(Blind­gän­ger)

Je­mand, der sich noch ei­nem lin­ken Re­per­toire ver­pflich­tet fühlt, mein­te neu­lich zum The­ma der un­ent­wegt aus­ge­wei­te­ten is­rae­li­schen Sied­lun­gen in Pa­lä­sti­na: Klar, da ist ein Volk oh­ne Raum. Re­flex­ar­tig fing ein an­de­rer an sich über die In­si­nu­ie­rung auf­zu­re­gen, und nach dem üb­li­chen Hin­und­her üb­te man sich in dem un­aus­weich­li­chen Patt. Ich dach­te nur wie­der dar­an, wie man mit dem Kampf um das Ter­ri­to­ri­um bei den Grund­lagen der Po­li­tik ist (und mit den Bo­den­be­sit­zern auch wie­der bei je­dem ein­zel­nen Mos­he und Ah­mad Ohne­land). Und wie die Ver­drän­gung nicht-kon­for­men Le­bens der be­währ­te Me­cha­nis­mus für das Über­le­ben der Stär­ke­ren ist.

Und kann der Stär­ke­re an­ders als blind sein? Ar­gu­men­te je­den­falls he­ben sich ir­gend­wann ge­gen­sei­tig auf. Als ich ei­nes frü­hen Mai­abends als ich noch in der Nä­he ar­bei­te­te durch die Kit­tel­bach­gär­ten ging, hat­te es dort ein Fest ge­ge­ben mit Gir­lan­den und Punsch, und auch dem schlen­dern­den Zaun­gast wur­de von ei­nem la­chen­den, sich ob sei­ner Auf­ga­be sicht­lich auf­ge­wer­tet füh­len­den dicken Mäd­chen ein Glas ge­reicht. Das Mäd­chen hat­te sich ei­ne Art Reif aus Gold­pap­pe ins Haar ge­steckt mit dem da heraus­stehenden Sche­ren­schnitt ei­ner Zahl – wie frü­her die­se Auf­sät­ze auf beim Bäcker zu be­stel­len­den Tor­ten zu Ju­bi­lä­en. Aber sie be­dien­te gleich wei­ter, und ich kam nicht da­zu, mit ihr ein paar Wor­te dar­über zu wech­seln. Au­ßer­dem dreh­te we­gen der Europameister­schaft ge­ra­de je­mand an dem im­pro­vi­sier­ten Buf­fet ein Kof­fer­ra­dio an. Wei­ter­le­sen

Vom 19. Jahr­hun­dert ler­nen

Lafcadio Hearn: Chita

Laf­ca­dio Hearn: Chi­ta

Wie­der­ent­deckt: Laf­ca­dio Hearn

»Un­er­schöpf­lich sind die­se Bü­cher. Wie ich sie auf­blättere, ist es mir bei­na­he un­be­greif­lich, zu den­ken, daß sie wirk­lich un­ter den Deut­schen noch fast un­be­kannt sein sol­len.« Die­se Sät­ze schrieb Hu­go von Hof­manns­thal 1904 nach dem Tod von Laf­ca­dio Hearn, und sie sind mehr als hun­dert Jah­re spä­ter zu wie­der­ho­len. Der un­greif­ba­re, no­ma­di­sie­ren­de, in un­ter­schied­li­chen Gen­res tä­ti­ge Au­tor: daß sich an sei­ner Si­tua­ti­on post­hum et­was Ent­schei­den­des än­dern wird, ist zu hof­fen, wenn­gleich man es be­zwei­feln mag. Der Über­set­zer Alex­an­der Pech­mann tut das Sei­ne da­zu, in ei­ner her­vor­ra­gen­den Ar­beit von Prä­sen­ta­ti­on, Ein­füh­lung und Wie­der­ga­be. Im Nach­wort zu sei­ner Aus­ga­be des Ro­mans Chi­ta. Ei­ne Er­in­ne­rung an Last Is­land si­tu­iert er Hearn li­te­r­ar­hi­sto­risch zwi­schen Ro­bert Cra­ne, R. L. Ste­ven­son und Jo­seph Con­rad.

