Li­te­ra­tur­kri­tik spie­len

Nach dem Fat­wa-Text ei­nes ge­wis­sen Edo Re­ents über Ju­dith Her­mann (am Ran­de ging es dort auch um ihr Buch »Al­ler Lie­be An­fang«) gab es aus dem er­lauch­ten Kreis nach zeit­li­cher Ver­zö­ge­rung nur zwei Stim­men, die sich ge­nö­tigt sa­hen zu wi­der­spre­chen. Die ei­ne ist Iris Ra­disch in der »Zeit«, de­ren Text zur Si­cher­heit erst gar nicht on­line ge­stellt wur­de. Ra­disch neigt ja ge­le­gent­lich sel­ber zum per­so­na­len Über­griff in ih­ren Kri­ti­ken, ei­ne grö­sse­re Dis­kus­si­on wä­re viel­leicht nicht ge­wünscht ge­we­sen. Ger­rit Bartels kon­tra­stier­te dann für den »Ta­ges­spie­gel« die »eke­li­ge Dop­pel­mo­ral« der FAZ im »Fall« von Ju­dith Her­mann: Vier Wo­chen vor­her wur­de sie in ei­nem In­ter­view noch ge­fei­ert, jetzt ver­teu­felt. »Kann nicht schrei­ben die Frau, aber als Co­ver­girl brau­chen wir sie doch!«, so Bartels’ ziem­lich tref­fen­de Ana­ly­se.

Für die »Welt« hat nun Til­man Krau­se ei­nen klei­nen Text zu Her­manns Buch ge­schrie­ben. Der Ti­tel spielt na­tür­lich auf Her­manns er­stes Buch »Som­mer­haus, spä­ter« an und soll Ori­gi­na­li­tät auf­zei­gen. Dann ver­pass­te man dem Buch das Ru­brum »um­strit­ten«. Wie so oft bleibt un­klar, was »um­strit­ten« ei­gent­lich be­deu­ten soll. Dass es di­ver­gie­ren­de Ur­tei­le zu Ro­ma­nen gibt? Dass Re­ents’ Un­ver­schämt­heit zag­haft kri­ti­siert wur­de? Oder dass es sich, wie Til­man Krau­se sanft in­si­nu­iert, um ei­ne Ad­ap­ti­on ei­nes Stof­fes von Pa­tri­cia Highsmith han­delt?

Im­mer­hin, Krau­se will wie­der zu­rück zum Buch. Aber min­de­stens den Ein­stieg von sei­nem Text zu ana­ly­sie­ren lohnt sich, weil er ge­wis­se Skan­da­li­se­rungs­me­cha­nis­men des Li­te­ra­tur­be­triebs wie auf ei­ner Pe­tri­scha­le sicht­bar macht (al­le Kur­siv­set­zun­gen aus Krau­ses Text).

Krau­se be­ginnt mit ei­ner als Fra­ge ge­klei­de­ten Fest­stel­lung:

Wer hät­te ge­dacht, dass wir ge­ra­de Ju­dith Her­mann die er­ste klei­ne Li­te­ra­tur­de­bat­te des be­gin­nen­den Bü­cher­herb­stes ver­dan­ken wür­den?

»Wir« (wer ist das ge­nau?) ha­ben al­so ei­ne »klei­ne Li­te­ra­tur­de­bat­te«, die »wir« Ju­dith Her­mann zu »ver­dan­ken« ha­ben. Ist es aber nicht eher so, dass die­se »De­bat­te« dar­über ge­führt wird, wie ei­ne so­ge­nann­te Re­zen­si­on als Au­torin­nen­ver­nich­tungs­text da­her kommt? Dem­zu­fol­ge hät­ten wir die­se »De­bat­te« nicht Ju­dith Her­mann son­dern Edo Re­ents zu »ver­dan­ken«.

Ei­ne »Li­te­ra­tur­de­bat­te« kann man es aber kaum nen­nen. Zum ei­nen geht es nicht um äs­the­ti­sche Fra­gen, son­dern (1.) dar­um, dass Frau H. nicht schrei­ben kann und (2.) aus ei­nem 220seitigen Text ein paar Stel­len ge­fun­den wur­den, die iso­liert be­trach­tet, holp­rig er­schei­nen.

