Ab­dul­razak Gur­nah: Das ver­stei­ner­te Herz

Vor zwei Jah­ren pu­bli­zier­te der Pen­gu­in Ver­lag mit Nach­le­ben den vor­läu­fig letz­ten Ro­man des bri­tisch-san­­si­­ba­ri­­schen Schrift­stel­lers Ab­dul­razak Gur­nah. Mit Das ver­stei­ner­te Herz folgt jetzt der vor­letz­te Ro­man von 2017. Bei­de wur­den von Eva Bon­né über­setzt. Das ver­stei­ner­te Herz spannt ei­nen Bo­gen des Ich-Er­­zäh­­ler Sa­lim, um 1973 her­um ge­bo­ren (das er­rech­net man sich aus dem Er­zähl­ten) ...

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Flo­ri­an L. Ar­nold: Das flüch­ti­ge Licht

Florian L. Arnold: Das flüchtige Licht
Flo­ri­an L. Ar­nold:
Das flüch­ti­ge Licht

Es be­ginnt als Be­schwö­rung der un­be­schwer­ten Kind­heit in ei­ner Stadt, die nur aus ei­ner Stra­ße be­stand, über­all of­fe­ne Tü­ren, nichts blieb ge­heim und die »Welt blieb Welt, die Stadt blieb Stadt und am En­de ge­nüg­te es, die Stra­ße vom ei­nen En­de zum an­de­ren zu ge­hen und al­les zu wis­sen, was die Welt aus­mach­te«. Hier leb­ten sie, ei­ne »ver­schwo­re­ne Ge­mein­schaft, in der kein Platz war für Frem­de, auch nicht für den Rot­schopf En­zo«, der aus Ar­va­ne kam, ei­nem Vier­tel, in dem Ar­me wohn­ten und eben auch En­zo mit sei­ner Mut­ter, Der Va­ter, der gro­ße Renn­fah­rer San­dro Mai­ga, ver­un­glück­te bei ei­nem Au­to­rennen töd­lich; ein Po­kal und ei­ne Me­dail­le er­in­nern an fer­nen Ruhm. Aber En­zo, der »Zwerg«, der »Selt­sa­me«, der »Un­auf­fäl­li­ge«, der »Un­fall« ist ein Hart­näcki­ger, will da­zu ge­hö­ren, sucht Gi­an­ni und Elio und die gan­ze Ban­de im­mer wie­der auf, lässt nicht ver­trei­ben, lag »in den Bü­schen und sah zu, oh­ne ge­se­hen zu wer­den«, er, »der Lau­schen­de und Seh­nen­de« und Un­er­hör­te, den sie schließ­lich mit nie­de­ren, de­mü­ti­gen­den Auf­ga­ben be­dach­ten, weil sie ihn nicht los­wur­den. Und was die Ban­de dann am mei­sten er­reg­te war, »dass er al­le Zu­rück­wei­sun­gen, je­den Spott und je­des bö­se Wort ein­fach ein­steck­te, als ha­be er es lan­ge schon er­war­tet.«

En­zo »konn­te gut er­zäh­len« und »al­les Er­zäh­len und Ge­schich­ten­er­fin­den ist Gift. Ein Gift, das Men­schen zu Un­ver­nunft bringt, das Sehn­süch­te in die Köp­fe pflanzt« und es war Elio, der zu­erst da­von sprach, weg­zu­ge­hen und sie be­rau­schen sich dar­an mit wei­te­ren, er­fun­de­nen Ge­schich­ten und dann ist es En­zo, der als er­ster geht, plötz­lich nicht mehr da ist und es dau­ert ei­ne Wei­le, bis man sei­ne Ab­we­sen­heit be­merkt.

