Hin­rich von Haa­ren: Brand­ha­gen

Hinrich von Haaren: Brandhagen

Hin­rich von Haa­ren: Brand­ha­gen

»Pan­ora­ma ei­ner klei­nen Ge­sell­schaft« unter­titelt Hin­rich von Haa­ren sein Buch »Brand­hagen«. Am En­de, nach 300 Sei­ten, kommt er dar­auf zu­rück und zieht fast ei­ne Bi­lanz sei­nes Ro­mans, den ich lie­ber »Er­zählung« nen­nen möch­te: Und nach und nach ent­stand so in mir ein Bild, das mei­ne Ge­danken ver­viel­fäl­tig­te, ein Pan­ora­ma, über das Kran­ken­zim­mer, über Erd­mu­tes Kam­mer, die Klei­ne Stra­ße, Hohen­graben, über Brand­hagen hin­aus, ein Pano­rama, in dem ich leben­dig war, im­mer le­ben­dig ge­we­sen war, von dem ich aber auch mit un­fehl­ba­rer Si­cher­heit wuss­te, dass ich dar­in wohl schon bald je­ne zer­set­zen­den Zwei­fel, je­ne Ver­wüstung und Flucht ent­decken wür­de, die wir nur für den kat­zen­haf­ten Mo­ment der Kind­heit und auch dann nur mit frem­den, po­rö­sen Wor­ten ver­bor­gen hal­ten kön­nen.

Um es gleich vor­weg zu neh­men: »Brand­ha­gen« ist ein im be­sten Sin­ne be­mer­kens­wer­tes Buch. Er­zählt wer­den 12, 13 Jah­re ei­ner Kind­heit En­de der 1960er/Anfang der 1970er Jah­re. Die er­sten Er­in­ne­run­gen des Ich-Er­zäh­lers set­zen viel­leicht mit drei oder vier Jah­ren ein; am En­de ist er 15 oder 16. Al­les spielt sich in dem nord­deut­schen (fik­ti­ven) Dorf Brand­ha­gen ab. Wei­ter­le­sen

Ab­leh­nung aus dem Jen­seits?

Ja, man ist ge­blen­det vom »Flir­ren der Vi­tri­nen«, wenn man im Mu­se­um der Mo­der­ne beim Deut­schen Li­te­ra­tur­ar­chiv in Mar­bach den Raum der Dau­er­aus­stel­lung be­tritt. Ich hat­te mich bis zum Schluß nicht an die­ses Licht­ge­wit­ter ge­wöhnt und konn­te mich auf die schier zahl­lo­sen Re­li­qui­en Aus­stel­lungs­stücke, die die deutsch­spra­chi­gen Dich­ter der Neu­zeit vor- oder hin­ter­las­sen ha­ben, kaum kon­zen­trie­ren. So hat­te ich auch die­ses Stück zu­nächst nicht be­ach­tet: Wei­ter­le­sen

An­na Ka­tha­ri­na Hahn: Am Schwar­zen Berg

Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg

An­na Ka­tha­ri­na Hahn:
Am Schwar­zen Berg

In Her­mann Lenz’ Ro­man »Selt­sa­mer Ab­schied« sin­niert das Al­ter ego des Schrift­stel­lers über die In­ten­ti­on sei­nes von fast al­len als »un­zeit­ge­mäß« be­trach­te­ten Schrei­bens und dem »gei­stes­ab­we­sen­den« Au­tor nach. Es gilt »et­was her­vor­zu­ho­len, was längst ver­sun­ken war«, so Eu­gen Rapp dann in trot­zig-pro­gram­ma­ti­schem Ton. Und das macht er dann auch im­mer wei­ter; sto­isch fast und un­ab­hän­gig vom Zeit­geist und Er­folg – bis dann end­lich doch noch der Durch­bruch ge­lingt und sich die (li­te­ra­ri­sche) Öf­fent­lich­keit für ihn in­ter­es­siert, weil ein jün­ge­rer Kol­le­ge, des­sen Wort ei­ni­ges gilt, ihn emp­fahl. Her­mann Lenz ver­än­der­te sein Schrei­ben auch im auf­kom­men­den Ruhm nicht; er blieb der Chro­nist des Ver­sun­ke­nen und be­trieb im äu­ßer­sten Fall die Be­schwö­rung ei­ner Welt, die so nie exi­stier­te, aber hät­te exi­stie­ren kön­nen. Wei­ter­le­sen