Ein an­gel­säch­si­scher Au­tor, ge­wiß. Viel­leicht ame­ri­ka­nisch. In­ter­kul­tu­rell und mehr­sprachig wie Con­rad. Neu­gie­rig auf Aben­teu­er wie Ste­ven­son. In Grie­chen­land ge­bo­ren, in Frank­reich zur Schu­le ge­gan­gen, nach Ir­land und in die USA ge­schickt, da­mit ihn die Fa­mi­lie los­wird. Von Cin­cin­na­ti nach New Or­leans ge­flüch­tet (oder wie­der ver­trie­ben). Dann Mar­ti­ni­que, dann Ja­pan, da­mals ein fast ganz un­be­kann­tes Land – Hearn trug viel da­zu bei, es jen­seits ei­nes ge­fäl­li­gen Exo­tis­mus be­kannt zu ma­chen. Die letz­ten 14 Jah­re bis zu sei­nem Tod. Hear­ns’ Werk ist he­te­ro­gen, es zeugt von ei­nem müh­sa­men Lebens­kampf, auch wenn die Mü­hen in den Tex­ten durch­aus nicht im­mer durch­klin­gen. Chi­ta zum Bei­spiel ist ein sorg­fäl­tig ge­wirk­ter Ro­man mit zahl­lo­sen Na­tur­be­schrei­bun­gen, die eben­so wie die lang­sa­me, dann doch wie­der be­schleu­nig­te Er­zähl­be­we­gung an Adal­bert Stif­ter er­in­nern. Er­zäh­lung ei­ner Ge­gend, der In­seln und Ba­yous und Sümp­fe in Loui­sia­na, am Golf von Me­xi­ko; aber auch ei­nes ver­wai­sten Mäd­chens und sei­ner Pfle­ge­el­tern. Wei­ter­le­sen

Peer Stein­brück: Ver­tag­te Zu­kunft

Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft

Peer Stein­brück: Ver­tag­te Zu­kunft

Da sitzt er, der Mann der vor an­dert­halb Jah­ren Kanz­ler wer­den woll­te. Auf ei­ner Trep­pe, im An­zug, mit ro­ter Kra­wat­te. Für sei­ne Ver­hält­nis­se lä­chelt er fast. »Ver­tagte Zu­kunft« steht über ihm, in pas­sen­der Far­be zur Kra­wat­te. Dar­un­ter »Die selbst­zu­frie­de­ne Re­pu­blik«.

Peer Stein­brück hat ein neu­es Buch ge­schrie­ben. Wie per­vers die­ser Be­trieb ist, kann man dar­an ab­le­sen, dass er er­wäh­nen muss, dass er es sel­ber ge­schrie­ben hat. Sei­ne Ti­tel­the­se ist ein­fach: Der Wahl­er­folg der Uni­ons-Par­tei­en 2013 (41,5%) geht dar­auf zu­rück, dass die Wäh­ler das Be­dürf­nis nach Ru­he und vor al­lem po­li­ti­scher Kon­ti­nui­tät ge­wünscht hät­ten. Stein­brück be­stä­tigt da­mit weit­ge­hend die Aus­sa­ge der Au­gu­ren, die Mer­kels Wahl­kampf­stra­te­gie mit der von Kon­rad Ade­nau­er 1957 ver­gli­chen hat­ten, der mit sei­nem Kon­ter­fei und »Kei­ne Ex­pe­ri­men­te« die ab­so­lu­te Mehr­heit ge­won­nen hat­te. Die Unions­parteien hät­ten die­se Be­schwich­ti­gungs­stra­te­gie nicht zu­letzt mit Hil­fe der Me­di­en er­folg­reich um­ge­setzt. Je­de Kri­tik an den Ver­hält­nis­sen sei als Mie­se­pe­te­rei an­ge­se­hen wor­den. Die Ten­denz ging und geht, so Stein­brück, zur »kon­flikt­scheu­en Po­li­tik«.

Deut­lich wird er, wenn es dar­um geht, dass die SPD sich fra­gen las­sen müs­se, war­um sie die Wäh­ler nicht ha­be mo­bi­li­sie­ren und auf­rüt­teln kön­nen. Die SPD un­ter­schätz­te das »Selbst­bild­nis der Re­pu­blik«, so Stein­brück. Der Wunsch nach Kon­ti­nui­tät re­sul­tier­te nicht zu­letzt aus den rei­nen öko­no­mi­schen Zah­len. Sie spra­chen für die am­tie­ren­de Kanz­le­rin. Stein­brück sah sich zu­dem in der Fal­le, da er sei­nem Na­tu­rell ent­spre­chend ei­ni­ge po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen von schwarz-gelb nicht kri­ti­sie­ren konn­te, weil er ih­nen ei­gent­lich sel­ber zu­stimm­te. Da­zu zähl­te der Ab­bau der Staats­neu­ver­schul­dung (»Schwar­ze Null«) ge­nau­so wie die di­ver­sen Ret­tungs­schir­me für not­lei­den­de Eu­ro-Län­der. Ei­ne Ge­gen­po­si­ti­on hier­zu kam für Stein­brück und die SPD in bei­den Fäl­len nicht in­fra­ge.