Flo­ri­an L. Ar­nolds neu­er Ro­man Das flüch­ti­ge Licht ent­wickelt so­fort ei­nen Sog, wo­zu auch der bal­la­des­ke Ein­stieg ge­hört. Da­nach wech­seln die Er­zähl­per­spek­ti­ven zwi­schen den ein­zel­nen Per­so­nen. Mal ist es En­zo, dann, vor­über­ge­hend, Gi­an­ni, spä­ter für kurz, ein be­rühm­ter Re­gis­seur und am En­de ei­ne un­be­nann­te Frau. Die­ses ka­lei­do­sko­pi­sche Er­zäh­len ver­schafft dem Ro­man Tie­fe und in den be­sten Mo­men­ten ei­ne Form von Drei­di­men­sio­na­li­tät.

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He­le­na Ad­ler: Mi­se­re­re

Helena Adler: Miserere
He­le­na Ad­ler: Mi­se­re­re

Oh­ne das klei­ne Nach­wort von Tho­mas Stad­ler sind es noch nicht ein­mal sieb­zig Sei­ten, die­se drei Er­zäh­lun­gen, die den (vor­läu­fi­gen?) Nach­lass der im Ja­nu­ar ver­stor­be­nen öster­rei­chi­schen Schrift­stel­le­rin He­le­na Ad­ler aus­ma­chen und die jetzt bei Jung und Jung, ih­rem Ver­lag, er­schei­nen. Sie wa­ren als Tei­le ei­nes Er­zähl­ban­des vor­ge­se­hen und ei­ne da­von, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia, woll­te He­le­na Ad­ler beim Bach­mann­preis 2023 le­sen, aber da­zu kam es nicht mehr, denn bei der Schrift­stel­le­rin wur­de ein Ge­hirn­tu­mor dia­gno­sti­ziert, der so­for­ti­ge Be­hand­lung ver­lang­te.

Lan­ge soll Ad­ler ge­schwankt ha­ben, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia als Bei­trag aus­zu­wäh­len oder die Er­zäh­lung, die zu Be­ginn ab­ge­druckt wird, Ein gu­ter Lapp in Un­ter­joch, die­ses herr­lich kom­po­nier­tes Schel­men­stück aus der öster­rei­chi­schen Pro­vinz, über ei­nen Jo­sef, von Be­ruf Mau­rer, der auch Hoch­zeits­la­der ist, ei­ne Art Ze­re­mo­nien­mei­ster. Jo­sef hat seit ge­rau­mer Zeit Kopf­schmer­zen, bis­wei­len Gleich­ge­wichts­pro­ble­me und vor ei­ni­gen Wo­chen sei­ne er­sten Be­strah­lun­gen im »Kalk­stein­sar­ko­pharg« er­hal­ten. Er ist »ei­ner, der nicht wi­der­spricht«, sei­ne Auf­ga­ben ge­wis­sen­haft er­füllt, und so wird es auch sein, als die Hoch­zeit des Bür­ger­mei­ster­soh­nes mit ei­ner Ma­ria an­steht, die schwan­ger ist. Jo­sefs Ver­pflich­tun­gen sind klar und doch hat er ne­ben sei­nem Tu­mor »ei­nen Plan« im Kopf. Zu­nächst gibt es aber noch ein paar def­ti­ge Schil­de­run­gen des »Brueghel’schen Hoch­zeit­s­pan­ora­mas«; es ist ei­ne Freu­de, dies zu le­sen, vor al­lem beim zwei­ten oder drit­ten Mal. Und das, ob­wohl man dann die wun­der­schö­ne Poin­te schon kennt, die hier na­tür­lich nicht ver­ra­ten wird.

Zwi­schen den bei­den grö­ße­ren Er­zäh­lun­gen fin­det sich mit Über die Er­de ei­ne noch nicht ein­mal drei­sei­ti­ge, stark ex­pres­sio­ni­sti­sche Skiz­ze von ho­her Kön­ner­schaft, in der ein »Nacht­schat­ten­ge­wächs im Ute­rus der Mut­ter« von ih­rer Tot­ge­burt (oder ist es ei­ne Ab­trei­bung?) er­zählt, die so­fort »un­ter die Er­de« führt und sie »verfault…und doch in al­ler Mun­de« führt.

