Einige unmassgebliche Bemerkungen zu Thomas Meaneys Thesen über die Bedeutungslosigkeit der zeitgenössischen deutschen Literatur
Man horcht auf. Schließlich ist von einem unausgesprochenen Skandal die Rede. »Das wirtschaftlich bedeutendste Land des Kontinents leidet sowohl an mangelndem literarischem Ehrgeiz als auch an mangelnder Präsenz. Jeder weiß, dass die Erben der Sprache von Kafka, Brecht und Mann heute so wenig gelesen werden wie seit Jahrzehnten nicht mehr.»1
Thomas Meaney liest im Vorwort der aktuellen Ausgabe des britischen »Granta«-Magazins der deutschen Literatur die Leviten. »Der letzte deutsche Schriftsteller, der einen größeren internationalen Durchbruch schaffte, war WG Sebald, der zwanzig Meilen von der österreichischen Grenze entfernt aufwuchs, die meiste Zeit seines Lebens in England lebte und sich selbst als Schüler von Peter Handke betrachtete.« Wie kann es sein, dass aus Österreich, der Schweiz und Rumänien (!)2 bessere deutsche respektive deutschsprachige Literatur geschrieben wurde? Meaney erklärt es dahingehend, dass die »führenden Persönlichkeiten« der österreichischen Nachkriegsliteratur »Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Handke, Marlen Haushofer, Friederike Mayröcker, Elfriede Jelinek« sich nicht von ihren Vorläufern der Moderne (Kafka, Musil, Doderer, Broch) abgeschnitten hätten wie die Deutschen. »Als Böll nach dem Krieg begann, Romane zu veröffentlichen«, war es, so Meaney, »als hätte es die Moderne nie gegeben.«
Das Schreibheft von Norbert Wehr feiert heuer die 100. Ausgabe. Zum Jubiläum gibt es einen umfangreichen Essay von Frank Witzel über »100 Vergessene, Verkannte und Verschollene«. Erinnerungen kommen auf an Michael Helmings wunderbare Reisen zu fünf vergessenen osteuropäischen Schriftstellern und seine »Kontaktaufnahme« an deren Gräbern. Witzel bekommt für seine 100 Hinweise (es sind mehr, weil zum Beispiel aus Lexika zitiert wird, die ein ähnliches Anliegen verfolgten) 128 Seiten. Überwiegend sind Schriftsteller gemeint, auch wenn es eine kleine Rubrik über Zeichner und bildende Künstler gibt. Witzels Auswahl ist subjektiv und daraus macht er keinen Hehl. So erklärt er auch häufiger, wie er auf diesen oder jene gekommen ist, findet fast immer die biographischen Daten und es werden häufig auch (längere) Ausschnitte abgedruckt. Es findet sich Originelles, Konzeptuelles und Skurriles (etwa ein Hinweis auf einen Autor, der Rezensionen über nicht existierende Bücher verfasste); Gedichte, Prosa, Drama, Dialoge, Interviews, Collagen. Manches Mal ertappt man sich dabei, dass die Verschollen- und/oder Verborgenheit gar nicht so schlecht gewesen ist, aber das ist natürlich ebenfalls subjektiv. Vielleicht sollte man das Konvolut nicht in einem Stück lesen.
Die Frage, die Witzel sich und den Leser immer wieder stellt: Warum wurde jemand mit einer zuweilen in seiner Zeit durchaus beachtlichen Publikationstiefe irgendwann schlichtweg vergessen? Die Gründe können viele Ursachen haben. Texte wie der von Witzel (aber auch Helming) sollen zeigen, dass sie nichts oder nur sehr wenig mit der Qualität des jeweiligen Werks zu tun haben. Häufig findet Witzel den Fehler beim jeweiligen Autor, etwa wenn es sich um übertriebene Perfektionisten handelt, die niemals fertig werden. Oder sie verlieren nach den ersten Misserfolgen schlichtweg die Lust (einher geht damit zumeist auch der Verlust des Verlags).
Hermann Kurzke: Literatur lesen wie ein Kenner
Vielleicht liegt der Fehler schon im Titel: »Literatur lesen wie ein Kenner« steht dort. Wer ist der Kenner? Der Autor dieses Buches, Hermann Kurzke? Oder handelt es sich hier um eine Art Fortbildung für Leser? Schließlich verheißt der Untertitel »Eine Handreichung für passionierte Leserinnen und Leser«. Soll hier eine Passion geweckt werden?
