Schreib­fa­bri­ken und Sti­pen­dia­ten­pro­sa

Ei­ni­ge un­mass­geb­li­che Be­mer­kun­gen zu Tho­mas Meaneys The­sen über die Be­deu­tungs­lo­sig­keit der zeit­ge­nös­si­schen deut­schen Li­te­ra­tur

Man horcht auf. Schließ­lich ist von ei­nem un­aus­ge­spro­che­nen Skan­dal die Re­de. »Das wirt­schaft­lich be­deu­tend­ste Land des Kon­ti­nents lei­det so­wohl an man­geln­dem li­te­ra­ri­schem Ehr­geiz als auch an man­geln­der Prä­senz. Je­der weiß, dass die Er­ben der Spra­che von Kaf­ka, Brecht und Mann heu­te so we­nig ge­le­sen wer­den wie seit Jahr­zehn­ten nicht mehr.»1

Tho­mas Meaney liest im Vor­wort der ak­tu­el­len Aus­ga­be des bri­ti­schen »Granta«-Magazins der deut­schen Li­te­ra­tur die Le­vi­ten. »Der letz­te deut­sche Schrift­stel­ler, der ei­nen grö­ße­ren in­ter­na­tio­na­len Durch­bruch schaff­te, war WG Se­bald, der zwan­zig Mei­len von der öster­rei­chi­schen Gren­ze ent­fernt auf­wuchs, die mei­ste Zeit sei­nes Le­bens in Eng­land leb­te und sich selbst als Schü­ler von Pe­ter Hand­ke be­trach­te­te.« Wie kann es sein, dass aus Öster­reich, der Schweiz und Ru­mä­ni­en (!)2 bes­se­re deut­sche re­spek­ti­ve deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur ge­schrie­ben wur­de? Meaney er­klärt es da­hin­ge­hend, dass die »füh­ren­den Per­sön­lich­kei­ten« der öster­rei­chi­schen Nach­kriegs­li­te­ra­tur »In­ge­borg Bach­mann, Tho­mas Bern­hard, Pe­ter Hand­ke, Mar­len Haus­ho­fer, Frie­de­ri­ke May­röcker, El­frie­de Je­li­nek« sich nicht von ih­ren Vor­läu­fern der Mo­der­ne (Kaf­ka, Mu­sil, Do­de­rer, Broch) ab­ge­schnit­ten hät­ten wie die Deut­schen. »Als Böll nach dem Krieg be­gann, Ro­ma­ne zu ver­öf­fent­li­chen«, war es, so Meaney, »als hät­te es die Mo­der­ne nie ge­ge­ben.«

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  1. Die nachfolgenden Übersetzungen des englischen Textes wurden mit DeepL und einem kleineren Eigenanteil erstellt. 

  2. Das Ausrufezeichen ist von mir. Ich nehme an, Meaney bezieht sich vor allem auf die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. 