Ei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik-De­bat­te ist es üb­ri­gens auch nicht, weil die Mas­se der Kri­ti­ker nur hoch­ge­zo­ge­ne Au­gen­brau­en zu­stan­de bringt und nicht ris­kie­ren möch­te, es sich mit ei­nem viel­leicht dem­nächst bei der FAZ in pro­mi­nen­ter Po­si­ti­on sit­zen­den »Kol­le­gen« zu ver­scher­zen.

Krau­se kommt in sei­nem Text auf Re­ents zu spre­chen:

Da die­se Frau et­was Exi­sten­zi­el­les an­spricht, ruft sie aber auch Re­ak­tio­nen her­vor, die über das Re­zen­so­ri­sche hin­aus­ge­hen: »Ju­dith Her­mann hat zwei Pro­ble­me: Sie kann nicht schrei­ben, und sie hat nichts zu sa­gen«, be­fand, nicht oh­ne Kopf-ab-Aplomb, Edo Re­ents in der »Frank­fur­ter All­ge­mei­nen«.

Vor­her hat­te Krau­se noch von ei­ner Ma­sche Ju­dith Her­manns ge­schrie­ben und er mein­te die ein­fa­chen Sät­ze[], die noch da­zu vol­ler Wort­wie­der­ho­lun­gen stecken. Al­so es muss min­de­stens Ma­sche hei­ssen, »Me­tho­de« reicht nicht.

Aber jetzt plötz­lich spricht sie et­was Exi­sten­zi­el­les an, dass Re­ak­tio­nen her­vor­ruft, die über das Re­zen­so­ri­sche hin­aus­ge­hen. Krau­se macht ei­nen Kopf-ab-Aplomb aus, schreibt aber die »Schuld« dar­an der Au­torin zu, nicht dem Kri­ti­ker­dar­stel­ler Re­ents, der, so legt die­se Stel­le na­he, nur in­fol­ge ei­nes Af­fekts aus­fäl­lig ge­wor­den sei. Mil­dern­de Um­stän­de so­zu­sa­gen.

Die Kri­tik von Iris Ra­disch be­zeich­net Krau­se als Ord­nungs­ruf. All dies sei innerbetrieb­liche[s] Hick­hack und ei­gent­lich satt­sam be­kannt.

Dass man ei­ner Au­torin öf­fent­lich die Fä­hig­keit ab­spricht, Li­te­ra­tur schrei­ben zu kön­nen, hal­te ich ei­gent­lich nicht für Hick­hack und auch nicht für ei­ne Pe­ti­tes­se, über die man als in­ner­be­trieb­li­che Que­re­len ab­tun kann. Aber Krau­se will weg vom Mi­nen­feld Li­te­ra­tur­be­trieb und un­be­dingt sei­ne Ent­deckung los­wer­den.

Liest man »Al­ler Lie­be An­fang« ge­nau, stellt man fest, dass sich das Buch in sei­ner Struk­tur an ein be­rühm­tes Vor­bild an­lehnt, den Psy­cho­kri­mi »Der Schrei der Eu­le« von Pa­tri­cia Highsmith (er­schie­nen 1962).

Im­mer­hin gilt es noch den klei­nen Sei­ten­hieb mit dem liest man…genau. Wo­bei ich mir schon die Fra­ge stel­le: Ist das nicht ei­gent­lich ei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit für ei­nen Kri­ti­ker »ge­nau« zu le­sen? In et­wa zu ver­glei­chen mit der Aus­sa­ge: »Wenn man nicht be­sof­fen Au­to fährt…«?

Von nun an aber wid­met sich Krau­se sei­nem Ver­gleich zwi­schen Her­mann und Highsmith. Das ist im­mer­hin ei­ne Ent­deckung; in­wie­weit sie zün­det, bleibt un­klar, da Krau­se nur nach Ge­mein­sam­kei­ten und Dif­fe­ren­zen zwi­schen den Bü­chern im Plot sucht und am En­de bei­den Au­torin­nen be­schei­nigt sie sei­en im heu­ti­gen Sin­ne »un­cool«. Im­mer­hin.