Per­fekt hät­ten es die Uni­ons­par­tei­en ver­stan­den, die Wäh­ler für ihr »No­ta­ri­at über die bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ve In­ter­es­sen­wah­rung« zu mo­bi­li­sie­ren. Der Spa­gat für die Op­po­si­ti­on be­stand dar­in, dass man das Land nicht schlech­ter re­den woll­te, als es in gro­ßen Tei­len der Be­völ­ke­rung emp­fun­den wur­de. Die Pa­ro­le nicht al­les an­ders, aber ei­ni­ges bes­ser ma­chen zu wol­len, war be­reits ver­ge­ben. Stein­brück such­te sich The­men. Die­se zün­de­ten je­doch nicht, was er un­ein­ge­schränkt ein­ge­stand. Wei­ter­le­sen

Der Dia­log oder die Not­wen­dig­keit ei­nes Zwi­schen

Im Mit­tel­punkt der fol­gen­den Be­trach­tung soll der durch Stell­ver­tre­ter ge­führ­te Dia­log ste­hen, in dem die­se ei­ne sehr klei­ne Teil­men­ge der von den Aus­wir­kun­gen des Dia­logs Be­trof­fe­nen, dar­stel­len, al­so nicht mit ih­nen ident sind: Um als (be­rech­tig­ter) Stell­vertreter zu gel­ten, muss man durch die Be­trof­fe­nen qua Amt, qua Wahl oder auf ir­gend­ei­nem an­de­ren Weg le­gi­ti­miert wor­den sein; die­se Le­gi­ti­ma­ti­on wird im­mer von Ein­zel­nen oder Grup­pen in Fra­ge ge­stellt wer­den, der Dia­logs wird An­grif­fen aus­ge­setzt sein, ge­gen die sich die be­tei­lig­ten Per­so­nen be­haup­ten müs­sen; ih­re Kraft er­hält die­se Be­haup­tung aus der Not­wen­dig­keit des Dia­logs und der Nach­tei­le (»Ko­sten«) die ein Schei­tern oder Nicht­zu­stan­de­kom­men be­deu­ten wür­den. Wei­ter­le­sen

Mut­ter­lie­be, Cha­rak­ter­um­kehr und kur­ze Pa­nik

TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN MÄRZ 1989

Pa­ris, 6. März, Mon­tag: Strah­len­der Tag, herr­li­che Wär­me, un­glaub­lich schön. Mut­ter klingt schreck­lich schlecht, am Te­le­fon, in Ber­lin ist sie, al­lein­ge­las­sen von Bob1, ent-liebt, de­pri­miert. Ma­che ihr den Vor­schlag, nach Pa­ris zu kom­men. Aus Mit­leid? Ja, in er­ster Li­nie.

Be­glei­te L.2 zu ih­rem En­ga­ge­ment in den »Vogue«-Studios: sie soll Li­mo­nov3 nackt pho­to­gra­phie­ren, für die Con­dé-Nast-Zeit­schrift »Gla­mour«. (...) Durch die un­fass­ba­re Wär­me Rich­tung Thé­at­re de l’Odéon, heu­te ge­lingt mir der er­ste Kon­takt zu den Män­nern.4 Ein Jun­ge spricht mich an, Pas­cal, stellt mich all sei­nen Ha­be­rern5 vor, Ha­kim vor al­lem, ei­nem Was­ser­fall der Re­de- und Er­zähl­lust. La­de sie zu Ca­fé und Men­the-Tee ein, wir spre­chen über mein An­lie­gen, sie zei­gen sich in­ter­es­siert, be­gei­stert, neu­gie­rig. Ha­kim meint, ich müs­se viel über die Tech­nik des Büh­nen­bilds, der Büh­nen­ar­beit nach­le­sen, die zahl­lo­sen Fach­aus­drücke, die Kno­ten, die TABUS der »ma­chi­ni­stes« ken­nen­ler­nen, die vor 200 – 300 Jah­ren meist ehe­ma­li­ge See­leu­te wa­ren. Er zeigt mir den Be­reich ober­halb der Büh­ne, den Schnür­bo­den so­zu­sa­gen, CINTRE ge­nannt. Bin im Um­klei­de­raum der Män­ner, wo die blau-me­tal­le­nen Schrän­ke ste­hen – wie bei Fuß­bal­lern oder Mi­li­tärs. End­lich der er­hoff­te Kon­takt! Wer­de si­cher viel von die­sen Ker­len ler­nen... Wei­ter­le­sen