Kein Stö­rer, nir­gends oder: Das Elend der Er­eig­nis­lo­sig­keit

Chri­sti­an Kracht hat­te in Zü­rich aus sei­nem neu­en Buch »Im­pe­ri­um« ge­le­sen. Und al­le gin­gen hin. Aber sie gin­gen nicht nur hin. Sie be­rich­te­ten auch. Al­le war­te­ten auf den Skan­dal, den Eklat. Lei­der blieb er aus. Der Au­tor hat­te sich schon vor­her Fra­gen nach der Le­sung ver­be­ten. Scha­de für die an­ge­rei­ste Jour­na­li­stik von Spie­gel, FAZ, Süd­deut­sche Zei­tung und dpa. Was nun, da doch nichts pas­siert war?

Egal sagt sich das Feuil­le­ton. Wenn man schon mal da ist, muss man auch dar­über schrei­ben. Wo­bei es ei­gent­lich nichts Un­er­gie­bi­ge­res gibt als über ei­ne Le­sung zu be­rich­ten. Der Spie­gel macht aus der Not ei­ne Tu­gend: »Jetzt sprach er«, heißt es eben­so groß­kot­zig wie un­ge­nau. Ste­fan Kuz­ma­ny er­zählt zu­nächst von sei­nem Abend­essen und gibt sich als nicht be­son­ders gut in­for­miert, was er durch stän­di­ges »oder so ähn­lich« un­ter­strei­chen möch­te. Da­bei hat er das in­kri­mi­nier­te Buch we­nig­stens an­ge­le­sen, was man dar­an merkt, dass er den Duk­tus Krachts zu imi­tie­ren sucht, wenn auch un­be­hol­fen. »Kei­ne Klä­rung« ver­mel­det der Re­por­ter dann am En­de. Der Trost für den Le­ser: Links da­ne­ben kann man »Im­pe­ri­um« di­rekt im Spie­gel-Shop be­stel­len. Wei­ter­le­sen

Phra­seo­lo­gi­sche Be­trach­tun­gen über di­ver­se Äng­ste

Es gibt Buch­ti­tel, die im Lau­fe der Zeit im­mer wie­der pa­ra­phra­siert, va­ri­iert, par­odiert und ka­ri­kiert wer­den und so­mit von der Sen­tenz zur Re­dens­art ge­wor­den sind (oder umge­kehrt) wie Jo­han­nes Ma­rio Sim­mels »Es muß nicht im­mer Ka­vi­ar sein« oder Hein­rich Bölls »Die ver­lo­re­ne Eh­re der Ka­tha­ri­na Blum« (hier gibt es noch mehr Bei­spie­le). Zweifel­los ge­hört »Die Angst des Tor­manns beim Elf­me­ter« da­zu. Da­bei han­delt es sich um ei­ne Er­zäh­lung von Pe­ter Hand­ke aus dem Jahr 1970 (und zwei Jah­re spä­ter von Wim Wen­ders ver­filmt wur­de). Die Tat­sa­che, dass Nicht­le­sern die­ses Büch­leins die Be­deu­tung des Ti­tels nicht deut­lich wer­den kann (Ti­ta­ne wie Oli­ver Kahn fin­den es »ko­misch«, dass ein Tor­wart Angst vor [sic!] vor ei­nem Elf­me­ter ha­ben soll, ist doch längst Kon­sens, dass ein Tor­wart im­mer nur zum Hel­den wer­den kann – so­fern er den Ball hält), hält sie nicht vor Inspira­tionen der Ver­ball­hor­nun­gen ab.