Keine Frage: Empfehlungen, »Handreichungen« bis hin zu neu bestückten Literaturkanons sind beliebt. Der potentielle Leser lechzt in dem immensen Angebot nach Hilfe. Was soll man lesen? Was muss man lesen? Kurzkes Buch reiht sich zwar in die Kategorie der Helfer ein, ist aber gleichzeitig anders, weil es auch didaktisch aufgebaut ist. Das Ziel sei es, »Literatur zu verstehen«, eine Orientierung zu geben, dies jedoch auch vergnüglich. Wenig später erfährt man, dass Kurzke der Germanistik »ein bisschen skeptisch« gegenüber steht. Das ist bei einem gestandenen Literaturwissenschaftler wie ihm durchaus bemerkenswert. Das Versprechen, einem nicht mit hochgestochenen Vokabeln zu traktieren, hält er immerhin ein.
Kurzkes Herangehensweise ist originell. Er ordnet seine Auswahl in drei Ringen. Die »textanalytische, literaturgeschichtliche und literaturtheoretische Begrifflichkeit« wird für alle drei Genres (Lyrik, Drama und Erzählung/Prosa) immer zunächst anhand eines Beispiels aus dem Werk von Heinrich von Kleist sozusagen exemplarisch vorgestellt. Er erwähnt es nicht, aber es dürfte darum gehen, ein Ideal des jeweiligen Typus vorzustellen und Kleist hatte alle drei Genres »bedient«. Auf dem »zweiten Ring« werden ausgewählte Texte aus der »deutschen Literatur« vorgestellt. Dabei muss man wissen, dass im gesamten Verlauf des Buches nicht zwischen »deutscher« und »deutschsprachiger« Literatur unterschieden wird, was vielleicht weniger aus politischen, aber aus literaturhistorischen Gründen merkwürdig anmutet. Mit dem »dritten Ring« sollen dann auch Beispiele anderer, bevorzugt europäischer Nationalliteraturen vorgestellt werden.
Spätestens in der Schule kam man an ihnen nicht mehr vorbei. Da war der Kriegsheimkehrer Beckmann aus Borcherts »Draußen vor der Tür«, der Soldat Feinhals und die Architektenfamilie Fähmel aus Bölls Werken, später noch Clown Schnier und dessen Ansichten. Oskar Matzerath kannte jeder (meist allerdings ohne das Werk en détail gelesen zu haben). Seltener waren schon die Erlebnisse mit dem desillusionierten Bundestagsabgeordneten und Schöngeist Keetenheuve (Koeppens »Treibhaus«) oder dem Maler Ludwig Nansen aus der 60er Jahre »Deutschstunde« (Siegfried Lenz). All diesen Figuren ist gemein, dass sie heute noch Erinnerungen hervorrufen und Referenzgrößen der deutschen Nachkriegsliteratur wie selbstverständlich herbeizitiert werden. Aber wer kennt eigentlich Joachim Lassehn, den Deserteur aus Heinz Reins »Finale Berlin«? und wer kennt dieses Buch, das bereits 1947 erschienen war und vehement-drastischer Sprache die Schrecken des Krieges nicht nur erzählte, sondern vor dem Leser fast ausspie?
Sicherlich, vergessene Bücher mit vergessenen Schriftstellern aus dieser Zeit gibt es viele. Neben Heinz Rein fallen einem auf Anhieb Hans Scholz (»Am grünen Strand der Spree« [dieses Buch wurde in den 1960er Jahren erfolgreich für das Fernsehen verfilmt]), Peter Bamm und Hans Hellmut Kirst ein, die allesamt mit dem Vorwurf des Trivialautors zu kämpfen hatten. Aber auch ästhetisch anspruchsvollere Autoren wie Gert Ledig und Josef W. Janker gingen im Literaturbetrieb unter, vor allem weil sie nicht in das ästhetische Konzept der Gruppe 47 hineinpassten, einer informellen Vereinigung, die sukzessive die Hoheit über die deutsche Nachkriegsliteratur übernahm und schon vor der Usurpierung durch die Kritiker-Viererbande (Reich-Ranicki, Mayer, Kaiser, Jens) eine machtvolle Position einnahm. Wer heute den Kanon durchschaut, den diese Wenigen aufgestellt haben, entdeckt überall die immergleichen Namen: Heinrich Böll, Günter Eich, Günter Grass, Alfred Andersch, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser (der eigentlich als »gruppenfremder« Autor galt), ein bisschen Wolfdietrich Schnurre und Walter Höllerer noch. Allesamt Autoren, die an den Sitzungen der Gruppe 47 zum Teil regelmässig teilnahmen und dadurch bis heute das literarische Bild der 1950er und 1960er Jahre in Deutschland prägten.