Gert Le­dig und das Ver­ges­sen

100. Schreibheft
100. Schreib­heft

Das Schreib­heft von Nor­bert Wehr fei­ert heu­er die 100. Aus­ga­be. Zum Ju­bi­lä­um gibt es ei­nen um­fang­rei­chen Es­say von Frank Wit­zel über »100 Ver­ges­se­ne, Ver­kann­te und Ver­schol­le­ne«. Er­in­ne­run­gen kom­men auf an Mi­cha­el Hel­mings wun­der­ba­re Rei­sen zu fünf ver­ges­se­nen ost­eu­ro­päi­schen Schrift­stel­lern und sei­ne »Kon­takt­auf­nah­me« an de­ren Grä­bern. Wit­zel be­kommt für sei­ne 100 Hin­wei­se (es sind mehr, weil zum Bei­spiel aus Le­xi­ka zi­tiert wird, die ein ähn­li­ches An­lie­gen ver­folg­ten) 128 Sei­ten. Über­wie­gend sind Schrift­stel­ler ge­meint, auch wenn es ei­ne klei­ne Ru­brik über Zeich­ner und bil­den­de Künst­ler gibt. Wit­zels Aus­wahl ist sub­jek­tiv und dar­aus macht er kei­nen Hehl. So er­klärt er auch häu­fi­ger, wie er auf die­sen oder je­ne ge­kom­men ist, fin­det fast im­mer die bio­gra­phi­schen Da­ten und es wer­den häu­fig auch (län­ge­re) Aus­schnit­te ab­ge­druckt. Es fin­det sich Ori­gi­nel­les, Kon­zep­tu­el­les und Skur­ri­les (et­wa ein Hin­weis auf ei­nen Au­tor, der Re­zen­sio­nen über nicht exi­stie­ren­de Bü­cher ver­fass­te); Ge­dich­te, Pro­sa, Dra­ma, Dia­lo­ge, In­ter­views, Col­la­gen. Man­ches Mal er­tappt man sich da­bei, dass die Ver­schol­len- und/oder Ver­bor­gen­heit gar nicht so schlecht ge­we­sen ist, aber das ist na­tür­lich eben­falls sub­jek­tiv. Viel­leicht soll­te man das Kon­vo­lut nicht in ei­nem Stück le­sen.

Die Fra­ge, die Wit­zel sich und den Le­ser im­mer wie­der stellt: War­um wur­de je­mand mit ei­ner zu­wei­len in sei­ner Zeit durch­aus be­acht­li­chen Pu­bli­ka­ti­ons­tie­fe ir­gend­wann schlicht­weg ver­ges­sen? Die Grün­de kön­nen vie­le Ur­sa­chen ha­ben. Tex­te wie der von Wit­zel (aber auch Hel­ming) sol­len zei­gen, dass sie nichts oder nur sehr we­nig mit der Qua­li­tät des je­wei­li­gen Werks zu tun ha­ben. Häu­fig fin­det Wit­zel den Feh­ler beim je­wei­li­gen Au­tor, et­wa wenn es sich um über­trie­be­ne Per­fek­tio­ni­sten han­delt, die nie­mals fer­tig wer­den. Oder sie ver­lie­ren nach den er­sten Miss­erfol­gen schlicht­weg die Lust (ein­her geht da­mit zu­meist auch der Ver­lust des Ver­lags).

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Her­mann Kurz­ke: Li­te­ra­tur le­sen wie ein Ken­ner

Hermann Kurzke: Literatur lesen wie ein Kenner
Her­mann Kurz­ke: Li­te­ra­tur le­sen wie ein Ken­ner

Viel­leicht liegt der Feh­ler schon im Ti­tel: »Li­te­ra­tur le­sen wie ein Ken­ner« steht dort. Wer ist der Ken­ner? Der Au­tor die­ses Bu­ches, Her­mann Kurz­ke? Oder han­delt es sich hier um ei­ne Art Fort­bil­dung für Le­ser? Schließ­lich ver­heißt der Un­ter­ti­tel »Ei­ne Hand­rei­chung für pas­sio­nier­te Le­se­rin­nen und Le­ser«. Soll hier ei­ne Pas­si­on ge­weckt wer­den?

Kei­ne Fra­ge: Emp­feh­lun­gen, »Hand­rei­chun­gen« bis hin zu neu be­stück­ten Li­te­ra­tur­ka­nons sind be­liebt. Der po­ten­ti­el­le Le­ser lechzt in dem im­mensen An­ge­bot nach Hil­fe. Was soll man le­sen? Was muss man le­sen? Kurz­kes Buch reiht sich zwar in die Ka­te­go­rie der Hel­fer ein, ist aber gleich­zei­tig an­ders, weil es auch di­dak­tisch auf­ge­baut ist. Das Ziel sei es, »Li­te­ra­tur zu ver­ste­hen«, ei­ne Ori­en­tie­rung zu ge­ben, dies je­doch auch ver­gnüg­lich. We­nig spä­ter er­fährt man, dass Kurz­ke der Ger­ma­ni­stik »ein biss­chen skep­tisch« ge­gen­über steht. Das ist bei ei­nem ge­stan­de­nen Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler wie ihm durch­aus be­mer­kens­wert. Das Ver­spre­chen, ei­nem nicht mit hoch­ge­sto­che­nen Vo­ka­beln zu trak­tie­ren, hält er im­mer­hin ein.

