Alex­an­dra To­bor: Sit­zen vier Po­len im Au­to

Alexandra Tobor: Sitzen vier Polen im Auto
Alex­an­dra To­bor:
Sit­zen vier Po­len im Au­to
Das Buch der vor al­lem un­ter dem Pseud­onym si­lent­tiffy be­kann­ten Alex­an­dra To­bor mit dem selt­sam-al­ber­nen Ti­tel »Sit­zen vier Po­len im Au­to« be­ginnt 1986. Tscher­no­byl war ge­ra­de ex­plo­diert, aber Nichts ge­nau­es war hier­über be­kannt, au­ßer, dass man Jod neh­men soll­te. Al­eksan­dra, die al­le nur Ola nann­ten, ist fünf und der klei­ne Bru­der To­mek wur­de ge­bo­ren. Va­ter Pa­weł war In­ge­nieur in ei­ner Koh­le­gru­be und konn­te al­les re­pa­rie­ren, was nur ka­putt­ge­hen konn­te. Mut­ter Da­nu­ta war Leh­re­rin, was ihr spä­ter den Ti­tel Frau Pro­fes­sor ein­brach­te. Die wah­re Che­fin war Oma Gre­ta, de­ren Re­so­lut­heit sich Al­eksan­dra oft nur mit kind­li­chem Tot­stel­len ent­zie­hen konn­te. Es braucht nur we­ni­ger Mi­nu­ten Lek­tü­re, um in die pol­nisch-so­zia­li­sti­sche Welt En­de der 80er Jah­re ein­zu­tau­chen. Der Charme der Ich-Er­zäh­le­rin ist über­wäl­ti­gend.

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Die­ter Kühn: Den Mu­sil spreng ich in die Luft

Dieter Kühn: Den Musil spreng ich in die Luft
Die­ter Kühn:
Den Mu­sil spreng ich in die Luft
»Ge­fälsch­te Ge­schich­ten« un­ter­ti­telt Die­ter Kühn sei­nen Er­zähl­band »Den Mu­sil spreng ich in die Luft« – und ver­sieht die­se Gat­tungs­be­zeich­nung neckisch mit ei­nem Fra­ge­zei­chen. Der in­ter­es­sier­te Le­ser fragt sich zu­nächst, wer wohl Ro­bert Mu­sil in die Luft spren­gen will. Und als er dann die Über­schrift ei­ner an­de­ren Er­zäh­lung ent­deckt (»Ich ha­be Gö­ring schwer ge­schä­digt«), glaubt er auch schon zu wis­sen, um wen es sich han­delt. Da ist dann die Über­ra­schung groß, wenn es sich nicht um Ro­bert, son­dern um Alo­is Mu­sil han­delt, ei­nen Vet­ter des be­kannten Schrift­stel­lers. Und in der Gö­ring-Ge­schich­te geht es nur am Ran­de um Her­mann, der an­geb­lich ge­schä­digt wird, aber viel­mehr um des­sen Bru­der, ei­nem Geg­ner des Na­zi-Re­gimes, Al­bert.

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»Ins Hel­le, in den Tag«

Über den groß­ar­ti­gen Dich­ter Flor­jan Li­puš und sein fun­keln­des Sprach­kunst­werk »Bošt­jans Flug« [...] Nur ganz kurz, zu Be­ginn, wird da schein­bar ei­ne Mär­chen­welt er­zählt. Ein Na­tur­idyll evo­ziert. Man wird in den (fik­ti­ven) Ort Te­sen ver­setzt und be­glei­tet ei­nen Jun­gen mit dem Na­men Bošt­jan bei Ge­hen über die We­ge des Wal­des. An der Kreu­zung zum auch ...

