Alex­an­dra To­bor: Sit­zen vier Po­len im Au­to

Alexandra Tobor: Sitzen vier Polen im Auto

Alex­an­dra To­bor:
Sit­zen vier Po­len im Au­to

Das Buch der vor al­lem un­ter dem Pseud­onym si­lent­tiffy be­kann­ten Alex­an­dra To­bor mit dem selt­sam-al­ber­nen Ti­tel »Sit­zen vier Po­len im Au­to« be­ginnt 1986. Tscher­no­byl war ge­ra­de ex­plo­diert, aber Nichts ge­nau­es war hier­über be­kannt, au­ßer, dass man Jod neh­men soll­te. Al­eksan­dra, die al­le nur Ola nann­ten, ist fünf und der klei­ne Bru­der To­mek wur­de ge­bo­ren. Va­ter Pa­weł war In­ge­nieur in ei­ner Koh­le­gru­be und konn­te al­les re­pa­rie­ren, was nur ka­putt­ge­hen konn­te. Mut­ter Da­nu­ta war Leh­re­rin, was ihr spä­ter den Ti­tel Frau Pro­fes­sor ein­brach­te. Die wah­re Che­fin war Oma Gre­ta, de­ren Re­so­lut­heit sich Al­eksan­dra oft nur mit kind­li­chem Tot­stel­len ent­zie­hen konn­te. Es braucht nur we­ni­ger Mi­nu­ten Lek­tü­re, um in die pol­nisch-so­zia­li­sti­sche Welt En­de der 80er Jah­re ein­zu­tau­chen. Der Charme der Ich-Er­zäh­le­rin ist über­wäl­ti­gend.

Durch ei­nen Zu­fall ent­deckt Ola im Kel­ler ei­nen Quel­le-Ka­ta­log und ist von der dort ab­ge­bil­de­ten Welt fas­zi­niert. Von nun an ist »BRD« Zau­ber­wort und Zau­ber­land. Mit al­len Mit­teln ver­sucht Ola nun De­vo­tio­na­li­en die­ses Pa­ra­die­ses zu er­gat­tern, was schwie­rig ge­nug ist. Die Gal­len­stei­ne des längst ver­stor­be­nen Opas nebst des­sen ver­ges­se­nen Brief­mar­ken­al­ben ge­hen an ei­ne Freun­din, die da­für lee­re Ha­ri­bo-Tü­ten und ei­ne eben­so lee­re Co­la­do­se lie­fert. Plötz­lich ist dann On­kel Ma­rek weg, er ist los­ge­fah­ren. Weih­nach­ten 1988 kommt er zu Be­such – mit ei­nem Au­to mit Stern, der sym­bo­lisch für die Weihnachts­baumspitze steht. Von nun an kur­siert der Vi­rus »BRD« nicht mehr nur heim­lich und Al­eksan­dra pol­tert ein »Ich will Zu­kunft« in die hin- und her­ge­ris­se­ne Fa­mi­lie. Schließ­lich be­kommt man von Ma­rek ei­nen gel­ben Fi­at pol­ski ge­schenkt und be­schließt ge­gen die Vor­be­hal­te Gre­tas, für zwei Wo­chen nach Do­jcz­land zu fah­ren. Im­mer­hin: Der klei­ne Wa­gen, so heißt es im ty­pi­schen To­bor-Stil, der das Buch wie ein gel­bes Band durch­zieht, saß wie an­ge­gos­sen. Auf dem Co­ver von Isa­bell Klett ist das Fahr­zeug nebst Dach­ge­päck (und, der Ge­schich­te Jah­re vor­aus, mit EU-Kenn­zei­chen­­schild) im Co­mic­stil der 70er Jah­re ab­ge­bil­det. Ma­rek zeigt ih­nen Land, Leu­te und Ge­wohn­hei­ten und so bleibt man, be­ginnt als »Spät­aus­sied­ler« in ei­ner Turn­hal­len­un­ter­kunft, wech­selt dann in ei­ne küm­mer­li­che, an­fangs stin­ken­de Ein­zim­mer­woh­nung nach Un­na-Mas­sen bis schließ­lich ei­ne So­zi­al­bau­woh­nung ei­ner Ge­nos­sen­schaft frei wird.

