Friedrich Helms wurde 1883 geboren. Er lebte in Berlin, wurde dann, 1945, ausgebombt und zog in sein Gartenhaus nach Wilhelmshorst bei Potsdam. Helms war damals über 40 Jahre in Diensten der Deutschen Bank, zum Schluss als »Direktor«. Seine Frau Marie war 12 Jahre jünger als er. Sie war »Pg«, also Mitglied der NSDAP. Helms selber wird als deutschnationaler Sozialdemokrat beschrieben; er war Freimaurer. Das Paar hatte zwei Töchter. Viel weiß man über diese Familie nicht. Friedrich Helms führte Tagebuch. Dies kam irgendwann in den Besitz von Walter Kempowski, der in seinem »Echolot« »Abgesang’45« ein kleines Stück aus Helms’ Tagebuch zitierte. Der Publizist und Verleger Tobias Wimbauer nahm sich des Tagebuchs an und gab in seinem leider kürzlich geschlossenen »Eisenhut«-Verlag bisher zwei Bände heraus. Der erste umfasst die Zeit von April bis Dezember 1945; er setzt fast mit der Kapitulation des Deutschen Reichs ein. Der zweite Band umfasst die Jahre 1946 und 1947.
In Anbetracht des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs wurde man medial umfangreich versorgt. Bei aller Ausführlichkeit in den Schilderungen der letzten Tage des Nazi-Regimes und der anschließenden Besatzung nebst geopolitischer Situation blieb die Zeit unmittelbar nach dem Kriegsende seltsam dunkel. Zwar gilt die Phrase der »Stunde Null« längst als widerlegt, aber was tatsächlich damals geschah wurde in der populären und publizistischen Geschichtsschreibung kaum behandelt. Es ging dann irgendwie mit der Währungsreform 1948 und dem Grundgesetz der Bundesrepublik 1949 weiter.
Der Grund für diese Leerstelle liegt auch darin, dass die Schilderungen der Probleme der Bevölkerung unmittelbar nach dem Krieg sehr schnell als Geschichtsrevisionismus hätte ausgelegt werden können. Diese Befürchtungen gab es ja auch bei anderen Themenbereichen wie Vertreibung und Bombenkrieg. Alles, was nur im Entferntesten das Tätervolk hätte als Opfer darstellen können, galt es zu vermeiden. Hinzu kam, dass die nachfolgenden Generationen oft genau diese Erzählungen von ihren Eltern und Großeltern hörten und als Ablenkungsmanöver einer eventuellen Mitschuld interpretierten.
70 Jahre später ist eine Stimme aus dem Interregnum der Jahre 1945–47 fast immer noch etwas Besonderes. Zumal es sich bei dem Tagebuchschreiber um eine weithin »neutrale« Person handelt. Helms verweigert sich der gängigen Dichotomie: Er ist weder Täter noch als Opfer. Somit ist der Leser nicht geneigt oder sogar gezwungen, sich während der Lektüre in irgendeiner Form zu verhalten. Empörung oder Empathie überlagern nicht den Lektüreeindruck. Der Leser kann sich dem Alltag der Kleinfamilie zuwenden. Dabei darf man nicht vergessen, dass die Ungewissheiten in die Zukunft damals groß waren. Wir, die Leser, wissen ganz genau was damals geschah bzw. wir können es genau rekapitulieren. Aber für jemanden wie Helms war dies vollkommen ungewiss.
Daher muss man auch die Verbitterung, die sich immer wieder in die Notizen einschleicht, entsprechend einordnen. Den Krieg verabscheute Helms, aber dem Frieden traute er nicht. Wilhelmshorst ist wie auch das benachbarte Potsdam sowjetisch besetzt. Erstaunlich früh erkennt er, dass sich Sowjets sich von den politischen Massnahmen der anderen Alliierten absetzten und eine Abspaltung droht. Zudem wirkt auch die Nazi-Propaganda; Gerüchte über Übergriffe und Vergewaltigungen machen schnell die Runde. Es passiert zwar nichts dergleichen bei ihm und Helms wundert sich, wie adrett die »Russen« gekleidet sind, während die Wehrmacht-Soldaten der letzten Tage zerlumpt daherkamen, aber von kleineren Diebstählen und Requirierungen bleibt er auch nicht verschont. Immerhin: Fast immer, wenn man ihm etwas nahm, gab es eine kleine Essensportion als Ersatz.