  1. Gemeint sind Jungks Eltern, Ruth und Robert (Bob) Jungk. 

  2. Lillian Birnbaum, Fotografin und Filmproduzentin, seine spätere Frau. 

  3. Ed Limonov, russischer Schriftsteller, später nationalistischer Politiker. Vgl. 'Horror-Wohnungen' 

  4. Im Rahmen seiner Recherchen für den Roman 'Tigor', 1991 im Verlag S. Fischer erschienen, verbrachte Jungk mehrere Monate im Théatre de l’Odéon, um das Leben der Bühenarbeiter, vor allem der am Schnürboden Beschäftigten, näher kennenzulernen. 

  5. Österreichisch/Wienerisch für Freunde. 

Die Grau­sam­keit der Ver­nunft

Karl Gutz­kow: Wal­ly, die Zweif­le­rin

Je­sus war ein »Schwär­mer«, der ei­ne »ver­un­glück­te Re­vo­lu­ti­on« an­zet­tel­te. Sich als Mes­si­as zu be­zeich­nen, war ei­ne »drei­ste Be­haup­tung«. Die Je­sus-Ge­schich­ten in der Bi­bel sind »Mär­chen«, die nur von Och­sen und Eseln – wie im Stall von Beth­le­hem – ge­glaubt wür­den... Wer heu­te sol­che Sät­ze über den Pro­phe­ten Mo­ham­med und den Is­lam schreibt, muß um sein Le­ben fürch­ten. Als Karl Gutz­kow 1835 in Deutsch­land sei­ne re­li­gi­ons­kri­ti­schen Be­mer­kun­gen über das Chri­sten­tum ver­öf­fent­lich­te, wur­de er ins Ge­fäng­nis ge­wor­fen, sein Buch wur­de ver­bo­ten. Im­mer­hin, er kam bald wie­der frei und konn­te sei­ne noch jun­ge Kar­rie­re als frei­er Schrift­stel­ler fort­set­zen.

Macht man sich an die Lek­tü­re des Ro­mans, aus dem die­se Zi­ta­te stam­men, deu­tet nichts auf ideo­lo­gi­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Ei­ne schö­ne Frau rei­tet uns auf ei­nem Schim­mel ent­ge­gen, ei­ne sanf­te Schwe­ster je­ner Ama­zo­ne, die Hein­rich von Kleist un­ter dem Na­men Pen­the­si­lea ver­ewig­te. Wal­ly bie­tet den Män­nern, die sie um­wer­ben, Pa­ro­li. Sie spielt mit ih­nen, bis Cä­sar auf­tritt und sei­ner­seits mit ihr zu spie­len be­ginnt. Aus der Fe­der die­ses Cä­sar stammt die re­li­gi­ons­kri­ti­sche Schrift, die Wal­ly am En­de zur Ver­zweif­lung trei­ben wird, denn sie läßt die jun­ge Frau, die an et­was glau­ben will und doch, weil sie klug ist, an nichts glau­ben kann, mit lee­ren Hän­den ste­hen.