Kurz­kes Her­an­ge­hens­wei­se ist ori­gi­nell. Er ord­net sei­ne Aus­wahl in drei Rin­gen. Die »text­ana­ly­ti­sche, li­te­ra­tur­ge­schicht­li­che und li­te­ra­tur­theo­re­ti­sche Be­griff­lich­keit« wird für al­le drei Gen­res (Ly­rik, Dra­ma und Erzählung/Prosa) im­mer zu­nächst an­hand ei­nes Bei­spiels aus dem Werk von Hein­rich von Kleist so­zu­sa­gen ex­em­pla­risch vor­ge­stellt. Er er­wähnt es nicht, aber es dürf­te dar­um ge­hen, ein Ide­al des je­wei­li­gen Ty­pus vor­zu­stel­len und Kleist hat­te al­le drei Gen­res »be­dient«. Auf dem »zwei­ten Ring« wer­den aus­ge­wähl­te Tex­te aus der »deut­schen Li­te­ra­tur« vor­ge­stellt. Da­bei muss man wis­sen, dass im ge­sam­ten Ver­lauf des Bu­ches nicht zwi­schen »deut­scher« und »deutsch­spra­chi­ger« Li­te­ra­tur un­ter­schie­den wird, was viel­leicht we­ni­ger aus po­li­ti­schen, aber aus li­te­ra­tur­hi­sto­ri­schen Grün­den merk­wür­dig an­mu­tet. Mit dem »drit­ten Ring« sol­len dann auch Bei­spie­le an­de­rer, be­vor­zugt eu­ro­päi­scher Na­tio­nal­li­te­ra­tu­ren vor­ge­stellt wer­den.

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Heinz Rein: Fi­na­le Ber­lin

Heinz Rein: Finale Berlin
Heinz Rein: Fi­na­le Ber­lin

Spä­te­stens in der Schu­le kam man an ih­nen nicht mehr vor­bei. Da war der Kriegs­heim­keh­rer Beck­mann aus Bor­cherts »Drau­ßen vor der Tür«, der Sol­dat Fein­hals und die Ar­chi­tek­ten­fa­mi­lie Fäh­mel aus Bölls Wer­ken, spä­ter noch Clown Schnier und des­sen An­sich­ten. Os­kar Mat­zer­ath kann­te je­der (meist al­ler­dings oh­ne das Werk en dé­tail ge­le­sen zu ha­ben). Sel­te­ner wa­ren schon die Er­leb­nis­se mit dem des­il­lu­sio­nier­ten Bundestags­abgeordneten und Schön­geist Kee­ten­heuve (Koep­pens »Treib­haus«) oder dem Ma­ler Lud­wig Nan­sen aus der 60er Jah­re »Deutsch­stun­de« (Sieg­fried Lenz). All die­sen Fi­gu­ren ist ge­mein, dass sie heu­te noch Er­in­ne­run­gen her­vor­ru­fen und Re­fe­renz­grö­ßen der deut­schen Nach­kriegsliteratur wie selbst­ver­ständ­lich her­bei­zi­tiert wer­den. Aber wer kennt ei­gent­lich Joa­chim Las­sehn, den De­ser­teur aus Heinz Reins »Fi­na­le Ber­lin«? und wer kennt die­ses Buch, das be­reits 1947 er­schie­nen war und ve­he­ment-dra­sti­scher Spra­che die Schrecken des Krie­ges nicht nur er­zähl­te, son­dern vor dem Le­ser fast aus­spie?