Und dann das Hu­sa­ren­stück, das Zen­trum die­ses Ban­des, Mi­se­re­re Me­lan­cho­lia, ei­ne Er­zäh­lung, die in Kla­gen­furt für ei­nen hi­sto­ri­schen Mo­ment ge­sorgt hät­te (wie zu­letzt viel­leicht Ma­ja Ha­der­lap, oder, sehr lan­ge zu­rück­lie­gend, Her­mann Bur­ger), ein Text »wie ein Un­glück, das…schmerzt, wie der Tod ei­nes, den wir lie­ber hat­ten als uns«, ei­ne Pro­sa, die man mit En­thu­si­as­mus und De­mut und im Wis­sen um das Schick­sal der Au­torin mit Trau­er und Weh­mut le­sen wird und gleich­zei­tig im­mer wie­der neu an­fängt, gar nicht auf­hö­ren möch­te, im­mer neue Nu­an­cen ent­deckt.

Wes­sen ist nun der Schmerz bei der Lek­tü­re? Ei­ne Ich-Er­zäh­le­rin, sich selbst cha­rak­te­ri­sie­rend als »ab­ar­ti­ge Sün­de­rin«, ist be­ses­sen oder, bes­ser: wird be­herrscht von ei­nem Dä­mon, ei­ner Mi­schung aus Wol­per­tin­ger, Gnom und Me­phi­sto (er zi­tiert im­mer­hin Ho­mer und Dan­te). Er do­mi­niert sie »schlim­mer als der Va­ter und die Mut­ter zu­sam­men«, zwingt sie, ihr Le­ben zu re­ka­pi­tu­lie­ren, auch ih­re Lauf­bahn als Schrift­stel­le­rin, und da­bei stellt sie fest, dass der El­fen­bein­turm ein »Faul­turm« ge­we­sen war, »dort gär­te al­les vor sich hin« und sie wur­de »trä­ge und schwach«. Aus ih­rem Mund er­gießt sich ein­mal »Brack­was­ser«, sie wacht auf »mit dem Meer in mir, das mich ver­wäs­sert«. Kaf­kas Axt fin­det da­nach kein Eis mehr vor, aber zu­gleich be­kennt sie, in den »gro­ßen Tex­ten« da­heim zu sein.

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Ste­fan Gey­er: Der Stadt­wan­de­rer

Stefan Geyer: Der Stadtwanderer
Ste­fan Gey­er:
Der Stadt­wan­de­rer

»Denn tat­säch­lich ist es nicht mög­lich, län­ge­re Zeit zu ge­hen und zu den­ken in glei­cher In­ten­si­tät, ein­mal ge­hen wir in­ten­si­ver, aber den­ken nicht so in­ten­siv, wie wir ge­hen, dann den­ken wir in­ten­siv und ge­hen nicht so in­ten­siv wie wir den­ken…«, so Oeh­ler, Tho­mas Bern­hards Prot­ago­nist aus Ge­hen, aber da ist je­mand, der da­mit nichts an­fan­gen kann, und das ist Ste­fan Gey­er. Er dockt eher bei Ro­bert Wal­ser, Carl Se­lig oder Erich Käst­ner an, be­kennt, einst von ei­nem Buch des Nor­we­gers Er­ling Kag­ge zum Ge­hen an­ge­regt wor­den zu sein und be­schäf­tigt sich mit der »Spa­zier­gangs­wis­sen­schaft« von Lu­ci­us Bur­ck­hardt.