Mit Mil­de und Me­lan­cho­lie

Wie Jo­sef Wink­ler sei­nen Er­in­ne­rungs­kos­mos er­wei­tert

»Re­qui­em für ei­nen Va­ter« un­ter­ti­tel­te Jo­sef Wink­ler sei­ne Er­zäh­lung »Rop­pon­gi« aus dem Jahr 2007. Auf ei­ner Vor­trags­rei­se in Ja­pan er­fährt der Ich-Er­zäh­ler, der gro­ße Ähn­lich­kei­ten mit Jo­sef Wink­ler be­sitzt, vom Tod sei­nes Va­ters, je­nem über- und all­mächtigen »Acker­mann aus Kärn­ten« mit dem Wink­ler in sei­nen Bü­chern, vor al­lem in den er­sten Ro­ma­nen, wuch­tig, ex­pres­siv und an­kla­gend groll­te. Der Va­ter sym­bo­li­sier­te En­ge, Ar­cha­ik und Stumpf­sinn, atem­los wird ei­ne schreck­li­che Kind­heit und Ju­gend aus dem schreck­li­chen Dorf Ka­me­ring in Kärn­ten in den 1950er/1960er Jah­ren er­zählt. Der »Acker­mann aus Kärn­ten« wur­de zum Ar­che­typ für ei­ne gan­ze Re­gi­on, ei­ne gan­ze Epo­che. Auf­fal­lend in »Rop­pon­gi« war aber die Mil­de mit der Wink­ler er­zähl­te, ei­ne Mil­de, die zwar die Schrecken der Kind­heit und Ju­gend im­mer wie­der blitz­ar­tig auf­leuch­ten ließ, aber am En­de dann doch vor dem 99jährigen To­ten (Jahr­gang 1905) den Re­spekt nicht ver­sag­te. Der Ich-Er­zäh­ler sei­ner Bü­cher hat­te sich von sei­nem Lei­den eman­zi­piert, los­ge­schrie­ben und konn­te da­mit nun vor­ur­teils­frei­er auf sei­ne Fi­gu­ren blicken und, in Gren­zen, ih­re Mo­ti­va­tio­nen er­for­schen. Die Ex­pres­si­vi­tät ver­schwand nicht, wur­de aber auf­ge­füllt mit an­ek­do­ti­schem. Da­hin­ter durch­aus spür­bar: die Furcht, der Fluch des Va­ters, nach sei­nem Tod kön­ne er, der Sohn, nicht mehr schrei­ben, weil er nie­man­den mehr ha­be, über den er schrei­ben kön­ne, könn­te sich viel­leicht er­fül­len.

Sechs Jah­re spä­ter leuch­tet Wink­ler ei­ne wei­te­re Fa­cet­te sei­nes Kind­heit und Ju­gend aus, die im Ti­tel schon an­klingt: »Mut­ter und der Blei­stift«. Wie so man­ches Wink­ler-Buch ist auch die­se knapp 60seitige Er­zäh­lung ein Tri­pty­chon. Vor­an­ge­stellt ist ihr als ei­ne Art Pro­log ei­ne klei­ne­re Er­zäh­lung (30 Sei­ten) mit dem Ti­tel »Da flog das Wort auf«. Mit Zi­ta­ten von Il­se Ai­chin­ger wird ei­ne dü­ste­re Welt evo­ziert, die nach den Schrecken des Krie­ges (die Groß­mutter müt­ter­li­cher­seits ver­sank in Apa­thie, als sie kurz hin­ter­ein­an­der die Bot­schaft er­reich­te, dass drei ih­rer Söh­ne – 18, 20 und 22 Jah­re alt – im Krieg »ge­fallen« wa­ren) nicht mehr got­tes- son­dern sa­tans­fürch­tig wur­de und (für Wink­ler­sche Ver­hält­nis­se) früh mit 60 Jah­ren an »ge­bro­che­nem Her­zen« starb.