Den Kern des Bu­ches bil­den die Jah­re zwi­schen 1989 und 1991 aus Sicht des Kin­des. Dass hier hin­ein die Wen­de fällt, wird an ei­ni­gen poin­tiert ge­setz­ten Stel­len deut­lich. So do­mi­nie­ren in den La­gern plötz­lich nicht mehr die Po­len, son­dern DDR-Bür­ger, was zu al­ler­lei Span­nun­gen führt. Man ab­sol­viert Sprach­kur­se und aus Al­eksan­dra wird Alex­an­dra, aus Pa­weł Paul, To­mek wird Tho­mas und aus Da­nu­ta (et­was über­ra­schend) Han­ne­lo­re. Die Leh­re­rin­nen hei­ßen Stu­ben­recht und Son­nen­schein; die Da­me der Woh­nungs­bau­ge­nos­sen­schaft Bütz­chen. Alex­an­dras gro­ße Au­gen in die­ser Wa­ren- und Kon­sum­welt, das Stau­nen über Was­ser­eis in Far­ben, die in der Na­tur sel­ten vor­kom­men, der schon fast pa­tho­lo­gi­sche Geiz der Mut­ter, der der Angst ent­springt, dass sich die öko­no­mi­schen Ver­hält­nis­se ir­gend­wann an pol­ni­sche an­pas­sen könn­ten und die rüh­rend er­zähl­ten Pro­ble­me des sanft­mü­ti­gen Va­ters, der mit der von ihm ver­lang­ten Selbst­darstellung in die­sem Sy­stem nicht klar­kommt und des­we­gen län­ger als ge­wünscht ar­beits­los bleibt – all dies wird mit Sym­pa­thie und Si­tua­ti­ons­ko­mik er­zählt. Da­bei wird weit­ge­hend auf Kli­schees ver­zich­tet und nur ge­le­gent­lich kippt es ins Pos­sier­li­che, wo­bei je­doch die Fi­gu­ren nie­mals de­nun­ziert wer­den. Auch die ner­vi­gen Ogór­ko­was, die ih­re Sperr­müll­tro­phä­en als Ge­schen­ke wei­ter­ge­ben (be­son­ders die Tep­pi­che), blei­ben lie­bens­wür­di­ge Ge­sel­len. Und am En­de ent­puppt sich nicht die vor­neh­me Fran­zis­ka, son­dern das leg­asthe­ni­sche Rauh­bein Do­mi­nik, der »Polacken« ei­gent­lich nicht mag, als Alex­an­dras be­ster Kum­pel. Mit ihm flieht sie vor dem pol­nisch do­mi­nier­ten Kommunion­protokoll am Wei­ßen Sonn­tag (ihr Kleid ist noch aus Po­len, ge­näht aus ei­ner Gar­di­ne, die in ei­nem Rau­cher­haus­halt hing) in den Wald. Hier wer­den ih­re ma­te­ri­el­len Ge­lü­ste, die sich in den Ge­schen­ken nicht er­füllt ha­ben, fast ge­gen­stands­los. Aus dem ehe­ma­li­gen Feind wird ein ver­wun­sche­nes Ein­horn und der Schluss ist dann als Ent­wick­lung vom Kind zum Ju­gend­li­chen, die sich schon in der sich fast ma­nisch ein­stel­len­den Le­se­lust an­deu­te­te, zu be­grei­fen: Der Him­mel war in­zwi­schen vio­lett wie ein La­ven­del­feld. Wir tau­mel­ten über die Baum­wur­zeln zu­rück zum Fahr­rad. Erst in der Däm­me­rung ent­deck­te ich, dass Do­mi­nik Blink­schu­he trug, die bei je­dem Schritt rot auf­leuch­te­ten. Wir ver­lie­ßen den Wald als heim­li­che Hel­den. Die Flie­der­bäu­me flü­ster­ten im Dun­keln, un­se­re Ge­schich­te leb­te, und Freund­schaft hat­te den Traum wahr ge­macht. Ob­wohl wie we­ni­ger hat­ten, hat­ten wir mehr. Dann ist das Buch aus und das ist sehr scha­de.

Na­tür­lich muss über die Er­zähl­per­spek­ti­ve ge­spro­chen wer­den. Ist es nicht un­mög­lich aus der Sicht ei­nes 9jährigen Kin­des mit dem Wis­sen von heu­te zu er­zäh­len? Es wä­re si­cher­lich mehr als pein­lich, wenn To­bor dies ver­sucht hät­te. Und ob­wohl kon­se­quent im Prä­ter­itum er­zählt und deut­lich wird, dass die Er­zäh­le­rin sich in das Kind von da­mals nur hinein­versetzt, geht ge­le­gent­lich der Gaul mit ihr durch, wenn sich die ach so schö­ne Waren­welt auf­tut und die vor­lau­te Gö­re plötz­lich ein biss­chen sehr na­iv oder auch – Stich­wort Re­li­gi­on – ein­fach zu klug für ihr Al­ter er­scheint. Aber dies sind Aus­nah­men, die das Ver­gnü­gen nicht trü­ben (wie auch der Eu­ro am Su­per­markt­wa­gen ein läss­li­cher Feh­ler ist). Wer Be­kann­te oder Freun­de aus Po­len kennt, weiß, wie ge­nau Atmosphäre(n) und Cha­rak­te­re »ge­trof­fen« sind. Auf die ge­büh­ren­de Be­hand­lung der Fi­gu­ren wur­de be­reits hin­ge­wie­sen. Da­bei gibt es we­der fal­sche Sen­ti­men­ta­li­tät noch ei­ne Kla­ge über die Be­hand­lung von Po­len im Deutsch­land der 90er Jah­re. Eher be­kom­men die ge­mein­hin als Gut­men­schen apo­stro­phier­ten ein paar klei­ne Hie­be ab. Und auch je­ne Mi­gran­ten, die ih­re ei­ge­ne Her­kunft in vor­aus­ei­len­der As­si­mi­la­ti­on ver­leug­nen und ih­ren Lands­leu­ten ge­gen­über hoch­nä­sig wer­den, weil sie so­zi­al auf­stei­gen wol­len, er­hal­ten ei­nen klei­nen rhe­to­ri­schen Tritt.