Si­cher­lich, ver­ges­se­ne Bü­cher mit ver­ges­se­nen Schrift­stel­lern aus die­ser Zeit gibt es vie­le. Ne­ben Heinz Rein fal­len ei­nem auf An­hieb Hans Scholz (»Am grü­nen Strand der Spree« [die­ses Buch wur­de in den 1960er Jah­ren er­folg­reich für das Fern­se­hen ver­filmt]), Pe­ter Bamm und Hans Hell­mut Kirst ein, die al­le­samt mit dem Vor­wurf des Tri­vi­al­au­tors zu kämp­fen hat­ten. Aber auch äs­the­tisch an­spruchs­vol­le­re Au­toren wie Gert Le­dig und Jo­sef W. Jan­ker gin­gen im Li­te­ra­tur­be­trieb un­ter, vor al­lem weil sie nicht in das äs­the­ti­sche Kon­zept der Grup­pe 47 hin­ein­pass­ten, ei­ner in­for­mel­len Ver­ei­ni­gung, die suk­zes­si­ve die Ho­heit über die deut­sche Nach­kriegs­li­te­ra­tur über­nahm und schon vor der Usur­pie­rung durch die Kri­ti­ker-Vie­rer­ban­de (Reich-Ra­nicki, May­er, Kai­ser, Jens) ei­ne macht­vol­le Po­si­ti­on ein­nahm. Wer heu­te den Ka­non durch­schaut, den die­se We­ni­gen auf­ge­stellt ha­ben, ent­deckt über­all die im­mer­glei­chen Na­men: Hein­rich Böll, Gün­ter Eich, Gün­ter Grass, Al­fred An­dersch, Il­se Ai­chin­ger, In­ge­borg Bach­mann, Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger, Mar­tin Wal­ser (der ei­gent­lich als »grup­pen­frem­der« Au­tor galt), ein biss­chen Wolf­diet­rich Schnur­re und Wal­ter Höl­le­rer noch. Al­le­samt Au­toren, die an den Sit­zun­gen der Grup­pe 47 zum Teil re­gel­mä­ssig teil­nah­men und da­durch bis heu­te das li­te­ra­ri­sche Bild der 1950er und 1960er Jah­re in Deutsch­land präg­ten.

Ach­te­te man pein­lichst dar­auf, kei­ne na­zi­be­la­ste­ten Schrei­ber in der Grup­pe zu ha­ben (was, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, gründ­lich miss­lang), so konn­te man je­doch als Op­fer, das nicht den sol­da­ti­schen Weg ein­ge­schla­gen hat­te, kaum re­üs­sie­ren, wie am Bei­spiel Paul Ce­lan deut­lich wur­de. Exi­lan­ten mied man of­fi­zi­ell aus äs­the­ti­schen Grün­den – in Wahr­heit woll­ten sich die­se in der Re­gel nicht mit Wehr­macht­sol­da­ten oder »In­ne­ren Emi­gran­ten« mes­sen. Am­bi­tio­nier­te Pro­sa, die sich von der dem Rea­lis­mus ver­pflich­te­ten so­ge­nann­ten Trüm­mer­li­te­ra­tur ab­wi­chen, hat­te eben­falls kei­ne Chan­ce; sie wa­ren auf Für­spra­che au­ßer­halb der Grup­pe an­ge­wie­sen, was bei ei­ni­gen Aus­nah­men (Koep­pen, Sieg­fried Lenz) ge­lang.