»Ich ge­he, um zu ge­hen«, so lau­tet der ober­ste Grund­satz der Geh-Phi­lo­so­phie des ehe­ma­li­gen Suhr­kamp-Mit­ar­bei­ters, der mehr die Vo­ka­bel des Spa­zie­rens als die des Wan­derns be­vor­zugt, auch wenn es schon mal 20 km sind, die da in und um Frank­furt her­um zu­rück­ge­legt wer­den. Und das un­ab­hän­gig vom Wet­ter; manch­mal reg­net es und ge­ra­de das mo­ti­viert ihn, auch, wenn er viel­leicht mit ei­nem Ka­ter auf­wacht. Dann fin­det sich bei ihm in den so­zia­len Netz­wer­ken die fast me­di­ta­ti­ve Ein­tra­gung à la »Schu­he schnü­ren, her­um­ge­hen, Kopf lüf­ten« (im Som­mer viel­leicht noch er­gänzt um ein »Hut auf«) – nicht sel­ten, wenn man sel­ber froh ist, bei die­sem Wet­ter nicht vor die Tür zu müs­sen.

Der Ex­trakt sei­ner Spa­zier­gän­ge liegt nun un­ter dem Ti­tel Der Stadt­wan­de­rer vor, fünf­zehn Tex­te mit Schil­de­run­gen durch be­kann­tes und un­be­kann­tes Ter­rain, quer­stadt­ein durch Stra­ßen­zü­ge, Klein­gar­ten­an­la­gen, Ein­kaufs­pas­sa­gen, Feld- und Wie­sen­we­ge, ir­gend­wann zwi­schen En­de 2021 und der un­mit­tel­ba­ren Ge­gen­wart. Wer wie ich als ge­le­gent­li­cher Buch­mes­sen­be­su­cher nur das Mes­se­ge­län­de und die Ge­gend um den zur ex­ter­ri­to­ria­len Dro­gen­sze­ne mu­tier­ten ver­wahr­lo­sten Frank­fur­ter Haupt­bahn­hof kennt, soll ei­nes Bes­se­ren be­lehrt wer­den.

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Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

Jenny Erpenbeck: Kairos
Jen­ny Er­pen­beck: Kai­ros

An­fang des Jah­res konn­te man in ei­nem bri­ti­schen Ar­ti­kel ei­ni­ges über die Ur­sa­chen des Be­deu­tungs­ver­lusts der deut­schen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur le­sen. Ein Ar­gu­ment war, dass es kaum noch zeit­ge­nös­si­sche deutsch(sprachig)e Au­toren ge­be, die über­setzt wür­den (ge­meint war na­tür­lich die Über­set­zung ins Eng­li­sche). Nach­träg­lich stellt sich her­aus, dass min­de­stens ei­ne deut­sche Au­torin über­se­hen wur­de, die seit Jah­ren flei­ßig über­setzt wird. Der eng­li­sche Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel weist 22 Spra­chen aus, was höchst be­acht­lich ist. Na­he­zu al­le Pro­sa von und ih­re vier Thea­ter­stücke sind zeit­nah ins Eng­li­sche über­setzt wor­den.

Die Au­torin heißt Jen­ny Er­pen­beck, wur­de 1967 in Ost-Ber­lin ge­bo­ren und ge­wann vor ei­ni­gen Wo­chen für ih­ren 2021 er­schie­ne­nen Ro­man Kai­ros den In­ter­na­tio­nal Boo­ker-Pri­ze. Es ist nicht so, dass Er­pen­beck in Deutsch­land un­be­kannt wä­re – die Rei­he ih­rer Prei­se und Aus­zeich­nun­gen ist an­sehn­lich, dar­un­ter der Tho­mas-Mann- und der In­ter­na­tio­na­le Ste­fan-Heym-Preis. 2015 stand Er­pen­beck auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses. Ehr­li­cher­wei­se muss man aber zu­ge­ben, dass das Feuil­le­ton bis­her nicht un­be­dingt sehn­süch­tig ih­re neu­en Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen er­war­tet hat. Die Aus­nah­me ist Vol­ker Wei­der­mann, der seit min­de­stens vier Jah­ren re­gel­mä­ßig er­klärt, dass Er­pen­beck bald den Li­te­ra­tur­no­bel­preis er­hal­ten wird. An­son­sten sind die Re­zen­sio­nen zu­meist wohl­wol­lend bis freund­lich; Ver­ris­se gab es sel­ten. Die auf­merk­sam­keits­för­dern­den und all­seits an­ge­se­he­nen deut­schen Li­te­ra­tur­prei­se hat Er­pen­beck al­ler­dings noch nicht be­kom­men.