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Frank Fi­scher: Welt­mül­ler

Frank Fischer: Weltmüller
Frank Fi­scher: Welt­mül­ler
Jo­han­nes Welt­mül­ler ist ein öster­rei­chi­scher Schau­spieler und Trä­ger Iff­land-Rings. Er wur­de von der be­kann­ten Nach­wuchs­re­gis­seu­rin Hen­ri­ke Zöll­ner für ih­re neue In­sze­nie­rung von Becketts »War­ten auf Go­dot« en­ga­giert. / In der Leip­zi­ger In­nen­stadt ist ein neu­es Kunst­werk mit dem Na­men »Län­der-Le­xi­con« sei­ner Be­stim­mung über­ge­ben wor­den. 192 Län­der wer­den durch 192 Ka­cheln mit je 10 mar­kan­ten Aus­sa­gen zum je­wei­li­gen Land sym­bo­li­siert. / Und ei­ne schlech­te Ko­pie der Ro­sen­ma­don­na des Ma­nie­ri­sten Fran­ces­co Maz­zo­la ge­nannt Par­mi­gia­ni­no wird bei Christie’s für 4.465 Pfund von ei­nem deut­schen Mu­se­ums­ku­ra­tor er­stei­gert.

Drei Kul­tur­er­eig­nis­se aus den Jah­ren 2010, 2007 und 2003 über die in aus­führ­li­chen Ar­ti­keln be­rich­tet wird. Recht schnell merkt der Le­ser, dass die­se Be­ge­ben­hei­ten ih­re Ge­schich­te ha­ben. / Welt­müller flüch­tet aus dem Schau­spiel­haus in ei­nem Ta­xi und ver­ur­sacht ei­nen Un­fall. / Die Tex­te der Ka­cheln des Kunst­wer­kes sind nicht nur kryp­tisch, son­dern va­ri­ie­ren so­gar auf selt­sa­me Wei­se ir­gend­wann. Aus­ge­rech­net auf der Ka­chel für Deutsch­land gibt es nicht zehn son­dern nur neun Hin­wei­se. Zu­dem di­stan­ziert sich der Künst­ler nicht nur von sei­nem Kunst­werk son­dern be­strei­tet so­gar sei­ne Ur­he­ber­schaft. / Und das Ori­gi­nal der Ro­sen­ma­don­na, wel­ches in Dres­den hängt, ent­puppt sich als Ko­pie, wäh­rend ei­ne als Ko­pie de­kla­rier­te Ro­sen­ma­don­na in Ita­li­en das Ori­gi­nal zu sein scheint.

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Aléa To­rik: Das Ge­räusch des Wer­dens

Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens
Aléa To­rik: Das Ge­räusch des Wer­dens
Das Dorf heißt Măr­gi­ni­me. Der Buch­sta­be »ă« sug­ge­riert, dass es sich um ei­nen Ort in Ru­mä­ni­en han­deln könn­te (tat­säch­lich exi­stiert dort ei­ne Art Re­gi­on, die den glei­chen Na­men trägt). Al­le We­ge füh­ren in dem Ro­man »Das Ge­räusch des Wer­dens« zu die­sem Măr­gi­ni­me und auch wie­der von ihm weg (zu­meist dann nach Ber­lin). Ma­ri­jan kommt zum Bei­spiel aus Măr­gi­ni­me und lebt nun in Ber­lin zu­sam­men mit Leo­nie, der Toch­ter von Liv, ei­ner Zahn­ärztin, und Va­len­tin, der vor vie­len Jah­ren eben­falls aus Măr­gi­ni­me kom­mend in Ber­lin aus­stieg ob­wohl er eigent­lich nach Pa­ris woll­te.