Josef Winkler: Mutter und der Bleistift

Jo­sef Wink­ler:
Mut­ter und der Blei­stift

In »Mut­ter und der Blei­stift« wer­den die Ein­drücke über die Mut­ter des Er­zäh­lers do­mi­nant, ei­ner Mut­ter, die bis­her in den Bü­chern Wink­lers kei­ne we­sent­li­che Rol­le spiel­te. Das könn­te dar­an lie­gen, dass er, der Er­zäh­ler, die Mut­ter scho­nen woll­te und jetzt, nach­dem sie um 2012 ge­stor­ben ist (wenn die Da­ten denn stim­men, wo­bei Wink­ler ein­mal [ab­sichts­voll!] schreibt, die Mut­ter sei mit 86 ge­stor­ben und ein­mal mit 87) mehr er­zäh­len möch­te. Zum an­de­ren war sie für vie­le Jah­re, aus de­nen schließ­lich zwei Jahr­zehnte wur­den, wie ih­re Mut­ter in Apa­thie und Schwer­mut ver­fal­len und träum­te sich da­bei in ei­ne To­ten­welt hin­ein. Zwar er­le­dig­te sie ih­re haus­frau­li­chen Tä­tig­kei­ten (was groß­ar­tig evo­ziert wird, bei­spiels­wei­se wenn sie ihn, den »Seppl«, durch­aus mit In­brunst ver­prü­gel­te), aber al­les nur schwei­gend bzw. na­he­zu schwei­gend, wo­bei es dann pass­te, dass sie am Hof ei­ne taub-stum­me Magd hat­ten, die aber trotz­dem mehr re­de­te als die Mut­ter. Je­des Wort, das die Mut­ter sprach wur­de zum Er­eig­nis, zur Ma­ni­fe­sta­ti­on und ihr »Na!« (Nein) als der Va­ter nach der Ge­burt des Nach­züg­lers mit noch ei­nem wei­te­ren, ei­nem 7. Kind ko­ket­tier­te, grenz­te schon an Auf­leh­nung. Die na­he­zu schwei­gen­de Mut­ter leb­te »völ­lig zurückge­zogen«, d. h. aus­schließ­lich auf dem Hof, be­trat kei­ne an­de­ren Hö­fe im Dorf. Be­su­che gab es auch fast kei­ne (nur die bei­den Schwe­stern ab und an). Wei­ter­le­sen

Der Wald und die Bäu­me (X)

Post­skrip­tum

»Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst­ver­schul­de­ten Unmündig­keit.« Seit ich die­sen be­rühm­ten De­fi­ni­ti­ons­satz zum er­sten Mal las, und das ist nun schon ziem­lich lan­ge her, fra­ge ich mich im­mer aufs Neue, in­wie­fern die von Kant kon­sta­tier­te Un­mün­dig­keit denn selbst­ver­schul­det sei. Ich ha­be bis heu­te kei­ne Ant­wort ge­fun­den. Mit ei­ner zu­sätz­li­chen De­fi­ni­ti­on er­läu­tert der Au­tor das Wort »Un­mün­dig­keit«, aber »selbst­verschuldet«, die­ses selt­sa­me Epi­the­ton bleibt so ste­hen, oh­ne wei­te­ren Kom­men­tar. Zu Kants Zei­ten war es al­les an­de­re als selbst­ver­ständ­lich, daß al­le Bür­ger bzw. ih­re Kin­der ei­ne halb­wegs so­li­de Bil­dung er­hiel­ten, auch wenn die Auf­klä­rer und auf­ge­klär­te Für­sten wie Fried­rich der Gro­ße viel für die Eta­blie­rung der all­ge­mei­nen Schul­pflicht ta­ten. Ich hal­te al­so fest: Leu­te, die den ei­ge­nen Ver­stand, der ihm zu­nächst ein­fach ge­ge­ben ist, nicht zu ge­brau­chen ver­ste­hen oder ihn aus wel­chen Grün­den auch im­mer – Träg­heit, Ver­blen­dung... – nicht ge­brau­chen wol­len, sind sel­ber schuld, sie kön­nen kei­ne mün­di­gen – un­ter heu­ti­gen Be­din­gun­gen wür­de ich hin­zu­fü­gen: de­mo­kra­tie­fä­hi­gen – Bür­ger sein. Al­so wä­re die von Kant ins Vi­sier ge­nom­me­ne Un­fä­hig­keit ei­gent­lich ei­ne Denk­fault­heit? Ei­ne Wil­lens­schwä­che? Müß­te man dann, wenn man die Zu­stän­de än­dern woll­te, nicht nur durch päd­ago­gi­sche Maß­nah­men auf die her­an­wach­sen­den (und auch die erwach­senen) Bür­ger ein­wir­ken, son­dern gleich­zei­tig auf ih­ren Wil­len, ih­re Mo­ti­va­ti­on, ih­re Tä­tig­keits­be­reit­schaft? Im kon­su­mi­sti­schen Ka­pi­ta­lis­mus mit sei­ner quan­ti­fi­zie­ren­den, kurz­sich­ti­gen, po­pu­li­sti­schen Der-Kun­de-ist-Kö­nig-De­mo­kra­tie geht die Ten­denz in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung, pas­si­ves Kon­su­mie­ren, di­ver­se Ar­ten von Süch­ten, schein­aktive Selbst­be­zo­gen­heit (sie­he Face­book & Co.), all­ge­mei­ne Träg­heit, sei es auch in Form von stän­di­ger, un­re­flek­tier­ter Lei­stungs­be­reit­schaft (sie­he Han­dys, sie­he »Erreichbar­keit«), Schwim­men in Main­streams (mit oder oh­ne Iro­nie) sind längst vor­herr­schend ge­wor­den, wäh­rend die stän­dig ge­for­der­ten, oft ein­ge­lei­te­ten und häu­fig wie­der zurückge­nommenen Re­for­men der Aus­bil­dungs­stät­ten die päd­ago­gi­sche Qua­li­tät, die sich in er­ster Li­nie in Ge­stalt von gu­ten Leh­rern er­wei­sen soll­te, nicht und nicht he­ben (oft ge­nug ist die­ser Re­form­wil­le oh­ne­hin blo­ßes Lip­pen­be­kennt­nis). Sind die Men­schen sel­ber schuld, die Mas­se der Ein­zel­nen, die ga­mer, die couch-po­ta­toes, die Face­book-Ak­ti­vi­sten? Was tun? Wir wol­len doch nie­man­den zu sei­nem Glück zwin­gen... Zu­mal die Kon­su­men­ten, we­nig­stens auf den er­sten Blick, oh­ne­hin glück­lich schei­nen. Bei Kant fin­de ich kei­ne Ant­wor­ten, und ich selbst kom­me nicht über mei­ne fra­gen­de Un­ru­he hin­aus.