Gilt al­so aber­mals, dass die Pro­phe­tin nichts im ei­ge­nen Land gilt? Und ist es ein deut­sches Spe­zi­fi­kum, dass ei­ne Au­torin, die in­ter­na­tio­nal Er­fol­ge vor­wei­sen kann, nicht ge­fei­ert, son­dern mit selbst­ge­fäl­li­ger Ar­ro­ganz, in der auch ei­ne ge­wis­se Por­ti­on Neid mit­schwin­gen dürf­te, be­dacht wird? So ver­fass­te Il­ko-Sa­scha Ko­wal­c­zuk ei­nen dif­fus an­kla­gen­den, fast zor­ni­gen Text, der ver­mut­lich ent­stand, weil sich Er­pen­beck in In­ter­views über ih­re man­geln­de li­te­ra­ri­sche An­er­ken­nung in Deutsch­land be­klagt hat­te (den Bun­des­ver­dienst­or­den der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land er­hielt sie im­mer­hin be­reits). Es wür­den, so soll sich Er­pen­beck ge­äu­ßert ha­ben, zu we­ni­ge ost­deut­sche Ju­ro­ren in den Ju­rys sit­zen. Ko­wal­c­zuk be­kennt mit gön­ner­haf­ter At­ti­tü­de, er le­se Er­pen­becks »Schrei­be« »nicht un­gern«, um dann sei­ne Vor­be­hal­te mit Er­pen­becks So­zia­li­sa­ti­on in der DDR zu be­grün­den. Et­li­che »ost­deut­sche« Preis­trä­ger wür­den zu­dem der The­se wi­der­spre­chen, dass es nicht an den Ju­ry-Be­set­zun­gen lie­gen wür­de und sug­ge­riert zwi­schen den Zei­len, dass die Zu­rück­hal­tung mit ei­ner ge­wis­sen »Ost­deutsch­tü­me­lei« in Er­pen­becks Li­te­ra­tur zu tun ha­ben könn­te, ei­ner »Sehn­sucht nach dem Ge­stern«. Dass auch an­de­re preis­ge­krön­te Au­toren aus der ehe­ma­li­gen DDR gibt, die ost­al­gisch schrei­ben, wird nicht the­ma­ti­siert.

Er­pen­beck sei in ei­ne kom­mu­ni­sti­sche Fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren wor­den, El­tern und Groß­el­tern hät­ten für DDR-Ver­hält­nis­se in ei­ner »Par­al­lel­welt« Pri­vi­le­gi­en ge­habt, so Ko­wal­c­zuk, der auch noch gleich ei­ge­ne Er­leb­nis­se ein­bringt, die ei­nen gro­ßen Kon­trast zu de­nen der Er­pen­becks dar­stel­len. Weil Er­pen­becks DDR-Bild nicht dem (wohl be­gründ­ba­ren) Ver­dam­mungs­ur­teil ent­spricht und sich die Au­torin ent­ge­gen den Usan­cen des Li­te­ra­tur­be­triebs über man­geln­de Wert­schät­zung be­klagt hat, sieht sich ein se­riö­ser Au­tor ge­nö­tigt, ei­ne Schrift­stel­le­rin – ja, was?, zu maß­re­geln? Es geht al­so nicht um Li­te­ra­tur, son­dern um ei­ne ab­stru­se Form von Sip­pen­haft. Grund ge­nug für mich, der au­ßer Er­pen­becks Text vom Bach­mann­preis 2001 noch nie et­was von ihr ge­le­sen hat­te, jetzt Kai­ros, das aus­ge­zeich­ne­te Buch, zu le­sen.