Al­ler­lei Ge­heim­nis­vol­les

Zu­nächst er­in­nert die von der al­ten Leh­re­rin er­zähl­te Grün­dungs­le­gen­de der Ort­schaft ein biss­chen an das be­rühm­te Ma­con­do. Es wird al­ler­lei ma­gisch-skur­ri­les er­zählt; der Tisch­ler – der Au­ßen­sei­ter in der Dorf­ge­mein­schaft (war­um ei­gent­lich? nur weil er schiel­te und/oder sein Haus et­was au­ßer­halb stand?) – schnitz­te sich sei­nen Sohn und plötz­lich wa­ren es Zwil­lin­ge. An­de­re Ge­rüch­te spe­ku­lie­ren um ei­ne ge­wis­se Pro­mis­kui­tät der Frau. Die Söh­ne be­kom­men den glei­chen Na­men – neh­men aber dann doch über­ra­schend voll­kom­men an­de­re Ent­wick­lun­gen. Ei­ner bricht in die Stadt auf (wel­che auch im­mer ge­meint sei), er­scheint nur noch spo­ra­disch im Dorf und wirkt wie ei­ne Mi­schung aus Ma­fio­si und He­xen­mei­ster.

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Hin­rich von Haa­ren: Brand­ha­gen

Hinrich von Haaren: Brandhagen
Hin­rich von Haa­ren: Brand­ha­gen
»Pan­ora­ma ei­ner klei­nen Ge­sell­schaft« unter­titelt Hin­rich von Haa­ren sein Buch »Brand­hagen«. Am En­de, nach 300 Sei­ten, kommt er dar­auf zu­rück und zieht fast ei­ne Bi­lanz sei­nes Ro­mans, den ich lie­ber »Er­zählung« nen­nen möch­te: Und nach und nach ent­stand so in mir ein Bild, das mei­ne Ge­danken ver­viel­fäl­tig­te, ein Pan­ora­ma, über das Kran­ken­zim­mer, über Erd­mu­tes Kam­mer, die Klei­ne Stra­ße, Hohen­graben, über Brand­hagen hin­aus, ein Pano­rama, in dem ich leben­dig war, im­mer le­ben­dig ge­we­sen war, von dem ich aber auch mit un­fehl­ba­rer Si­cher­heit wuss­te, dass ich dar­in wohl schon bald je­ne zer­set­zen­den Zwei­fel, je­ne Ver­wüstung und Flucht ent­decken wür­de, die wir nur für den kat­zen­haf­ten Mo­ment der Kind­heit und auch dann nur mit frem­den, po­rö­sen Wor­ten ver­bor­gen hal­ten kön­nen.

Um es gleich vor­weg zu neh­men: »Brand­ha­gen« ist ein im be­sten Sin­ne be­mer­kens­wer­tes Buch. Er­zählt wer­den 12, 13 Jah­re ei­ner Kind­heit En­de der 1960er/Anfang der 1970er Jah­re. Die er­sten Er­in­ne­run­gen des Ich-Er­zäh­lers set­zen viel­leicht mit drei oder vier Jah­ren ein; am En­de ist er 15 oder 16. Al­les spielt sich in dem nord­deut­schen (fik­ti­ven) Dorf Brand­ha­gen ab.

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An­na Ka­tha­ri­na Hahn: Am Schwar­zen Berg

Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg
An­na Ka­tha­ri­na Hahn:
Am Schwar­zen Berg
In Her­mann Lenz’ Ro­man »Selt­sa­mer Ab­schied« sin­niert das Al­ter ego des Schrift­stel­lers über die In­ten­ti­on sei­nes von fast al­len als »un­zeit­ge­mäß« be­trach­te­ten Schrei­bens und dem »gei­stes­ab­we­sen­den« Au­tor nach. Es gilt »et­was her­vor­zu­ho­len, was längst ver­sun­ken war«, so Eu­gen Rapp dann in trot­zig-pro­gram­ma­ti­schem Ton. Und das macht er dann auch im­mer wei­ter; sto­isch fast und un­ab­hän­gig vom Zeit­geist und Er­folg – bis dann end­lich doch noch der Durch­bruch ge­lingt und sich die (li­te­ra­ri­sche) Öf­fent­lich­keit für ihn in­ter­es­siert, weil ein jün­ge­rer Kol­le­ge, des­sen Wort ei­ni­ges gilt, ihn emp­fahl. Her­mann Lenz ver­än­der­te sein Schrei­ben auch im auf­kom­men­den Ruhm nicht; er blieb der Chro­nist des Ver­sun­ke­nen und be­trieb im äu­ßer­sten Fall die Be­schwö­rung ei­ner Welt, die so nie exi­stier­te, aber hät­te exi­stie­ren kön­nen.