Beim ge­nau­en Hin­se­hen zeigt sich, dass die mei­sten Va­ria­tio­nen nicht der In­ten­ti­on des Hand­ke-Ti­tels ent­spre­chen. Kon­ge­ni­al und eng an der »Vor­la­ge« sind Schöp­fun­gen wie »Die Angst der Tor­frau beim Elf­me­ter« und »Die Angst des Ro­bo­ters beim Elf­me­ter«. Auch in »Die Angst der Schä­fer bei der Lam­mung« wird die Gleich­zei­tig­keit von Angst und Er­eig­nis deut­lich.

Pa­ra­phra­siert wird der Ti­tel je­doch fast im­mer falsch Wei­ter­le­sen

Chri­sti­an Kracht: Im­pe­ri­um

Christian Kracht: Imperium

Chri­sti­an Kracht: Im­pe­ri­um

Als die Ge­schich­te be­ginnt, ist Au­gust En­gel­hardt auf ei­nem Schiff die dün­nen Bei­ne über­ein­an­der­schla­gend und ei­ni­ge ima­gi­nä­re Krü­mel mit dem Hand­rücken von sei­nem Ge­wand wi­schend grim­mig über die Re­ling auf das öli­ge, glat­te Meer schau­end. Man ist am An­fang des 20. Jahr­hun­derts und der Ort, der an­ge­peilt wird, heißt Her­berts­hö­he. Deutsch­land hat Ko­lo­nien.

Au­gust En­gel­hardt hat es tat­säch­lich ge­ge­ben. Ei­ni­gen gilt er als »er­ster Aus­stei­ger«. Die Ein­schät­zun­gen differier(t)en zwi­schen Vi­sio­när und Spin­ner; Ten­denz zum letz­te­ren. En­gel­hardt war nach »Deutsch-Neu­­gui­nea« auf­ge­bro­chen, er­stand dort ei­ne Kokosnuss­plantage (mit die­bi­schem Ver­gnü­gen wird er­zählt, wie er be­reits beim Kauf übers Ohr ge­hau­en wird), grün­de­te ei­nen »Son­nen­or­den« und pfleg­te sei­nen »Ko­ko­vo­ris­mus«, d. h. ei­ne Art Kult um die aus­schließ­li­che Er­näh­rung durch die Ko­kos­nuss. Er tat dies meist split­ter­nackt, wo­bei die In­sel­be­woh­ner die­se Zivilisations­losigkeit des Mi­gran­ten zwar schockier­te, von ih­nen aber groß­zü­gig to­le­riert wur­de. Lei­der hat­te En­gel­hardt über­haupt kein mer­kan­ti­les Ta­lent (was forsch als Ka­pi­ta­lis­mus­kri­tik um­ge­ar­bei­tet wer­den konn­te), plag­te sich zu­se­hends mit leprö­sen Schwä­ren, wur­de am En­de wahn­sin­nig und starb dann kurz nach dem Er­sten Welt­krieg. So weit, so gut. Aber es geht – wie fast im­mer – nicht nur um Fak­ten, es geht um Li­te­ra­tur. So dich­tet Kracht sei­nem Ro­man-Per­so­nal ei­ni­ges an, ver­quirlt es mit tat­säch­lich Ge­sche­he­nem und et­li­chen An­ek­döt­chen und das in ei­ner ma­nie­riert-ba­rocken Spra­che, ei­ner Mi­schung aus El­frie­de-Je­li­nek-Duk­tus und »Prospero’s Books« von Pe­ter Greena­way mit ei­ner Pri­se Ro­bin­son-Crusoe-Aben­teu­rer­tum (man be­ach­te die Per­so­na­lie Ma­ke­li, En­gel­hardts »Frei­tag«, der am Schluss dann Faust II und Ib­sens »Ge­spen­ster« in deut­scher Spra­che vor­ge­tra­gen zu wür­di­gen weiß). Ab­ge­run­det wird dies mit ei­nem schö­nen Um­schlag im Tim-und-Strup­pi-Look (und ir­gend­wie an Mi­cha­el On­da­at­jes neu­em Buch er­in­nernd). Wei­ter­le­sen