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Zur gü­ti­gen Aus­lö­schung

Delfi 02
Del­fi 02

Es muss­te ja so kom­men. Nach der an­spre­chen­den Aus­ga­be 01 mit zwei her­aus­ra­gen­den Tex­ten wirkt die zwei­te Aus­ga­be von Del­fi eher ma­ger. Wo­bei man in­di­rekt beim The­ma die­ses Hef­tes ist: Fleisch. Fleisch sei, so klin­gelt es im Edi­to­ri­al der Her­aus­ge­ber Fat­ma Ay­d­emir, Hen­g­ameh Yag­hoo­bi­fa­rah, En­ri­co Ip­po­li­to und Miryam Schell­bach, »in Wort und Sub­stanz fos­si­les Be­geh­ren. Es ist Ver­füh­rung und Pro­jek­ti­ons­flä­che.« Fleisch ist dem­nach nicht nur »ein Stück Le­bens­kraft« (© CMA-Wer­bung 1967ff), son­dern »schafft Sinn­lich­keit«. Und wei­ter heißt es, leicht heid­eg­gernd: »Fleisch ist…die Leit­me­ta­pher für den wo­gen­den, tä­ti­gen, sor­gen­den Leib der Be­ru­hi­gung, wir drücken uns an Brü­ste und le­gen den Kopf auf Schö­ßen ab.« Wie pro­gres­siv Kitsch for­mu­liert sein kann.

Mir hin­ge­gen fiel zu­nächst nur der Film von Rai­ner Er­ler aus 1979 mit dem Ti­tel Fleisch ein, in­dem es um Or­gan­han­del ging, und mit ihm be­gann die sehr lan­ge kol­por­tier­te Fa­ma vom ge­kid­napp­ten Mann aus dem Au­to oder vor dem Su­per­markt, der Stun­den spä­ter mit ei­ner gro­ßen Nar­be und oh­ne ei­ne Nie­re in ir­gend­ei­ner Ka­schem­me auf­wacht. Und nun al­so Fleisch als Mot­to, was, wenn man es nicht wüss­te, wäh­rend der Lek­tü­re ei­ni­ger­ma­ßen über­rascht. Zwar gibt es hier und da ei­ni­ge fleisch­li­che, zu­meist ho­mo­ero­ti­sche Epi­so­den (sie sind meist ähn­lich lang­wei­lig wie die Schil­de­run­gen he­te­ro­se­xu­el­len Ak­tio­nen in der deut­schen Li­te­ra­tur; wer will, kann das bei Rai­ner Mo­ritz nach­schla­gen), aber die wir­ken zum Teil ein biss­chen pflicht­schul­dig, et­wa in der Ge­schich­te um den Tod ei­ner Groß­mutter (Bur­çin Te­tik mit Se­hers Gar­ten) und den Evo­ka­tio­nen der Er­zäh­le­rin von ih­ren di­ver­sen Som­mern in Groß­mutter-Gar­ten. War­um frau dort nicht nä­her drauf- oder bes­ser noch: auf­ge­schaut hat? Die­se Groß­mutter hat mich so­fort in­ter­es­siert; sie starb viel zu früh. Scha­de.

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Me­la­nie Möl­ler: Der ent­mün­dig­te Le­ser

Na­tür­lich ist das Co­ver ei­ne Pro­vo­ka­ti­on. Der* ent_mündigte Lese:r steht dort. Drei Sym­bo­le der »Gen­der­spra­che« – Stern, Un­ter­strich, Dop­pel­punkt. Ent­we­der oder. Hier al­les auf ein­mal. »Für die Frei­heit der Li­te­ra­tur« lau­tet der Un­ter­ti­tel. Dem Buch vor­an­ge­stellt ist ein Aus­zug aus Kaf­kas Brief an Os­kar Pol­l­ak, je­ne be­rühm­te Stel­le, in der er er­klärt, wie ein Buch ...

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Alex­an­der Pech­mann: Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher

Alexander Pechmann: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Alex­an­der Pech­mann: Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher

Das Co­ver ist in exi­sten­tia­li­sti­schem Schwarz, zeigt zwei Hän­de, die ein auf­ge­schla­ge­nes Buch hal­ten. An­son­sten ist nichts mensch­li­ches zu se­hen. Dar­über steht der Ti­tel Die Bi­blio­thek der ver­lo­re­nen Bü­cher und man fragt sich zu­nächst, ob es nicht eher die Su­che nach dem ver­lo­re­nen Le­ser ist, aber das täuscht.

