A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 6
Ich muss hier weg. Mein Fahrzeug schlägt Wurzeln. In mir macht sich eine Starre breit. Alles bewegt sich, nur ich nicht. Leute auf den Freitreppen von Dom und Altem Museum, Leute im Lustgarten, Radfahrer, Fußgänger, Autos. Die Ampel, ein Stundenglas. Halten-Warten-Weiterfahren, gehen, stolpern, Baggi schieben, Tüten schleppen, Stadtplan lesen, Fotos machen, alles bewegt sich, bloß ich nicht. Ob es mir heute so gehen wird wie der Kollegin, die neulich insgesamt fünf Stunden an zwei Standplätzen gestanden hat, ohne dass irgendwer hätte einsteigen wollen, die daraufhin reingefahren und zehn Meter vor der Garage von zwei charmanten Damen angehalten worden ist und dann mit denen drei Stunden spazieren fuhr und hinterher zum Essen eingeladen wurde? Man darf so etwas nicht erwarten, so etwas tritt grundsätzlich nur unerwartet ein. Ich muss also an etwas anderes denken. Zum Glück sind heute die Panflötenterroristen nicht da. Mir fällt, ob ich es will oder nicht, die schwäbische Familie von vorhin wieder ein.
Ich hatte angefangen, war herausgefahren und hatte knappe anderthalb Stunden auf der Westseite des Tores Leute angesprochen. Nein und nein und nichts als ein kategorisches Nein, und dann diese Schwaben: Sooo, Grißgoddle, sagedse, isch desdo d Maur gwä? ... Neddä? Noi? Ha wo isch ez die gwä? ... Doo? Ja ond mir sen im Weschdä? ... Mir sen, do isch, ah, soo, so, ezed, ond sagedse, was isch des dodromma? ... D Amrikoner? Die hen grad no gfeehld. Ond wosch dr Reichsdaag? ... Kenned Sie els a Wirdschafd empfähla, wos ned so durischdisch isch? ... Ond sagedse, effndliche Doledda hier in dr Näh? Dodrieba, aha. ... Wemir ezed zum Färnsehdurm welled, wie missä mir no .... Waas? Faahra? Mid Iiihne? Haauwa! Mir laufed! Mir send no gsond! Aber sagedse, was däd ez des – wissdse, bloß dass mr wissed, was onsre Schuhsohla werd sen – was dädn des koschda? Danach hatte ich den Standplatz gewechselt. Das war vor drei Stunden und fünfzehn Minuten.
Ich muss hier weg. Der Lustgarten wird immer leerer. Die Bauarbeiter von der Humboldt-Box machen Feierabend. Wenn ich jetzt leer wegfahre, habe ich knappe zwei Stunden in den Sand gesetzt. Eine Ampelphase bleibe ich noch. Gaspedale werden getreten, Motoren lärmen auf, Diesel-Taxen stossen schwarze Wolken in die Luft, Busse nerven am meisten. Welch zauberhafte Schönheit, wenn die Straße veranstaltungshalber für Autos gesperrt ist! Aber jetzt stinkt und dröhnt es ununterbrochen. Zwei Ampelphasen später sage ich mir, dass ich nur eine Ampelphase lang bleiben wollte. Ich kann so nicht weitermachen. Seit ich hier stehe, sind zahlreiche Rikschas mit Kunden und zufrieden dreinblickenden Fahrern an mir vorbeigefahren. Ich bin seit vier Stunden und fünfundvierzig Minuten draußen und habe noch keine einzige Tour gehabt. Bald ist Gottesdienst im Dom. Dann beginnt seine gewalttätig laute Glocke zu läuten, und es gibt nur noch Passanten, die mit freudlosen Gesichtern zu seinem Eingang streben. Ich muss hier weg. Ich werde jetzt noch einmal ein paar Standplätze abklappern, werde nirgends länger als zehn Minuten stehenbleiben, und wenn ich dabei nichts kriege, dann werfe ich das Handtuch mit großer Geste und fahre, gelassen wie Buddha selbst, das Fahrzeug in die Garage und mich nach Hause. Dabei werde ich ein Lächeln auf den Lippen tragen und an Oscar Wilde denken: »Wir liegen alle in der Gosse, aber manche von uns betrachten die Sterne.«
Steffi, du sprichst – denke ich – vielen von uns aus der Seele. Wunderbarer Text zum Jahresanfang.....es kann nur Besser werden!!!
Liebe Stefanie,
dein Text hat mir großen Spaß gemacht. Wahrscheinlich war es für in der Situation nicht zum Lachen, aber ich habe geschmunzelt.
Liebe Grüße und ein in jeder Hinsicht erfolgreiches Jahr
wünscht Dir Jutta (die aus der Prosawerkstatt :-))
ein fehlendes »Dich« nach
So isses. In Erinnerung an derartige Situationen bzw. Schichten schnürt’s mir immer noch die Kehle zu. Der gute Oscar hat zwar recht, leider haben Vermieter, Banken u.ä. ein gänzlich anderes, weniger romantisches, Lebensverständnis. Bin auf die nächste kleine Geschichte gespannt.
Jo! Ich schließe mich den vorangegangenen Kommentaren an! Wieder ist Ihnen eine schöne Rikschafahrerin-Aufnahme gelungen.
LG lou-salome :-)))
Kann ich gut nachvollziehen. »Was koschd na dees? Mir laufed«. Geiz ist geil.
Nächste Saison wird alles besser.