Bereits im Sommer 1945 nimmt er mit einem reparaturanfälligen Fahrrad bereits wieder seine Arbeit auf und fährt nach Potsdam zu seiner Bankfiliale; gelegentlich sogar zur Zentrale nach Berlin. Züge verkehren kaum; später wird es nicht besser, bis 1947 hinein werden die Verspätungen oft in Stunden gemessen. Die Strapazen sind enorm; das Fahrrad streikt oft genug, Ersatzteile gibt es kaum. Dann muss der Weg zu Fuß bewältigt werden. Irgendwann schafft Helms eine Strecke in 100 Minuten. Die Arbeit selber ist öde; es gibt kaum etwas zu tun. Bankgeschäfte finden nicht statt. Heimliches Zentrum der Bürobesuche ist eine Art Küche, wo es eine warme Mittagsmahlzeit gibt. Stellenangebote der Bank an andere Orte lehnte Helms zunächst ab; später, als er seine Meinung ändert, war es zu spät. Irgendwann verfügt die russische Besatzung die Auflösung von Banken. Bis Ende 1947 ist Helms aber noch in Arbeit; die Auflösungen zeigen sich als langer, quälender Prozess. Zweimal muss er umziehen. Am Ende sitzt er allein in einem Büro, muss Schreibmaschine lernen und ist für die Rückgabe der aus den Depots und Tresoren requirierten und für die Besatzungsmacht wertlosen Gegenstände an die ursprünglichen Besitzer zuständig.
Dennoch gibt es zuverlässig ein monatliches Gehalt. Alleine: Das Geld ist zunächst praktisch nichts wert, da es Lebensmittel nur als Zuteilung gibt. Selbst Lebensmittelkarten gibt es nicht. Die Versorgung durch die Besatzer funktioniert nur ungenügend; auch dies ein Kontinuum bis Ende 1947. Stets droht der Hunger und – für den Winter – Kälte. Helms organisiert Brennholz, führt akribisch darüber Buch – um dann festzustellen, dass die Vorräte schneller aufgebraucht werden als gedacht. Er betreibt einen Gemüsegarten, hadert mit den trockenen Sommern, der Wassersperre, die oft schon um 6 Uhr morgens einsetzt und beäugt argwöhnisch »Erntefeinde« wie beispielsweise Spatzen. Damit diese nicht einen Brutkasten nutzen können, stopft er eine Kartoffel in das Einflugloch. Seine Frau näht, geht und fährt zu Bekannten, organisiert zusätzlich Lebensmittel und andere wichtige Gebrauchsgegenstände wie Kerzen oder Streichhölzer. Später kaufen sie von Helms’ Gehalt und ihren Ersparnissen auf dem Schwarzmarkt ein. Über die schwankenden Preise könnte man interessante Statistiken anlegen. Ein Pfund Speck kostet ein Monatsgehalt. Die Helms’ verkaufen im Laufe der Jahre Einrichtungsgegenstände und Möbel, worüber sie mit ihren Kindern, die in Uelzen wohnen und die ihre Eltern leidlich mit Lebensmitteln unterstützen, zwischenzeitlich in Streit geraten, weil diese hofften, später zu erben.
Immer wieder werden die beiden von den Besatzungstruppen zu ein- oder zweitägigen Zwangsarbeiten herangezogen. Hinzu kommt, dass Marie Helms’ Parteizugehörigkeit zu drastischeren Einsätzen führt, die aber zumeist nur angedeutet werden. Später vermutet Helms Maries Parteizugehörigkeit als den Grund, warum er keine weitere Beschäftigung mehr in der Bank bekommt.
Helms ist das, was man einen Bildungsbürger nennt, was sich nicht zuletzt an zahlreichen Zitaten zeigt, die er in die Notizen einflechtet. Er dichtet auch selber; meist jedoch Knittelverse, zuweilen arg holprig. Aber Helms ist kein Intellektueller. Wer am laufenden Band brillante Bilder, geistreiche Aphorismen oder tiefschürfende gesellschaftliche Reflexionen erhofft, wird enttäuscht werden. Selektiv kommentiert Helms das Zeitgeschehen. Besonders aufmerksam verfolgt er die sukzessive Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED. Auch die Nürnberger Prozesse beobachtet er. Einerseits sieht er hier eine Siegerjustiz walten, andererseits begrüßt er jedoch die Todesurteile, weil er damit eine Art Schlußstrich gezogen haben möchte. In den Chor der Entrüstung in seinem Umfeld als drei Angeklagte freigesprochen werden, stimmt auch er ein. Seine deutschnationale Gesinnung zeigt Helms, wenn es um das Schicksal Deutschlands in Vier- oder Dreimächtegesprächen geht. »Vae victis« ist eines seiner Kapitel überschrieben – »Wehe den Besiegten«. Fast scheint er einen imaginären Tausch anzustreben: Die Todesurteile der Verbrecher von Nürnberg – und dann wieder zurück zur Vergangenheit. Fast kindlich beschwört er die Friedenszeit und entbehrt am meisten die »Pulle Mosel«. Und wenn es am schlimmsten wird, idealisiert er das »Früher« – seine Jugend im Kaiserreich vor 1914!