Alex­an­der Pech­mann ist der Au­tor, er ist Über­set­zer, Schrift­stel­ler und Her­aus­ge­ber und die­se Viel­sei­tig­keit merkt man die­sem Buch an. Es be­ginnt mit ei­ner Vor­re­de ei­nes fik­ti­ven, na­men­los blei­ben­den »Un­ter-Un­ter-Bi­blio­the­kars«, ei­nem ein­sa­men Re­gal­hü­ter der Bi­blio­thek der nicht ge­schrie­be­nen, ver­brann­ten oder ver­lo­re­nen Bü­cher. Man ist zu­nächst auf­ge­schreckt ob des plü­schi­gen Con­fé­ren­cier­tons, aber im Lau­fe der fol­gen­den drei­ßig Auf­sät­ze mel­det sich der Bi­blio­the­kar glück­li­cher­wei­se nur noch sel­ten und wenn, dann eher als Bot­schaf­ter der Mög­lich­kei­ten, denn er hat sie na­tür­lich al­le, die­se ge­heim­nis­vol­len, dem nor­ma­len Sterb­li­chen ver­bor­ge­nen Wer­ke der Welt­li­te­ra­tur.

Bis­wei­len gibt es ei­nen klei­nen Ein­blick in die ver­schol­le­nen Ma­nu­skrip­te, so bei In Bal­last to the White Sea von Mal­colm Lo­wry oder dem Stück ei­nes an­ti­ken Thea­ter­dich­ters aus Ab­de­ra. Und manch­mal greift der »Un­ter-Un­ter-Bi­blio­the­kar« auch in die Li­te­ra­tur­sze­ne ein, holt das ein oder an­de­re Ma­nu­skript aus sei­nem Be­stand und ver­steckt es der­art, dass es ir­gend­je­mand dann über­ra­schend »wie­der­fin­det«, wie et­wa Ma­ry Shel­leys Er­zäh­lung Mau­rice oder die Fi­scher­hüt­te, ei­ne Ent­deckung von 1997, recht­zei­tig zum 200. Ge­burts­tag der Au­torin.

Es gibt vie­le Grün­de, war­um Ma­nu­skrip­te und bis­wei­len Bü­cher auch be­kann­ter Schrift­stel­ler nicht (mehr) ver­füg­bar sind. He­ming­ways frü­he Auf­zeich­nun­gen gin­gen et­wa auf ei­nem Trans­port quer durch die Welt ver­lo­ren; er hat­te sich in­zwi­schen wei­ter­ent­wickelt und gräm­te sich kaum. Ähn­lich wie bei T. E. Law­rence, der sei­ne ver­schlamp­ten Ma­nu­skrip­te zu Die sie­ben Säu­len der Weis­heit aus dem Ge­dächt­nis re­kon­stru­ier­te. Häu­fig fie­len sie al­ler­dings der Ver­nich­tung durch den Au­tor sel­ber zum Op­fer, sei es aus po­li­ti­schen Grün­den (von Prot­agoras zu Ab­de­ra über Dr. John Dee [Shake­speares »Prospero«-Vorbild], Do­sto­jew­ski, Pusch­kin, ei­ni­ge von Tho­mas Manns Ta­ge­bü­chern bis Blai­se Cen­dars) oder weil der Ver­fas­ser nicht zu­frie­den war mit dem Ge­schrie­be­nen und aus Wut, Selbst­hass oder ein­fach nur zu viel Al­ko­hol zum »Au­to­da­fé« schritt, wie bei­spiels­wei­se Bal­zac bei sei­ner Er­zäh­lung Der Land­arzt oder Ja­mes Joy­ces Mo­nu­men­tal­ma­nu­skript Ste­phen Hero.

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