Freund und Hel­fer

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 8

Oh­ne Über­trei­bung kann man sa­gen, dass die Münch­ner Po­li­zei auf dem Ok­to­ber­fest 2004 nichts we­ni­ger war, als un­ser treu­er Freund und Hel­fer in der Not. Sou­ve­rän und hilfs­be­reit wa­ren die Ein­satz­be­am­ten wie zu­fäl­lig im­mer in der Nä­he wenn man sie brauch­te, und so auch an je­nem Frei­tag­abend des Ita­lie­ner­wo­chen­en­des, als das Ge­brüll ei­nes Kol­le­gen das all­ge­mei­ne Höl­len­to­hu­wa­bo­hu mü­he­los über­tön­te. Es war et­wa ge­gen halb acht am Haupt­ein­gang. Der Kol­le­ge rann­te um sein Fahr­zeug her­um, schrie wie am Spieß un­ver­ständ­li­che Wort­fet­zen her­aus, ramm­te die Fäu­ste ab­wech­selnd in die Luft und ge­gen sei­ne Schen­kel und stampf­te mit den Fü­ßen auf, als wol­le er sich die Kno­chen bre­chen. Wäh­rend Kol­le­gen ihn be­ru­hig­ten, amü­sier­ten sich in sei­nem Fahr­zeug zwei ganz nor­ma­le Wiesn­be­su­cher, in die­sem Fal­le zwei Fran­zo­sen um die drei­ßig. An­de­re Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen ka­men an­ge­fah­ren, mach­ten sich ein Bild von der La­ge und fuh­ren wei­ter, Zeit war Geld und Kra­wall war nor­mal, so dass vie­le Wiesn­be­su­cher sich höch­stens kurz nach uns um­dreh­ten. Im Kampf ge­gen sei­ne Ver­zweif­lung ge­wann der Kol­le­ge all­mäh­lich die Ober­hand, hör­te auf, ums Fahr­zeug zu ren­nen, sag­te stoß­wei­se an, was ge­sche­hen war, at­me­te schwer, fluch­te.

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Der deut­sche Mi­cha­el Moo­re

Ei­ni­ge be­zeich­nen Chri­stoph Lüt­gert in­zwi­schen als den deut­schen Mi­cha­el Moo­re. Es ist an­zu­neh­men, dass dies als Kom­pli­ment ge­meint ist; die Vor­wür­fe der Ma­ni­pu­la­ti­on von Fak­ten ge­gen­über Moo­re sind ja im links­li­be­ra­len Main­stream nie mit der not­wen­di­gen Ernst­haf­tig­keit ver­folgt wor­den. Lüt­gert hat ver­mut­lich kei­ne Fak­ten ver­bo­gen. Aber wie Moo­re geht er äu­ßerst sug­ge­stiv vor und per­so­na­li­siert gna­den­los sei­ne Do­ku­men­ta­tio­nen. Im Maschmey­er-Film vom 12. Ja­nu­ar er­scheint Lüt­gert ge­fühl­te 20 von 30 Mi­nu­ten auf dem Bild­schirm. Ge­sten er­schei­nen in Groß­auf­nah­me. Zum fe­sten Be­stand­teil sei­ner län­ge­ren Fil­me ge­hört das Selbst­ge­spräch, in dem er den Zu­stand der Welt im all­ge­mei­nen und im be­son­de­ren be­klagt. Mal im lee­ren Fuß­ball­sta­di­on von Han­no­ver, mal auf der Stra­ße. Es ist un­mög­lich, der Mei­nung Lüt­gerts in die­sen Fil­men zu ent­kom­men. Sie ist im­mer schon da, wird breit­ge­tre­ten und in je­der Sze­ne un­ter­stri­chen – sei es op­tisch oder über den Kom­men­tar; zu­meist si­mul­tan. So­gar im Ti­tel ist schon klar: Da sind die Bö­sen und Ga­la­had Lüt­gert er­klärt uns die Welt. Der Film über den Tex­til­dis­coun­ter »KiK« im Au­gust 2010 heißt nicht nur »Die KiK-Sto­ry« son­dern be­kommt so­fort ein At­tri­but da­zu: »die mie­sen Me­tho­den des Tex­til­dis­coun­ters«. Beim Maschmey­er-Film ging man es et­was sanf­ter an und ti­tel­te nur »Der Drücker­kö­nig und die Po­li­tik«. Da­für heißt es dann be­deu­tungs­voll zu Be­ginn des Films: »Schur­ke oder Edel­mann«.

