erst nach dem Weg fragt und dann, wie das so mit der Rik­scha ge­he. Mein Kol­le­ge er­teilt Aus­kunft, legt ihm un­se­re Dien­ste zu Fü­ßen, macht ein sehr gu­tes An­ge­bot, ro­ter Tep­pich, Sil­ber­ta­blett, al­le Re­gi­ster. Aber ir­gend­wie hat der Mann im­mer noch ei­ne wei­te­re Fra­ge pa­rat: »Was für ei­ne Ge­schwin­dig­keit fah­ren Sie ei­gent­lich so im Durch­schnitt?« Dann in­ter­es­siert er sich da­für, ob die Rik­scha ei­ne Gang­schal­tung ha­be und mit wie vie­len Gän­gen? Mein Kol­le­ge muss sich dau­ernd wie­der­ho­len, der Mann will das mei­ste dop­pelt, man­ches drei­fach er­klärt ha­ben. Die Ant­wor­ten mei­nes Kol­le­gen wer­den im­mer kür­zer. Ich den­ke: Die­sen Dia­log muss ich mir wort­wört­lich aus­wen­dig mer­ken, den setz ich mal in ei­ner Ge­schich­te ein, und dann wer­den al­le glau­ben, ich hät­te ei­ne blü­hen­de Fan­ta­sie. Da zeigt der Mann mit dem nack­ten Fin­ger auf mich, sieht mei­nen Kol­le­gen her­aus­for­dernd an und ruft: »Aber das ist ja ei­ne Frau!« Der Kol­le­ge nickt. »Ja aber kann die das denn?« Der Kol­le­ge schüt­telt den Kopf: »Um Him­mels Wil­len, wo den­ken Sie hin! Wenn die Kol­le­gin jetzt ei­ne Tour kriegt, dann fährt na­tür­lich ei­ner von uns und sie läuft ne­ben­her.« –

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