
Joachim Zelter: Einen Blick werfen

Einen »plakativen Text« kündigt das »Titel Magazin« an, der den »resignierten« Leser aufrütteln will. Ein alter Topos des Feuilletons wird da bedient: Man nimmt den Leser, der sich nicht wehren kann, in den Arm und spricht – natürlich ungefragt – für ihn. Nicht der einzige Trick. Denn was dann von Thor Kunkel folgt, ist ein hastig zusammengestoppeltes, larmoyantes Geplapper mit reichlich sachlichen Fehlern garniert. Das Protokoll eines Wutliteraten, der um Aufmerksamkeit winselt, in dem er möglichst drastisch diejenigen anschreit, deren Zuneigung er doch so ersehnt.
Früh wird klar: Es geht Kunkel überhaupt nicht um Literaturkritik. In seinem Text ist nicht ein Wort darüber zu finden. Es geht um das »Betriebssystem«, dieses ominöse Hin- und Hergeschacher, was sich zur Verblüffung vieler Jungliteraten jenseits sozialer Netzwerke abspielt. In Köln hat man dafür den Diminutiv »Klüngel« erfunden. Kunkel entdeckt den Klüngel immer wieder neu. So weit, so schlecht. Und so bekannt. Aber selektive Wahrnehmung ist immer der Freund des Verschwörungstheoretikers. Wo bleibt die fachliche Auseinandersetzung? Wo bleiben Hinweise auf eine alternative Literaturkritik jenseits der Lovenbergs, Radischs, Weidermanns und Schecks? Stattdessen greift er lieber in die Klischeekiste und suhlt sich in seinen Originalität simulierenden Invektiven. Man sieht ihn förmlich jauchzen, wie er eine schiefe Metapher an die andere klebt. Der Leser, zum Aufrütteln bestellt, gähnt und spendet sanftes Mitleid.
Während diverse Internetaktivisten mit ihren scheingewichtigen Prophezeiungen entweder das Netzparadies oder den Vorhof der Hölle ausgerufen haben und sogenannte »Alpha-Blogger«, die schon länger zumeist uninspiriert ihre Ich-AGs in Werbespots, Talkshows oder Onlinekolumnen pflegen und dabei nur einen reiz- und inhaltslosen Raum der Selbstreferentialität füllen (trauriger Höhepunkt war das lächerliche Internet-Manifest von 2009), schreibt Alban Nikolai Herbst seit sieben Jahren einen Weblog, der, würde man ihn ausdrucken wollen, inzwischen Arno-Schmidt-Ausmaße annehmen würde. Herbst, der Schriftsteller, betreibt (s)einen Literarischen Weblog. Zu lesen ist das virtuelle Konvolut seit 2004 unter dem wuchtigen Titel Die Dschungel. Anderswelt.; die Webadresse weist indes auf seinen Urheber hin (der längst nicht mehr der alleinige Autor ist). Auch wenn die zum Teil äußerst theoretische, ja distanzierte Betrachtung anderes vermuten lassen könnte: Herbst ist tief in sein Gewebe versunken, mit ihm und in ihm fast physisch infiltriert. Dabei ist auch dieser Blog von narzisstischen Selbstdarstellungen nicht frei, aber im Gegensatz zu den meisten ideologisch verbohrten Netztheoretikern mit ihren ehrpusseligen Alleinvertretungsansprüchen sind seine Reflexionen nicht nur lesbar, sondern werden in der täglichen Praxis versucht. Der Leser kann die Entwicklung des Denkens zum und über den Literarischen Weblog über die Jahre hinweg nicht nur nachlesen, sondern auch im Medium selber erfahren. Dies inklusive der fast zwangsläufig entstehenden Irrtümer und notwenigen Korrekturen. Die »Kleine Theorie des Literarischen Bloggens« ist inzwischen online auf 131 Texte angewachsen (Stand: 21. Oktober 2011). In der »edition taberna kritika« ist nun eine Paperback-Ausgabe mit 133 Texten auf rd. 130 Seiten erschienen.
Charlotte Roches Schlampenpalaver »Schoßgebete«, der neue Neo-Realismus der Literaturkritik und ein kleiner Ausflug
»Schoßgebete« berichtet von drei Tagen aus dem Leben der Elizabeth Kiehl (33), die mit ihrem Mann Georg (50) und 7jähriger Tochter Liza in einer »anale[n] Wohnung« in einer deutschen Großstadt in der »Jonathan-Safran-Foer-Ära« (d. i. die Gegenwart) lebt. Lizas Vater ist Elizabeths Fast-Ehemann Stefan. Fast-Ehemann, weil drei Brüder von Elizabeth bei der Anreise zur Hochzeit tödlich verunglückten; die Mutter wurde schwerverletzt. Die Hochzeit wurde abgesagt; die Beziehung zerbrach. Liza wurde, wie Elizabeth erzählt, praktisch als letztes Miteinander zwischen den beiden gezeugt. Fast gleichzeitig lernte Elizabeth den Galeristen Georg kennen, der damals noch mit einer anderen Frau verheiratet war und Vater vom fast gleichaltrigen Max ist. (Die Verwandtschaftsverhältnisse von Elizabeth sind noch komplizierter, weil ihre Mutter Liz mit drei Männern verheiratet war.)