Höl­len­ge­wit­ter oh­ne Scheu vor Pa­thos

So ist es nicht über­ra­schend, dass Heinz Rein, der Au­tor von »Fi­na­le Ber­lin«, nie­mals in der Grup­pe 47 ge­le­sen hat. Sein Ro­man ent­sprach mit sei­nem der­ben Splat­ter-Ex­pre­s­­sio­nis­mus nicht dem Ge­schmack der Grup­pe, die es vor­zog, den deut­schen Sol­da­ten nach dem Krieg als Op­fer der Um­stän­de dar­zu­stel­len. Reins Buch da­ge­gen zeigt in ex­pres­si­ven, zum Teil pa­the­tisch-bru­ta­len Bil­dern ein Ber­lin vom 15. April 1945 bis zur Ka­pi­tu­la­ti­on am 2. Mai. Es ist ein Ber­lin der Stra­ßen- spä­ter so­gar Häu­ser­kämp­fe – ei­ne Be­völ­ke­rung ein­ge­presst zwi­schen Ro­ter Ar­mee und rück­sichts­los ge­gen die ei­ge­ne Zi­vil­be­völ­ke­rung vor­ge­hen­der SS-Trup­pen. Es ist ein Ber­lin der bis zum Schluss an den Sieg Glau­ben­den, ein Ber­lin, das am En­de groß­flä­chig in Schutt und Asche liegt, über­sät mit Lei­chen bzw. Lei­chen­tei­len. Rein ent­wickelt ei­ne To­po­gra­phie des Schreckens; wer möch­te, kann Trup­pen- und Kampf­be­we­gun­gen auf ei­ner Kar­te ge­nau nach­voll­zie­hen. Ber­lin wird zur Höl­le, bar je­der Zi­vi­li­sa­ti­on.

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Fried­rich Helms: Ta­ge­bü­cher 1945 / 1946–47

Friedrich Helms Tagebuch Wilhelmshorst 1945
Fried­rich Helms
Ta­ge­buch Wil­helms­horst 1945

Fried­rich Helms wur­de 1883 ge­bo­ren. Er leb­te in Ber­lin, wur­de dann, 1945, aus­ge­bombt und zog in sein Gar­ten­haus nach Wil­helms­horst bei Pots­dam. Helms war da­mals über 40 Jah­re in Dien­sten der Deut­schen Bank, zum Schluss als »Di­rek­tor«. Sei­ne Frau Ma­rie war 12 Jah­re jün­ger als er. Sie war »Pg«, al­so Mit­glied der NSDAP. Helms sel­ber wird als deutsch­na­tio­na­ler So­zi­al­de­mo­krat be­schrie­ben; er war Frei­mau­rer. Das Paar hat­te zwei Töch­ter. Viel weiß man über die­se Fa­mi­lie nicht. Fried­rich Helms führ­te Ta­ge­buch. Dies kam ir­gend­wann in den Be­sitz von Wal­ter Kem­powski, der in sei­nem »Echo­lot« »Abgesang’45« ein klei­nes Stück aus Helms’ Ta­ge­buch zi­tier­te. Der Pu­bli­zist und Ver­le­ger To­bi­as Wim­bau­er nahm sich des Ta­ge­buchs an und gab in sei­nem lei­der kürz­lich ge­schlos­se­nen »Eisenhut«-Verlag bis­her zwei Bän­de her­aus. Der er­ste um­fasst die Zeit von April bis De­zem­ber 1945; er setzt fast mit der Ka­pi­tu­la­ti­on des Deut­schen Reichs ein. Der zwei­te Band um­fasst die Jah­re 1946 und 1947.

In An­be­tracht des 70. Jah­res­ta­ges des En­des des Zwei­ten Welt­kriegs wur­de man me­di­al um­fang­reich ver­sorgt. Bei al­ler Aus­führ­lich­keit in den Schil­de­run­gen der letz­ten Ta­ge des Na­zi-Re­gimes und der an­schlie­ßen­den Be­sat­zung nebst geo­po­li­ti­scher Si­tua­ti­on blieb die Zeit un­mit­tel­bar nach dem Kriegs­en­de selt­sam dun­kel. Zwar gilt die Phra­se der »Stun­de Null« längst als wi­der­legt, aber was tat­säch­lich da­mals ge­schah wur­de in der po­pu­lä­ren und pu­bli­zi­sti­schen Ge­schichts­schrei­bung kaum be­han­delt. Es ging dann ir­gend­wie mit der Wäh­rungs­re­form 1948 und dem Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik 1949 wei­ter.