Achtete man peinlichst darauf, keine nazibelasteten Schreiber in der Gruppe zu haben (was, wie sich später herausstellte, gründlich misslang), so konnte man jedoch als Opfer, das nicht den soldatischen Weg eingeschlagen hatte, kaum reüssieren, wie am Beispiel Paul Celan deutlich wurde. Exilanten mied man offiziell aus ästhetischen Gründen – in Wahrheit wollten sich diese in der Regel nicht mit Wehrmachtsoldaten oder »Inneren Emigranten« messen. Ambitionierte Prosa, die sich von der dem Realismus verpflichteten sogenannten Trümmerliteratur abwichen, hatte ebenfalls keine Chance; sie waren auf Fürsprache außerhalb der Gruppe angewiesen, was bei einigen Ausnahmen (Koeppen, Siegfried Lenz) gelang.
Höllengewitter ohne Scheu vor Pathos
So ist es nicht überraschend, dass Heinz Rein, der Autor von »Finale Berlin«, niemals in der Gruppe 47 gelesen hat. Sein Roman entsprach mit seinem derben Splatter-Expressionismus nicht dem Geschmack der Gruppe, die es vorzog, den deutschen Soldaten nach dem Krieg als Opfer der Umstände darzustellen. Reins Buch dagegen zeigt in expressiven, zum Teil pathetisch-brutalen Bildern ein Berlin vom 15. April 1945 bis zur Kapitulation am 2. Mai. Es ist ein Berlin der Straßen- später sogar Häuserkämpfe – eine Bevölkerung eingepresst zwischen Roter Armee und rücksichtslos gegen die eigene Zivilbevölkerung vorgehender SS-Truppen. Es ist ein Berlin der bis zum Schluss an den Sieg Glaubenden, ein Berlin, das am Ende großflächig in Schutt und Asche liegt, übersät mit Leichen bzw. Leichenteilen. Rein entwickelt eine Topographie des Schreckens; wer möchte, kann Truppen- und Kampfbewegungen auf einer Karte genau nachvollziehen. Berlin wird zur Hölle, bar jeder Zivilisation.
Friedrich Helms wurde 1883 geboren. Er lebte in Berlin, wurde dann, 1945, ausgebombt und zog in sein Gartenhaus nach Wilhelmshorst bei Potsdam. Helms war damals über 40 Jahre in Diensten der Deutschen Bank, zum Schluss als »Direktor«. Seine Frau Marie war 12 Jahre jünger als er. Sie war »Pg«, also Mitglied der NSDAP. Helms selber wird als deutschnationaler Sozialdemokrat beschrieben; er war Freimaurer. Das Paar hatte zwei Töchter. Viel weiß man über diese Familie nicht. Friedrich Helms führte Tagebuch. Dies kam irgendwann in den Besitz von Walter Kempowski, der in seinem »Echolot« »Abgesang’45« ein kleines Stück aus Helms’ Tagebuch zitierte. Der Publizist und Verleger Tobias Wimbauer nahm sich des Tagebuchs an und gab in seinem leider kürzlich geschlossenen »Eisenhut«-Verlag bisher zwei Bände heraus. Der erste umfasst die Zeit von April bis Dezember 1945; er setzt fast mit der Kapitulation des Deutschen Reichs ein. Der zweite Band umfasst die Jahre 1946 und 1947.
In Anbetracht des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs wurde man medial umfangreich versorgt. Bei aller Ausführlichkeit in den Schilderungen der letzten Tage des Nazi-Regimes und der anschließenden Besatzung nebst geopolitischer Situation blieb die Zeit unmittelbar nach dem Kriegsende seltsam dunkel. Zwar gilt die Phrase der »Stunde Null« längst als widerlegt, aber was tatsächlich damals geschah wurde in der populären und publizistischen Geschichtsschreibung kaum behandelt. Es ging dann irgendwie mit der Währungsreform 1948 und dem Grundgesetz der Bundesrepublik 1949 weiter.
Der Grund für diese Leerstelle liegt auch darin, dass die Schilderungen der Probleme der Bevölkerung unmittelbar nach dem Krieg sehr schnell als Geschichtsrevisionismus hätte ausgelegt werden können. Diese Befürchtungen gab es ja auch bei anderen Themenbereichen wie Vertreibung und Bombenkrieg. Alles, was nur im Entferntesten das Tätervolk hätte als Opfer darstellen können, galt es zu vermeiden. Hinzu kam, dass die nachfolgenden Generationen oft genau diese Erzählungen von ihren Eltern und Großeltern hörten und als Ablenkungsmanöver einer eventuellen Mitschuld interpretierten.