»Literaturkritik – Eine Suche« ist mehr als nur eine Momentaufnahme aus dem »Betrieb«, der sich zumeist in Jammerei und mehr oder minder offener Publikumsbeschimpfung übt, wenn es um ihr Metier geht. Brigitte Schwens-Harrant, selbst Literaturkritikerin, liefert nicht nur eine profunde, wunderbar unaufgeregte Beschreibung des Ist-Zustandes, sondern entwickelt im weiteren Verlauf nichts Geringeres als eine Zukunftsperspektive für ihre Zunft. Dies alles in lakonischer und präziser Sprache, ohne in das abschreckende, letztlich nur selbstbeweihräuchernde Germanistensprech zu verfallen, welches sie berechtigterweise bei anderen moniert.
Es gibt schöne Gelassenheitsmomente der Autorin, etwa wenn sie die allgemeine Verunsicherung in der Branche mit dem Satz Achselzucken macht munter kommentiert. Schwens-Harrant zeigt zwar Verständnis für die schwierige Situation der Kritiker (niedrige Honorare, Sparzwänge in den Zeitungen, »Gesetze« des Betriebs) sieht aber keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Im Gegenteil: Während die Mitglieder des Literaturbetriebes damit beschäftigt sind, zu streiten, zu jammern oder einander an die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit ihres Tuns zu erinnern, sind die Leser dabei, sich via Internet Öffentlichkeit zu schaffen und auf eigene Faust Literaturvermittlung zu betreiben. Die Frage, was der Literatur eigentlich besseres passieren kann, als auf diese Weise Aufmerksamkeit zu bekommen, ist eben nicht ironisch gemeint.
Zugegeben, dieser Satz ist arg provokativ:
Der Literaturbetrieb hat das literarische Leben geradezu vernichtet.
Und Heinz Pleschinski relativiert ihn auch sofort wieder: Schuldige sind schwerlich zu benennen. Doch selbst der Literaturbetrieb ist nur ein winziges Segment im allgemeinen Trend zur Verflachung. Wer Buchinhalte referiert, erntet ein Gähnen – niemand will mehr ruhig zuhören – allein die Verkaufszahlen halten in Atem und fungieren als Qualitätssiegel. Der Kampf um den Absatz bestimmt alles. Lektoren und Verleger winken ab und das Vertriebspersonal senkt den Daumen, wenn ihnen ein sperriges Manuskript unter die Augen gerät.
So weit, so bekannt, möchte man meinen. Aber die weitere Lektüre des Artikels in der »Welt« (unter dem martialisch-trotzigen Titel »Wir müssen weiter ins Gefecht«) ist dennoch empfehlenswert und hebt sich von der allgemeinen Literaturkritik-Melancholie, welches im Moment die Feuilletons durchzieht (kein Wunder: die alten Männer treten ab und die Neuen sehen ihre Erbhöfe vor sich hin modernd), wohltuend ab.
Ein Schmierentheater
Vater und Tochter in der Küche. Er hat gerade die Java-Maschine programmiert und in wenigen Sekunden sprudelt ein Latte-Macchiato in ein Rosenthal-Glas. Die Tochter dreht ihre Haarspitzen.
Der Vorwurf des Plagiats ist der schlimmste, den man einem Schriftsteller machen kann. Daher sollte man mit solchen Beschuldigungen vorsichtig umgehen. Plagiatsgeschichten haben meist nicht nur Enthüllungscharakter. Die schlechten Enthüllungen denunzieren auch immer gleich mit. Es gibt zahlreiche Beispiele für Kampagnen, die gelegentlich durchaus die Intention hatten, Schriftsteller auch ökonomisch zu vernichten.
Die Definition von dem, was man »Plagiat« nennt, ist recht klar. Neben der rechtlichen Erklärung, gibt es auch eine ethische. Beide Interpretationen machen es so schwierig festzustellen, ob etwas Plagiat ist, ein Motiv verwandt wurde oder ob es eine Veränderung oder Weiterentwicklung eines Motives ist.
Deef Pirmasens hat in seinem Weblog »die gefühlskonserve« Helene Hegemanns Bestseller »Axolotl Roadkill« mit dem Buch »Strobo« des Bloggers »Airen« verglichen und verblüffende Parallelen festgestellt, die er ausführlich dokumentiert.