Helms, der ehemalige Bankdirektor und Gedichteleser, ist zurückgeworfen auf eine agrokulturelle Welt voller Ungewissheiten. Diese Situation macht seine Notate unmittelbar, geradezu wahrhaftig. Rücksichten auf irgendwelche Befindlichkeiten braucht er nicht zu nehmen, obwohl er durchaus mit der Idee kokettiert, später könnten sich Menschen für dieses Tagebuch interessieren (dafür sprechen auch die Markierungen, die Helms anbringt). Helms klagt zwar auch, aber es ist eben nicht die Klage eines Intellektuellen um irgendeine nicht gelungene Pointe, sondern die eines Menschen, der die Kartoffelernte in seinem Garten existentiell benötigt.
Weder Opfer, noch Täter und kein Intellektueller – Helms ist eine Alltagsfigur, aber tief im 19. Jahrhundert verhaftet. Er ist uns heute vollkommen entrückt, seine Probleme sind uns fremd. Niemand muss sich mehr über seinen Gemüsegarten sein Überleben sichern. Helms ist keine Identifikationsfigur, ja manchmal fast unsympathisch. So ist mir seine Klage um die vermeintlichen Beckmessereien und Idiosynkrasien seiner Frau suspekt. Er beklagt sich, nicht pünktlich und vor allem abwechslungsreich bekocht zu werden. Als Marie zur Verwandtschaft nach Uelzen fährt, bekocht ihn eine Kriegerwitwe mit großem Einfallsreichtum, was ihn in Bezug auf seine Frau noch nörgeliger werden lässt. Die Mehrzahl seiner Gedichte sind eher furchtbar. Eine Ausnahme gibt es hier allerdings: Es ist ein Gedicht mit dem Titel »Mitläufer«, in dem Helms ein Büschel Blätter im Herbstwird als »Mitläufer« deklariert und beschreibt. Hier tritt zum einzigen Mal ein wirkungsmächtiges Bild in das Tagebuch, dass eine gewisse Allegorie auf die eigene Existenz zulässt.
Oft genug resigniert Helms, der 1945 immerhin schon 62 Jahre alt ist, an den Umständen und schreibt sich seine deprimierenden Einsichten von der Seele. »Ein Leben ohne Ziel, ohne Nutzen«, so charakterisiert er noch 1947 sein Dasein. Auf der anderen Seite dann wieder fast kindliche Freude, wenn es mehr als fünf Quitten zu ernten gibt und die Erdbeeren und Äpfel als Vorräte verarbeitet wurden.
Die meisten Eintragungen sind diesen Alltagsphänomenen gewidmet. Hat man sich erst einmal auf diese etwas hermetische Ebene eingelassen (es gibt kaum regelmäßige soziale Kontakte der beiden), entsteht ein Sog, der einem durchaus fesselt.
Ein wenig störend ist es, wenn die eigentümlichen Abkürzungen Helms’ immer wieder in eckigen Klammern ergänzt werden, wie etwa im Fall von »M.« für Marie, seine Frau, die als »M[arie]« gedruckt wird. Eine einmalige Erwähnung von Helms’ Schreibweise bei dieser und ähnlichen Termini nebst dann Ausschreiben des Namens hätte den Lesefluss erleichtert. Aber das ist eine Petitesse. Wer an Zeitgeschichte interessiert ist, bekommt hochinteressanten Lesestoff für einen lächerlichen Preis von je EUR 4,99 pro Buch (Kindle). Durch das Ende des »Eisenhut«-Verlags ist die Fortsetzung der Publikation der Tagebücher leider ungewiss.
Das klingt nach einem sehr interessanten Buch. Schade um den feinen Eisenhut Verlag.
Herzlichen Dank für Ihre aufmerksame Lektüre und die schöne Rezension. Ich hoffe sehr, den Abschlussband der Tagebuchedition fertigstellen zu können. Einstweilen herzliche Grüsse und nochmal Dankesehr, TW