© Leo­pold Fe­der­mair

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Der Wich­tig­tu­er

Um es vor­weg zu sa­gen. Ich ha­be Ju­dith Her­manns Ro­man »Al­ler Lie­be An­fang« nicht ge­le­sen. Ich ken­ne nur ih­re drei Ge­schich­ten­bän­de. Als ganz gro­ße Li­te­ra­tur ka­men mir Her­manns Ge­schich­ten nicht vor. Aber in ih­ren be­sten Mo­men­ten spie­gel­ten sie sehr wohl ei­ne ge­wis­se Stim­mung ei­ner Ge­ne­ra­ti­on und zeig­ten der äl­te­ren Ge­ne­ra­ti­on (aus de­nen sich vie­le Kri­ti­ker rekrutier[t]en) ei­ne neue, bis­her un­be­kann­te Welt.

»Al­ler Lie­be An­fang« wur­de mit gro­ßem Mar­ke­ting vor­ge­stellt. End­lich hat die Ge­schich­ten­er­zäh­le­rin ei­nen Ro­man ge­schrie­ben. Der Ro­man gilt (völ­lig unverständlicher­weise) als Kö­nigs­dis­zi­plin im Li­te­ra­tur­be­trieb. Dass die Li­te­ra­tur­kri­tik die­se Fi­xie­rung im­mer wie­der mo­niert, ist et­was heuch­le­risch, weil ge­fühlt die zwei­te Fra­ge an Ge­schich­ten­schrei­ber im­mer wie­der lau­tet, wann denn der er­ste Ro­man kommt. Für mich hat­te ich be­schlos­sen, die­ses Buch nicht zu le­sen, zu­mal mich auch das ver­meint­li­che The­ma (Stal­king) nicht be­son­ders in­ter­es­siert.

Die Stim­men der Kri­tik zu »Al­ler Lie­be An­fang« wa­ren fast al­le ver­hal­ten bis ab­leh­nend; bei Hel­mut Böt­ti­ger, Eber­hard Falcke oder Ijo­ma Man­gold gut be­grün­det.

Aber die­se li­te­ra­risch ori­en­tier­ten Kri­ti­ken ge­fal­len dem stell­ver­tre­ten­den Feuil­le­ton­chef der FAZ Edo Re­ents nicht. Mit gro­ßem Aplomb hat er ver­meint­li­che Kri­tik zu dem Buch ge­schrie­ben, die in Wahr­heit die Au­torin tref­fen soll. Re­ents Text ist von ei­ner Nie­der­tracht, die ein biss­chen ge­nau­er be­trach­tet wer­den soll (al­le Kur­siv­set­zun­gen aus dem Text): Wei­ter­le­sen

Der Wald und die Bäu­me (IX)