Der Grund für die­se Leer­stel­le liegt auch dar­in, dass die Schil­de­run­gen der Pro­ble­me der Be­völ­ke­rung un­mit­tel­bar nach dem Krieg sehr schnell als Ge­schichts­re­vi­sio­nis­mus hät­te aus­ge­legt wer­den kön­nen. Die­se Be­fürch­tun­gen gab es ja auch bei an­de­ren Themen­bereichen wie Ver­trei­bung und Bom­ben­krieg. Al­les, was nur im Ent­fern­te­sten das Tä­ter­volk hät­te als Op­fer dar­stel­len kön­nen, galt es zu ver­mei­den. Hin­zu kam, dass die nach­fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen oft ge­nau die­se Er­zäh­lun­gen von ih­ren El­tern und Groß­eltern hör­ten und als Ab­len­kungs­ma­nö­ver ei­ner even­tu­el­len Mit­schuld in­ter­pre­tier­ten.

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Ur­su­la Kre­chel: Land­ge­richt

Ursula Krechel: Landgericht
Ur­su­la Kre­chel: Land­ge­richt
Ri­chard Kor­nit­zer ist 1903 ge­bo­ren, stu­diert Ju­ra, lebt in Ber­lin und will un­be­dingt Rich­ter wer­den. Er pro­mo­viert, wird Mit­glied der Pa­tent- und Ur­he­ber­rechts­kam­mer beim Land­ge­richt I in Ber­lin und hei­ra­tet 1930 Clai­re Pahl. Clai­re ist Ge­schäfts­füh­re­rin ei­ner Fir­ma, die Wer­bung für Ki­nos pro­du­ziert. Al­les läuft be­stens. Sie be­kom­men zwei Kin­der, Ge­org (1932) und Sel­ma (1935). Aber bei Sel­mas Ge­burt ist das Le­ben der Kor­nit­zer be­reits exi­sten­ti­ell be­droht, denn Ri­chard ist das, was man im Na­zi-Jar­gon ei­nen Voll­ju­den nennt. Da spielt es auch kei­ne Rol­le, dass er sich nicht ein­mal als ein rich­ti­ger Ju­de fühl­te (er be­zeichnet sich als Ju­de von Hit­lers Gna­den). Das Paar er­lebt die im­mer per­fi­der wer­den­den »Ge­set­ze« und »Ver­ord­nun­gen«, die ge­gen Ju­den seit 1933 in Kraft ge­setzt wer­den. Ri­chard wird schnell in den Ru­he­stand ver­setzt und ar­bei­tet in ei­ner Glüh­lam­pen­fa­brik. Clai­re wird auf schmut­zi­ge Art und Wei­se ih­re Fir­ma ab­ge­nom­men, weil sie, die Protes­tantin, zu ih­rem Mann steht und sich nicht schei­den läßt. Man spürt förm­lich, wie die Luft zu At­men schwin­det und die Dro­hun­gen phy­si­scher wer­den. Auch die Frei­zeit hat ih­re Un­be­schwert­heit längst ver­lo­ren. Ge­stern noch im Wann­see ge­ba­det, ist dies am näch­sten Tag plötz­lich ver­bo­ten. Rüh­rend, wie Clai­re ein an­de­res Frei­bad sucht.

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»Im Kel­ler die Be­sti­en«

Vor­läu­fi­ger Ver­such über den ver­fem­ten Schrift­stel­ler Gerd Gai­ser

Auf den Nach­ruf zum Tod des Schrift­stel­lers Jo­sef W. Jan­ker er­hielt ich ei­nen Kom­men­tar von »zone­batt­ler« Ralph Sten­zel. Ralph hat­te sich 2007 in ei­nem kur­zen Bei­trag mit ei­nem ge­wis­sen Gerd Gai­ser be­schäf­tigt und mach­te mich auf auf­fäl­li­ge Par­al­le­len zwi­schen Jan­ker und Gai­ser auf­merk­sam. Das klang in­ter­es­sant und Ralph war so freund­lich, mir zwei an­ti­qua­ri­sche Bü­cher von Gai­ser zu­zu­sen­den: »Die ster­ben­de Jagd« und »Schluß­ball«.