Zu Be­ginn sei­nes Fil­mes über »KiK« und geht Lüt­gert ein­kau­fen. Für noch nicht ein­mal 26 Eu­ro ist er kom­plett ein­ge­klei­det – und wun­dert sich, wie so­was funk­tio­niert. Er fliegt nach Ban­gla­desch und be­sucht ei­nen Be­trieb, in dem Tex­ti­li­en für »KiK« ge­näht wer­den. Er be­schäf­tigt sich mit den Ar­beits­be­din­gun­gen, den Löh­nen und be­sucht ei­ne Ar­bei­te­rin. De­ren Nef­fe liegt im Ster­ben; die Fa­mi­lie hat kein Geld für ei­ne Be­hand­lung. Lüt­gert klagt »Das Kind stirbt«, un­ter­drückt müh­sam sei­ne Trä­nen und sug­ge­riert, »KiK« hät­te die Schuld, weil die Nä­he­rin zu schlecht be­zahlt wer­de. (Das Kind stirbt dann nicht, son­dern fin­det Be­hand­lung.)

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Das R‑Wort

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 7

Ich ste­he am Reichs­tag, es ist heiß, ich bin auf der Schat­ten­sei­te un­ter den Bäu­men, und ne­ben mir ist ein ganz fri­scher Kol­le­ge, ein Lehr­amtstu­dent mit ei­nem ent­setz­li­chen Re­de­be­dürf­nis. Es ist sein fünf­ter Ar­beits­tag, er hat das be­rühm­te An­fän­ger­glück und ist der Poe­sie die­ses drecki­gen Jobs rest­los ver­fal­len. Aus dem Reichs­tag her­aus wälzt sich die Ram­pe her­un­ter ei­ne Bus­la­dung but­ter­fah­ren­der Se­nio­rin­nen und Se­nio­ren in beige und pa­stell, über­quert un­ter Le­bens­ge­fahr die Schei­de­mann­stra­ße zu uns her­über und mar­schiert wei­ter in Rich­tung Tor. Die müs­sen zum Bus. Als die Grup­pe vor­über ist und der Kol­le­ge mit mir be­spricht, was eben ge­schah, kommt ein Paar her­an.

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Ty­ran­nei der Ent­span­nung? Ei­ne Re­plik auf Flo­ri­an Il­lies.

Mu­ße. Sieht man sich die­ses an­ge­staub­te, ver­al­te­te Wort ein­mal ge­nau an, dann er­kennt man ei­ne Sub­ver­si­vi­tät, die in der Ent­span­nung be­reits be­schnit­ten ist, weil sie zu dicht an die Wi­der­sprü­che, Miss­ver­ständ­nis­se und Ver­ir­run­gen un­se­rer Ta­ge her­an reicht. Flo­ri­an Il­lies sieht die­se Ver­hält­nis­se, ih­re „ka­pi­ta­li­sti­schen“ Be­din­gun­gen, aber er ver­lässt sie nicht, und deu­tet ei­nen Ge­gen­ent­wurf, wenn über­haupt, nur va­ge an.

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Ster­ne be­trach­ten

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 6

Ich muss hier weg. Mein Fahr­zeug schlägt Wur­zeln. In mir macht sich ei­ne Star­re breit. Al­les be­wegt sich, nur ich nicht. Leu­te auf den Frei­trep­pen von Dom und Al­tem Mu­se­um, Leu­te im Lust­gar­ten, Rad­fah­rer, Fuß­gän­ger, Au­tos. Die Am­pel, ein Stun­den­glas. Hal­ten-War­ten-Wei­ter­fah­ren, ge­hen, stol­pern, Bag­gi schie­ben, Tü­ten schlep­pen, Stadt­plan le­sen, Fo­tos ma­chen, al­les be­wegt sich, bloß ich nicht. Ob es mir heu­te so ge­hen wird wie der Kol­le­gin, die neu­lich ins­ge­samt fünf Stun­den an zwei Stand­plät­zen ge­stan­den hat, oh­ne dass ir­gend­wer hät­te ein­stei­gen wol­len, die dar­auf­hin rein­ge­fah­ren und zehn Me­ter vor der Ga­ra­ge von zwei char­man­ten Da­men an­ge­hal­ten wor­den ist und dann mit de­nen drei Stun­den spa­zie­ren fuhr und hin­ter­her zum Es­sen ein­ge­la­den wur­de? Man darf so et­was nicht er­war­ten, so et­was tritt grund­sätz­lich nur un­er­war­tet ein. Ich muss al­so an et­was an­de­res den­ken. Zum Glück sind heu­te die Pan­flö­ten­ter­ro­ri­sten nicht da. Mir fällt, ob ich es will oder nicht, die schwä­bi­sche Fa­mi­lie von vor­hin wie­der ein.

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