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Chri­sti­an Kracht: Im­pe­ri­um

Christian Kracht: Imperium
Chri­sti­an Kracht: Im­pe­ri­um

Als die Ge­schich­te be­ginnt, ist Au­gust En­gel­hardt auf ei­nem Schiff die dün­nen Bei­ne über­ein­an­der­schla­gend und ei­ni­ge ima­gi­nä­re Krü­mel mit dem Hand­rücken von sei­nem Ge­wand wi­schend grim­mig über die Re­ling auf das öli­ge, glat­te Meer schau­end. Man ist am An­fang des 20. Jahr­hun­derts und der Ort, der an­ge­peilt wird, heißt Her­berts­hö­he. Deutsch­land hat Ko­lo­nien.

Au­gust En­gel­hardt hat es tat­säch­lich ge­ge­ben. Ei­ni­gen gilt er als »er­ster Aus­stei­ger«. Die Ein­schät­zun­gen differier(t)en zwi­schen Vi­sio­när und Spin­ner; Ten­denz zum letz­te­ren. En­gel­hardt war nach »Deutsch-Neu­­gui­nea« auf­ge­bro­chen, er­stand dort ei­ne Kokosnuss­plantage (mit die­bi­schem Ver­gnü­gen wird er­zählt, wie er be­reits beim Kauf übers Ohr ge­hau­en wird), grün­de­te ei­nen »Son­nen­or­den« und pfleg­te sei­nen »Ko­ko­vo­ris­mus«, d. h. ei­ne Art Kult um die aus­schließ­li­che Er­näh­rung durch die Ko­kos­nuss. Er tat dies meist split­ter­nackt, wo­bei die In­sel­be­woh­ner die­se Zivilisations­losigkeit des Mi­gran­ten zwar schockier­te, von ih­nen aber groß­zü­gig to­le­riert wur­de. Lei­der hat­te En­gel­hardt über­haupt kein mer­kan­ti­les Ta­lent (was forsch als Ka­pi­ta­lis­mus­kri­tik um­ge­ar­bei­tet wer­den konn­te), plag­te sich zu­se­hends mit leprö­sen Schwä­ren, wur­de am En­de wahn­sin­nig und starb dann kurz nach dem Er­sten Welt­krieg. So weit, so gut. Aber es geht – wie fast im­mer – nicht nur um Fak­ten, es geht um Li­te­ra­tur. So dich­tet Kracht sei­nem Ro­man-Per­so­nal ei­ni­ges an, ver­quirlt es mit tat­säch­lich Ge­sche­he­nem und et­li­chen An­ek­döt­chen und das in ei­ner ma­nie­riert-ba­rocken Spra­che, ei­ner Mi­schung aus El­frie­de-Je­li­nek-Duk­tus und »Prospero’s Books« von Pe­ter Greena­way mit ei­ner Pri­se Ro­bin­son-Crusoe-Aben­teu­rer­tum (man be­ach­te die Per­so­na­lie Ma­ke­li, En­gel­hardts »Frei­tag«, der am Schluss dann Faust II und Ib­sens »Ge­spen­ster« in deut­scher Spra­che vor­ge­tra­gen zu wür­di­gen weiß). Ab­ge­run­det wird dies mit ei­nem schö­nen Um­schlag im Tim-und-Strup­pi-Look (und ir­gend­wie an Mi­cha­el On­da­at­jes neu­em Buch er­in­nernd).

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