Es ist nicht ganz ein­fach, ver­wert­ba­re In­for­ma­tio­nen über Gai­ser zu er­hal­ten. Das be­ginnt schon bei den An­ga­ben zur Per­son. Haupt­quel­le ist hier ein eher be­schei­de­ner Wi­ki­pe­dia-Ein­trag. Dem­nach wur­de Gerd Gai­ser 1908 als Sohn ei­nes Land­pfar­rers im württembergi­schen Ober­ri­ex­in­gen ge­bo­ren, stu­dier­te Kunst­ge­schich­te und Ma­le­rei, pro­mo­vier­te 1934 in Tü­bin­gen und ar­bei­te­te als Kunst­leh­rer. Gai­ser trat früh­zei­tig der NSDAP und dem NS-Leh­rer­bund bei (die Zah­len di­ver­gie­ren hier zwi­schen 1933 und 1937). 1941 er­schien sei­ne er­ste Buch­pu­bli­ka­ti­on – ein Ge­dicht­band mit dem Ti­tel »Rei­ter am Him­mel«. Gai­ser übt sich hier in Elo­gen an die Ideo­lo­gie des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und an den »Füh­rer«. Im Krieg war er Luft­waf­fen­of­fi­zier bei den Jagd­flie­gern und ge­riet in Ita­li­en in kur­zer Gefangen­schaft. Nach dem Krieg schlug sich Gai­ser zu­nächst als Ma­ler durch, be­vor er 1947 wie­der in den Schul­dienst ein­trat und zwi­schen 1962 und 1973 als Pro­fes­sor für Kunst­ge­schich­te in Reut­lin­gen tä­tig war. Gai­ser hei­ra­te­te 1959 die Ma­le­rin Ire­ne Wid­mann. Er starb 1976 in Reut­lin­gen.

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Bern­hard Ju­dex: Tho­mas Bern­hard. Epo­che – Werk – Wir­kung

Bernhard Judex: Thomas Bernhard. Epoche – Werk - Wirkung
Bern­hard Ju­dex: Tho­mas Bern­hard. Epo­che – Werk – Wir­kung
2011 ist Tho­mas-Bern­hard-Ju­bi­lä­ums­jahr. Ei­ne Flut von Auf­sät­zen und Bü­chern dürf­te zum 80. Ge­burts­tag ins Haus ste­hen. Da ist es gut, im Vor­feld Bern­hard Ju­dex’ Buch über Werk und Wir­kung des öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lers ge­le­sen zu ha­ben. Das Buch ist in fünf Ka­pi­tel un­ter­teilt, die Schwer­punk­te set­zen und ex­em­pla­risch für Bern­hards Le­ben (Ka­pi­tel 1) und Werk (Ka­pi­tel 2–5) ste­hen sol­len. In der Werk­be­trach­tung bleibt Ju­dex chro­no­lo­gisch, was sich bei Bern­hard, der ge­wis­sen Ent­wick­lun­gen un­ter­wor­fen ist, durch­aus an­bie­tet. Zu­nächst wird die (sehr frü­he) Ly­rik , dann die Ro­ma­ne »Frost« und »Kor­rek­tur« so­wie die Er­zäh­lun­gen »Die Müt­ze« und »Der Kul­te­rer« re­prä­sen­ta­tiv für die Schaf­fens­pe­ri­ode bis 1975 be­han­delt. Von den Thea­ter­stücken wid­met sich Ju­dex dem Erst­ling »Der Igno­rant und der Wahn­sin­ni­ge« und dem nach »Hel­den­platz« wohl be­kann­te­sten Stück »Der Thea­ter­ma­cher« ein­ge­hend. Voll­kom­men zu recht räumt er dann im vier­ten Ka­pi­tel den au­to­bio­gra­fi­schen Er­zäh­lun­gen »Die Ur­sa­che«, »Der Kel­ler«, »Der Atem«, »Die Käl­te« und »Das Kind« (er­schie­nen von 1975–82) den ent­spre­chen­den Raum ein. Für das Spät­werk wer­den dann »Die Aus­lö­schung« und das Skan­da­lon »Hel­den­platz« un­ter­sucht.

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