Mar­tin von Arndt: Ok­to­ber­platz

Martin von Arndt: Oktoberplatz

Mar­tin von Arndt: Ok­to­ber­platz

Wasil Mi­ka­la­je­witsch (auch Was­ja ge­nannt) ist Jahr­gang 1974. Sei­ne Fa­mi­lie (mit un­ga­ri­schen Wur­zeln; Par­al­le­len zu Ko­vács aus »ego shoo­ter« und dem Au­tor sel­ber) hat­te es in den Wir­ren des 20. Jahr­hun­derts in die Nä­he von Hrod­na, in den We­sten Ruß­lands, der aber doch eigent­lich der Osten ist, ver­schla­gen. Be­stim­men­de Persön­lichkeit in der Fa­mi­lie ist Groß­va­ter Ist­ván, der Ro­te Un­gar (längst po­li­tisch des­il­lu­sio­niert), der 1988 eben­so über­ra­schend wie tra­gisch mit 80 Jah­ren stirbt und so­mit die Ge­burt sei­nes vier­ten Kin­des Ma­rya um we­ni­ge Mo­na­te ver­passt. Ma­ry­as Mut­ter hat es mit 45 Jah­ren auch nicht leicht; das Kind wird haupt­säch­lich von Wasils Tan­ten Alez­ja und vor al­lem Tat­sia­na be­treut (kei­ne Angst: es gibt ei­ne er­klä­ren­de Ah­nen­ta­fel und ein klei­nes Re­gi­ster des rus­sisch-weiß­rus­si­schen Vornamen­dickichts). Ist­váns Erst­ge­bo­re­ner Mi­ko­la, am En­de ein Al­ko­ho­li­ker und Iko­nen­schmugg­ler, schwän­ger­te mit 16 Jah­ren die gleich­alt­ri­ge Swe­ta – Wasils El­tern, die bei sei­ner Ent­wick­lung so gut wie kei­ne Rol­le spie­len (und den­noch: bei den Be­gräb­nis­ze­re­mo­nien an­läss­lich des frü­hen Un­fall­tods der bei­den ei­ne er­grei­fen­de Re­mi­nis­zenz Wasils über die Ver­geb­lich­keit der Exi­stenz ins­be­son­de­re des Va­ters).

Sehn­suchts­ort Hrod­na

Na­tür­lich kommt von Arndt bei die­ser Kon­stel­la­ti­on nicht ganz an al­ko­hol­ge­schwän­ger­te At­mo­sphä­ren­ein­hei­ten vor­bei. Die Män­ner ha­ben eben gro­ßen Durst und all­abend­lich zie­hen sie von ei­nem Haus zum näch­sten und spre­chen sich die La­ge des Lan­des schön. Ist­váns Le­ber soll be­trächt­li­che Aus­ma­ße ge­habt ha­ben. Die­ses bi­zar­re Wim­mel­thea­ter der Welt um Hrod­na er­in­nert zu­wei­len an ein Pot­pour­ri aus Magre­bi­ni­schen Ge­schich­ten und der se­li­gen Koh­len­rauch-Ge­müt­lich­keit von An­drzej Sta­si­uks Med­zi­bo­rie (wo­bei Hrod­na als li­te­ra­ri­scher Ort nach der Lek­tü­re von »Ok­to­ber­platz« min­de­stens eben­bür­tig be­trach­tet wer­den muss). Aber glück­li­cher­wei­se wer­den Sti­li­sie­run­gen wie auch pein­li­che Idea­li­sie­run­gen im Keim er­stickt.

–> wei­ter bei »Glanz und Elend«