Ab­len­kung

Un­ab­weis­bar ist die Struk­tur­ähn­lich­keit zwi­schen dem di­gi­ta­len Win­do­wing und je­ner Mo­de­krank­heit, die man ab­kür­zend und von den Din­gen ab­len­kend als ADHS be­zeich­net. Leu­te aus mei­nem Be­kann­ten­kreis, die an sy­ste­ma­ti­schen Auf­merk­sam­keits­stö­run­gen und zu­gleich an Hy­per­ak­ti­vi­tät lei­den, ge­hen in ih­rem All­tag häu­fig an ei­nen Ort (zum Bei­spiel in der Kü­che oder auf dem Bal­kon) und er­in­nern sich, wenn sie an­kom­men, nicht mehr, was sie dort ei­gent­lich woll­ten. Not­ge­drun­gen ge­hen sie wei­ter an den näch­sten Ort, aber dort ge­schieht ih­nen das glei­che. Sie kön­nen sich nicht an das er­in­nern, was sie vor­hat­ten, und oft auch nicht an das, was sie kurz zu­vor ge­tan ha­ben. Auch das Ver­ges­sen ei­nes Plans oder Plan­ele­ments ist im Grun­de ge­nom­men ein Ver­ges­sen von seit kur­zem Ver­gan­ge­nem. Ganz ähn­lich ver­hal­ten wir uns, wenn wir »sur­fen«: Ziem­lich rasch ver­ges­sen wir, wo­hin wir »ei­gent­lich« woll­ten und was wir dort zu su­chen hat­ten. Wer vor­sätz­lich surft, et­wa zu Un­ter­hal­tungs­zwecken, strebt die­se Art des Ver­ges­sens an. Für Men­schen, die un­ter ADHS lei­den, sind die­se Sym­pto­me al­ler­dings kein Ver­gnü­gen, son­dern eben Stö­run­gen, die sie an ei­nem halb­wegs be­frie­di­gen­den Le­ben hin­dern kön­nen.

Das Wort »Mo­de­krank­heit« ist un­ge­recht, es klingt ver­ächt­lich. Bes­ser, ich neh­me es zu­rück. An­schei­nend hat aber je­de Zeit be­stimm­te Krank­hei­ten, die ih­re ge­sell­schaft­li­chen Wi­der­sprü­che und Ge­bre­chen auf in­di­vi­du­el­ler Ebe­ne aus­drücken. In­so­fern wird man viel­leicht be­haup­ten kön­nen, daß ADHS die Krank­heit des di­gi­ta­len Zeit­al­ters sei. Wei­ter­le­sen

Wolf­gang Kör­ner: No­wack

Wolfgang Körner: Nowack

Wolf­gang Kör­ner: No­wack

Har­ry S. No­wack lebt im Ruhr­ge­biet, ist frei­er Fo­to­graf und kann sich die Art sei­ner je­wei­li­gen Un­frei­heit da­her aus­su­chen. Wenn er an­nimmt, sei­ne Bil­der wä­ren nicht nur Nach­rich­ten, son­dern gül­ti­ge Deu­tun­gen der Er­eig­nis­se bie­tet er sie Bild­agen­tu­ren oder Lo­kal­zei­tun­gen an. An­son­sten schlägt er sich durch mit klei­nen Auf­trä­gen un­ter an­de­rem auch von der Po­li­zei, der er an­son­sten skep­tisch ge­gen­über­steht, durch. No­wack ist trotz stets dro­hen­der Mit­tel­lo­sig­keit Künst­ler, Bon­vi­vant, Frau­en­held und auch ein biss­chen ein Re­vo­luz­zer, der sich von lin­ken po­li­ti­schen Heils­idealen noch nicht ganz ent­fernt hat. Aber vor al­lem ist No­wack ein Phan­tast, der al­le Er­schei­nun­gen so­fort in sur­rea­le Traum- und auch ge­le­gent­lich Alptraum­szenarien ver­wan­delt und sie un­ent­wirr­bar mit der Rea­li­tät ver­knüpft. Die­se Bil­der, die­se wil­den, psy­che­de­li­schen As­so­zia­ti­ons­ge­wit­ter und skur­ri­le Wirk­lich­keits­ver­zer­run­gen, bil­den den Kern von Wolf­gang Kör­ners Ro­man »No­wack«.