In ei­nem kur­zen Nach­wort weist die Au­torin si­cher­heits­hal­ber dar­auf hin, dass ih­re Ich-Er­zäh­le­rin nicht sie sel­ber ist (ob­wohl es Par­al­le­len gibt, die man durch­aus leicht hät­te ver­än­dern kön­nen, wenn man ein sol­ches Miss­ver­ste­hen schon be­fürch­tet) und for­mu­liert ein we­nig über­ra­schend ei­nen All­ge­mein­heits­an­spruch für »Fa­mi­li­en mit Migrationshinter­grund«. Des er­sten Hin­wei­ses hät­te es nicht be­durft – und der zwei­te soll das Buch in ei­nen ir­gend­wie so­zio­kul­tu­rel­len Kon­text er­schei­nen las­sen. Die­se Am­bi­ti­on er­scheint je­doch et­was auf­ge­setzt, als be­dür­fe es ei­ner Recht­fer­ti­gung für das Ge­schrie­be­ne au­ßer­halb sei­ner selbst. Tat­säch­lich han­delt es sich bei »Sit­zen vier Po­len im Au­to« nicht um dau­er­lu­sti­ge Mi­gran­ten­folk­lo­re. Da­für gibt es sehr wohl Dop­pel­bö­di­ges, das To­bor al­ler­dings ge­schickt ver­steckt. Und so ist das Buch so­wohl leich­te Som­mer­lek­tü­re wie auch Fa­mi­li­en- und so­gar am En­de Ent­wick­lungs­ro­man. Ge­spannt bin ich, ob es ei­ne Fort­set­zung gibt und ob die wo­mög­lich li­te­ra­risch in die Nä­he von Me­lin­da Nadj Abon­jis »Tau­ben flie­gen auf« kom­men könn­te.


Die kur­siv ge­setz­ten Pas­sa­gen sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Das Buch klingt sym­pa­thisch, aber zu­gleich ist »pos­sier­lich« das tref­fen­de At­tri­but, das mir so­fort in den Sinn kommt, wenn ich das Buch­co­ver se­he und mich an »Ma­ria ihm schmeckt’s nicht« er­in­ne­re und di­ver­se ähn­li­che Ab­le­ger, die im For­mat die­ser Rei­he er­schie­nen. Was wä­re das für ein Gen­re, das auch gern Aus­lands­kor­re­spon­den­ten in Form er­zäh­len­der Sach­bü­cher be­stücken: Völ­ker­ver­stän­di­gungs­li­te­ra­tur?

    Ruft auf je­den Fall nach Ver­fil­mung. Er­war­te­tes Gen­re: Slap­stick-Ko­mö­die à la »Bien­ve­nue chez le Ch’tis.«

  2. Wo­bei die Fas­zi­na­ti­on des Kin­des ob der Pla­stik-Kon­sum­welt aus dem Quel­le-Ka­ta­log schon kon­ge­ni­al er­zählt ist. Da­ge­gen ist ei­gent­lich nichts zu sa­gen. Und da man Li­te­ra­tur im ent­spre­chen­den Gen­re »ab­ho­len« muss, ist mein Le­se­ein­druck auch po­si­tiv. Hin­zu kommt, dass ich mit ei­ner Fa­mi­lie sehr gut be­freun­det bin, die schon et­was vor­her aus Po­len nach Deutsch­land ge­kom­men sind (die bei­den Kin­der sind al­ler­dings in Deutsch­land ge­bo­ren) und in ei­ni­gen De­tails ver­blüf­fen­de Par­al­le­len fest­ge­stellt ha­be. Mir ge­fällt die­ser Prag­ma­tis­mus, den man bei (so­ge­nann­ten) Po­len häu­fig fin­det und den To­bor sehr gut be­schreibt. Und ich wa­ge mal die The­se, dass die so­ge­nann­ten Ruhr­po­len spä­te­stens seit En­de des 19. Jahr­hun­derts we­sent­lich zur öko­no­mi­schen Pro­spe­ri­tät und Hoch­in­du­stria­li­sie­rung des Deut­schen Rei­ches bei­getra­gen ha­ben. Das er­leb­te nach dem Zwei­ten Welt­krieg ei­ne Re­nais­sance.

    Zu Co­ver und Ti­tel ist wohl zu sa­gen, dass der Ver­lag be­wusst die­ses Slap­stick-Eti­kett her­vor­ru­fen will. Und für die Ein­ord­nung in die je­wei­li­ge Ver­lags­rei­he kann wo­mög­lich die Au­torin nichts. Im üb­ri­gen ein in­ter­es­san­tes Bei­spiel, wie man über so­zia­le Netz­wer­ke mit ent­spre­chen­der »Fol­lower-Power« am Buch­markt re­üs­sie­ren kann. (Ich kri­ti­sie­re das nicht, möch­te es nur fest­stel­len.)