Ursula Krechel: LandgerichtRichard Kornitzer ist 1903 geboren, studiert Jura, lebt in Berlin und will unbedingt Richter werden. Er promoviert, wird Mitglied der Patent- und Urheberrechtskammer beim Landgericht I in Berlin und heiratet 1930 Claire Pahl. Claire ist Geschäftsführerin einer Firma, die Werbung für Kinos produziert. Alles läuft bestens. Sie bekommen zwei Kinder, Georg (1932) und Selma (1935). Aber bei Selmas Geburt ist das Leben der Kornitzer bereits existentiell bedroht, denn Richard ist das, was man im Nazi-Jargon einen Volljuden nennt. Da spielt es auch keine Rolle, dass er sich nicht einmal als ein richtiger Jude fühlte (er bezeichnet sich als Jude von Hitlers Gnaden). Das Paar erlebt die immer perfider werdenden »Gesetze« und »Verordnungen«, die gegen Juden seit 1933 in Kraft gesetzt werden. Richard wird schnell in den Ruhestand versetzt und arbeitet in einer Glühlampenfabrik. Claire wird auf schmutzige Art und Weise ihre Firma abgenommen, weil sie, die Protestantin, zu ihrem Mann steht und sich nicht scheiden läßt. Man spürt förmlich, wie die Luft zu Atmen schwindet und die Drohungen physischer werden. Auch die Freizeit hat ihre Unbeschwertheit längst verloren. Gestern noch im Wannsee gebadet, ist dies am nächsten Tag plötzlich verboten. Rührend, wie Claire ein anderes Freibad sucht.
Es ist nicht ganz einfach, verwertbare Informationen über Gaiser zu erhalten. Das beginnt schon bei den Angaben zur Person. Hauptquelle ist hier ein eher bescheidener Wikipedia-Eintrag. Demnach wurde Gerd Gaiser 1908 als Sohn eines Landpfarrers im württembergischen Oberriexingen geboren, studierte Kunstgeschichte und Malerei, promovierte 1934 in Tübingen und arbeitete als Kunstlehrer. Gaiser trat frühzeitig der NSDAP und dem NS-Lehrerbund bei (die Zahlen divergieren hier zwischen 1933 und 1937). 1941 erschien seine erste Buchpublikation – ein Gedichtband mit dem Titel »Reiter am Himmel«. Gaiser übt sich hier in Elogen an die Ideologie des Nationalsozialismus und an den »Führer«. Im Krieg war er Luftwaffenoffizier bei den Jagdfliegern und geriet in Italien in kurzer Gefangenschaft. Nach dem Krieg schlug sich Gaiser zunächst als Maler durch, bevor er 1947 wieder in den Schuldienst eintrat und zwischen 1962 und 1973 als Professor für Kunstgeschichte in Reutlingen tätig war. Gaiser heiratete 1959 die Malerin Irene Widmann. Er starb 1976 in Reutlingen.
Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche – Werk – Wirkung 2011 ist Thomas-Bernhard-Jubiläumsjahr. Eine Flut von Aufsätzen und Büchern dürfte zum 80. Geburtstag ins Haus stehen. Da ist es gut, im Vorfeld Bernhard Judex’ Buch über Werk und Wirkung des österreichischen Schriftstellers gelesen zu haben. Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt, die Schwerpunkte setzen und exemplarisch für Bernhards Leben (Kapitel 1) und Werk (Kapitel 2–5) stehen sollen. In der Werkbetrachtung bleibt Judex chronologisch, was sich bei Bernhard, der gewissen Entwicklungen unterworfen ist, durchaus anbietet. Zunächst wird die (sehr frühe) Lyrik , dann die Romane »Frost« und »Korrektur« sowie die Erzählungen »Die Mütze« und »Der Kulterer« repräsentativ für die Schaffensperiode bis 1975 behandelt. Von den Theaterstücken widmet sich Judex dem Erstling »Der Ignorant und der Wahnsinnige« und dem nach »Heldenplatz« wohl bekanntesten Stück »Der Theatermacher« eingehend. Vollkommen zu recht räumt er dann im vierten Kapitel den autobiografischen Erzählungen »Die Ursache«, »Der Keller«, »Der Atem«, »Die Kälte« und »Das Kind« (erschienen von 1975–82) den entsprechenden Raum ein. Für das Spätwerk werden dann »Die Auslöschung« und das Skandalon »Heldenplatz« untersucht.