Dreh- und An­gel­punkt von No­wacks Un­ter­neh­mun­gen ist ne­ben sei­ner Kel­ler­woh­nung das Ca­fé Ca­poc­ci, in dem er die mit Spitz­na­men be­zeich­ne­ten Prot­ago­ni­sten trifft: Jack the Rip­per, Dr. Stein, Dr. Sei­ler, Fer­do Gawri­lo­wicz, Dro­gen­pe­ter. Und na­tür­lich die Frau­en, die ent­we­der ir­gend­wann vor sei­ner Tür ste­hen, wie die Sechs­zwölf­tel­jung­frau, die ihn stets in auf­rei­zen­der De­si­gner-Gar­de­ro­be auf­sucht und ih­ren ver­mö­gen­den Mann ver­las­sen will (es kommt dann in ei­ner ur­ko­mi­schen Sze­ne ein we­nig an­ders), das Schreib­ma­schi­nen­mäd­chen Bea­te, die er im Pfand­haus ken­nen- und dann auch lie­ben lernt oder sei­ne Ex-Ge­lieb­te Mo­ni­ka, die er vor al­lem beim Bei­schlaf mit den an­de­ren Frau­en ein­fach nicht ver­ges­sen kann.

Tat­säch­lich ist die Ver­an­ke­rung No­wacks im Ruhr­ge­biet es­sen­ti­ell für die­sen Ro­man. Es geht um lo­ka­le Er­eig­nis­se, die ih­re Schat­ten vor­aus wer­fen: Das so­ge­nann­te Ze­chen­ster­ben und die da­mit ver­bun­de­nen mas­si­ven Än­de­run­gen in der Le­bens- und Ar­beits­welt der Men­schen vor Ort. Da­her kann »No­wack« nicht in Ham­burg oder Mün­chen spie­len. Sei­ne sur­rea­le Bil­der­welt, die im­mer wie­der auf­bricht und prak­tisch kei­ne Sze­ne na­tu­ra­li­stisch zu En­de er­zählt, ist hin­ge­gen jen­seits geo­gra­phi­scher Ver­or­tun­gen. Wei­ter­le­sen

Der Wald und die Bäu­me (VIII)

Ver­ges­sen

Fried­rich Nietz­sche, der sei­ne Lauf­bahn als Hi­sto­ri­ker des grie­chi­schen Al­ter­tums be­gann, schrieb ei­ne Ab­hand­lung über den »Nut­zen und Nach­teil der Hi­sto­rie für das Le­ben«. Das in­di­vi­du­el­le wie auch das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis, so lau­tet sei­ne The­se, wer­de in be­stimmten Pha­sen der Mensch­heits­ent­wick­lung hy­per­troph und be­gin­ne, das Le­ben ein­zu­schrän­ken, am En­de so­gar zu ver­nich­ten. Es kom­me dar­auf an, schöp­fe­risch zu sein und et­was Neu­es zu schaf­fen. Zu die­sem Zweck sei es im­mer wie­der nö­tig, sich vom Über­lie­fer­ten und, ge­ne­rel­ler, von der Last des Den­kens frei zu ma­chen. Mu­sil drück­te es so aus: »Ge­le­gent­lich sind wir al­le dumm; wir müs­sen ge­le­gent­lich auch blind oder halb­blind han­deln, oder die Welt stün­de still; und woll­te ei­ner aus den Ge­fah­ren der Dumm­heit die Re­gel ab­lei­ten: ‘Ent­hal­te dich in al­lem des Ur­teils und des Ent­schlus­ses, wo­von du nichts ver­stehst!’, wir er­starr­ten.« Er­in­nern und Ver­ges­sen, Nach­den­ken und Han­deln, Mög­lich­kei­ten Son­die­ren und Ideen ver­wirk­li­chen: bei­de Sei­ten hän­gen in der prä­di­gi­ta­len Kul­tur aufs eng­ste zu­sam­men. Die über­gro­ße, un­ge­ord­ne­te, vom Sub­jekt – dem Ver­brau­cher – nicht mehr dif­fe­ren­zier­ba­re und in­so­fern gleich­gül­ti­ge Da­ten­men­ge kann zwar zur Un­ter­hal­tung die­nen, zum so­ge­nann­ten In­fo­tain­ment, wo man Be­lie­bi­ges und Be­lieb­tes aus­wählt, doch sie steht jen­seits der von Nietz­sche her­aus­ge­ar­bei­te­ten Dia­lek­tik. Die Er­in­ne­rungs­schwa­chen ha­ben nichts zu ver­ges­sen. Wenn die Ge­hir­ne den di­gi­ta­len Me­di­en end­gül­tig an­ge­paßt wor­den sind, er­üb­rigt sich nicht nur das Erinnerungs­vermögen, son­dern auch die Fä­hig­keit des Ver­ges­sens, es kommt zu ei­ner si­mul­ta­nen Dau­er­prä­senz von gleich­gül­ti­gen Din­gen und ei­ner sub­jek­ti­ven Trance, die ge­wis­sen, sa­kra­len oder pro­fa­nen, in der Ge­schich­te oft­mals ge­prie­se­nen Er­lö­sungs­zu­stän­den äh­nelt.

