
Der Magier im Kreml
Der Magier im Kreml ist natürlich ein Roman, Geschrieben wurde er vom italo-schweizerischen Autor Giuliano da Empoli (Übersetzung aus dem Französischen von Michaela Meßner). Die einst gebetsmühlenartig vorgebrachte Erklärung, dass Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen rein zufällig seien, ist im Zeitalter des Doku-Dramas längst überholt. Stattdessen wird zu Beginn darauf hingewiesen, dass der Roman auf wahren Begebenheiten und realen Personen basiert, denen »ein Privatleben und erfundene Äußerungen zugeordnet« worden seien. Das war, wenn man sich die Weltliteratur ansieht, einige Jahrhunderte lang nicht ungewöhnlich. Shakespeare tat es mit Richard III., Schiller schrieb Wallenstein Texte zu, die er nicht wissen konnte und immer noch glauben Menschen, dass der Revolutionär Danton so gesprochen hat, wie man in Georg Büchners Stück nachlesen kann. Die Autoren konnten sich darauf verlassen, dass ihr Publikum die Fiktionalität innerhalb des historischen Umfelds verstand – und wenn nicht, war es eher bedeutungslos, weil es damals keine Horden von Schreibern gab, die zwischen Realität und Schriftstellerei nicht unterscheiden konnten.
Der Erzengel des Todes und sein (fiktiver) Berater
Damit der Roman nicht im Korsett der (bisher weitgehend unbekannten und daher eher trivialen) Realität erstickt, hat Empoli die Hauptfigur Wadim Baranow erfunden. Ein nicht näher vorgestellter Ich-Erzähler, der sich in Moskau aufhält, der »unergründlichen Hauptstadt einer neuen Epoche«, ist einerseits fasziniert von diesem geheimnisvollen Baranow, dem vor einiger Zeit demissionierten Berater des »Zaren« Wladimir Putin. Und er ist besessen von Jewgeni Samjatin, einem russischen Schiffbauingenieur und Schriftsteller (1884–1937), der in den 1920er Jahren den dystopischen Roman Wir verfasste und damit bei Stalin in Ungnade fiel. Es gibt in Empolis Roman, vage Interessenten an einer Neuauflage von Wir sowie einer Verfilmung, was als Ursache für den Aufenthalt genommen wird. Wann der Roman spielt bleibt unklar; es ist diffus vom Ukraine-Krieg in der Vergangenheit die Rede. So recht kommt der Erzähler nicht voran; er pflegt sein Außenseitertum obwohl (oder gerade weil?) er als Ausländer einer ständigen Überwachung zu unterliegen scheint (die Begleiter nennt er »Briefmarken«).
In den sozialen Netzwerken entdeckt er einen gewissen Nicolas Brandeis. Der Name erinnert an eine Figur aus einem Joseph-Roth-Roman und ist vor allem das Pseudonym, unter dem Baranow einst Essays, Aufsätze und ein Theaterstück veröffentlicht hatte. Brandeis’ Postings sind eher selten und meist geheimnisvoll. Ist es Baranow oder einfach nur irgendein Student, der das Pseudonym angenommen hat? Als Brandeis einen Satz aus Wir postet, wird er hellhörig. Er antwortet dem unbekannten Nutzer ebenfalls mit einem Zitat und rasch steht der Reporter in Baranows für russische Verhältnisse luxuriösen Anwesen außerhalb von Moskau.