© Leo­pold Fe­der­mair

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Der Wald und die Bäu­me (VII)

Ge­ni­al!

Die ka­ka­ni­sche Welt, die der Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten be­schreibt, ist ei­ne ge­lähm­te. Zwar wird be­haup­tet, ein gro­ßes Er­eig­nis sei im Ent­ste­hen, aber dann geht nie et­was wei­ter. Die ge­hemm­ten Ak­teu­re ver­hal­ten sich im we­sent­li­chen nicht an­ders als Ul­rich, auch wenn ih­nen des­sen gei­sti­ge Sou­ve­rä­ni­tät, sei­ne Iro­nie und Spott­lust feh­len. In den er­sten Ka­pi­teln des Ro­mans ist auf­fäl­lig oft von »Be­deu­ten­dem« die Re­de, das Epi­the­ton »be­deu­tend« wird in ver­schie­den­ste Kon­tex­te ein­ge­schleust. In sei­ner Re­de über die Dumm­heit, die Mu­sil 1937 in Wien vor un­ge­wöhn­lich zahl­rei­chem Pu­bli­kum hielt, kam er zum Schluß auf das Kon­zept des Be­deu­ten­den zu spre­chen. Be­deu­tungs­lo­ses Wis­sen, so ver­ste­he ich sei­ne Äu­ße­run­gen, kann eben­so nütz­lich wie schäd­lich sein. Die Wort­wahl fin­de ich nicht glück­lich, ich wür­de eher von Sinn­ge­bung spre­chen, es geht um die be­wuß­te Wer­tung von Da­ten und de­ren Ein­ord­nung in Kon­tex­te, Pro­jek­te, Ho­ri­zon­te. So hät­te Mu­sil sich auch die be­dau­ern­de Ge­ste spa­ren kön­nen, die er an den Tag leg­te, be­vor er sich von sei­nen Zu­hö­rern ver­ab­schie­de­te: Mit dem Ge­sag­ten sei »durch­aus noch kein Er­ken­nungs- und Un­ter­schei­dungs­zei­chen des Be­deu­ten­den ge­ge­ben«. Nun, es wird nie ein si­che­res Zei­chen da­von ge­ben, da es sich um ein un­end­li­ches Ge­spräch han­delt: Was be­deu­tend ist und was nicht, was für uns sinn­voll ist und was nicht, muß im­mer wie­der aufs neue durch­dacht und be­spro­chen und so­zu­sa­gen ver­han­delt wer­den. Dies gilt für ei­nen li­te­ra­ri­schen oder mu­si­ka­li­schen Ka­non eben­so wie für die Fra­ge, durch wel­che Tech­ni­ken wir En­er­gie für un­se­ren wirt­schaft­li­chen Be­darf er­zeu­gen und von wel­chen wir Ab­stand neh­men wol­len. Die Dumm­heit der di­gi­ta­len Welt be­steht dar­in, daß sie auf der­lei müh­sa­me Un­ter­schei­dun­gen ver­zich­ten zu kön­nen vor­gibt. Was gut ist und was nicht, ist in die­ser Welt oh­ne­hin in Ran­kings fest­ge­legt, und was mir ge­fällt, brau­che ich nicht zu be­grün­den. Die we­nig­sten wis­sen, wie Ran­kings zu­stan­de kom­men, die mei­sten neh­men sie ge­dan­ken­los auf und re­pro­du­zie­ren sie. Un­ter sol­chen Be­din­gun­gen ist al­les be­deu­tend, ei­ne Kunst­fi­gur wie Con­chi­ta Wurst gilt gleich wie ein Shake­speare-Dar­stel­ler. Ei­ne Fi­gur gilt, wenn sie »er­folg­reich« ist. Was er­folg­reich ist, ent­schei­den die Ran­kings des Markts. Al­les und nichts ist be­deu­tend, die dia­lek­ti­sche Span­nung ist ver­schwun­den, die Mü­he, die Mu­sil einst auf das Be­deu­tend-Sein und Be­deu­tend-Ma­chen ver­wand­te, heu­te kaum noch ver­ständ­lich. Er ahn­te die fer­ne­ren Ent­wick­lun­gen, als er sich Ge­dan­ken über ge­nia­le Bo­xer und Renn­pfer­de mach­te.

© Leo­pold Fe­der­mair

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