Es liegt na­he, die Fi­gur des Cä­sar als Ver­füh­rer in der Tra­di­ti­on der Li­ber­tins des 18. Jahr­hun­derts zu se­hen. Al­ler­dings stellt uns Gutz­kow ei­nen Frau­en­hel­den vor, der das Ob­jekt sei­ner Be­gier­de mit er­hitz­ten Dis­kur­sen ab­fer­tigt und sich auf keu­sches An­schau­en ih­rer Nackt­heit be­schränkt (ge­ra­de­zu ver­rä­te­risch, wie oft das Wort »keusch« in der ent­spre­chen­den Sze­ne vor­kommt). Die sinn­li­che Lie­be voll­zieht er, wenn es wahr ist, mit ei­ner Jü­din und lebt mit ihr in Frank­reich, weil das Ehe­paar dort nicht, wie in Deutsch­land, auf den Se­gen der Kir­che an­ge­wie­sen ist. Auch in die­sem Punkt sind Cä­sar ideo­logische, so­gar bü­ro­kra­ti­sche Fra­gen wich­ti­ger als mensch­li­che, sinn­li­che Ent­schei­dun­gen. Der Zy­nis­mus des Ver­füh­rers liegt nicht mehr dar­in, daß er die Frau­en zur Be­frie­di­gung sei­ner Ge­lü­ste ge­braucht, um sie her­nach fal­len zu las­sen, son­dern in sei­nem intellek­tuellen Über-den-Din­gen-Ste­hen. Mit sei­nem Den­ken und Mei­nen hält er sich Wal­ly vom Leib. Er treibt im buch­stäb­li­chen Sin­ne das, was man mit ei­nem bö­sen deut­schen Wort (des spä­ten 20. Jahr­hun­derts) als »Hirn­wich­se­rei« be­zeich­net.

Gutz­kows Ro­man wen­det sich fast schon ko­kett ge­gen den Emp­find­sam­keits­kult der Ro­man­ti­ker, doch in sei­ner Mach­art ist viel von der col­la­ge­haf­ten Frag­men­ta­rik ro­man­ti­scher Pro­sa. Die Er­zäh­lung schließt mit ei­ni­gen Sei­ten aus Wal­lys Ta­ge­buch, und die­ses Ta­ge­buch ent­hält sei­ner­seits als Fremd­text Cä­sars Trak­tat über und wi­der das Chri­sten­tum. Im Ro­man se­hen wir Wal­ly als Le­se­rin; die an­ti-christ­li­che Lek­tü­re stürzt sie in den Ab­grund, statt sie zu er­bau­en, wie es christ­li­che Schrif­ten seit je­her be­an­spru­chen. Auch Wal­ly er­hofft sich Er­bau­ung, al­so Stär­kung, und zwar vom Men­schen, den sie liebt, eben­so wie von den Tex­ten die sie liest, doch sie wird von bei­den bit­ter ent­täuscht. Dem Le­ser des Ro­mans steht es frei, je­ne Ent­rü­stung über den männ­li­chen Hel­den zu emp­fin­den, auf de­ren For­mu­lie­rung der Au­tor ver­zich­te­te mög­li­cher­wei­se des­halb, weil ihm Cä­sar zu na­he stand.

Die Re­li­gi­ons­kri­tik ist heu­te auch in den Län­dern christ­li­cher Tra­di­ti­on nicht ver­stummt, ob­wohl sie manch­mal den An­schein von Wind­müh­len­kämp­fen hat. Was, wenn al­les hi­sto­risch er­klärt ist, wenn das ge­sell­schaft­li­che Han­deln durch und durch ver­nünf­tig ge­wor­den und die Quel­le re­li­giö­ser oder sonst­wie phan­ta­sti­scher Mär­chen ver­siegt ist? Kein Opi­um mehr für das Volk! So bleibt wo­mög­lich ein waste land zu­rück, in dem emp­find­sa­me Ge­mü­ter wie Wal­ly nicht exi­stie­ren kön­nen. Ein so rück­sichts­lo­ser Athe­is­mus ist ei­tel und zy­nisch, er be­schränkt sich zu­letzt auf blo­ße Recht­ha­be­rei. Und eben dar­an geht Wal­ly zu­grun­de, mit­samt ih­rer Sehn­sucht nach ver­nünf­ti­gen Ver­hältnissen, in de­nen trotz­dem für Lie­be und Phan­ta­sie Platz wä­re. Wal­ly, die Zweif­le­rin ist das gei­sti­ge Er­zeug­nis ei­nes Zy­ni­kers, der uns ei­ne un­frei­wil­li­ge Tra­gö­die ver­macht hat. Viel­leicht hät­ten sie die Dich­tun­gen Hein­rich Hei­nes, den Gutz­kow als Pro­sa­schrift­stel­ler ver­ehr­te, ret­ten kön­nen:

    Ja, Zucker­erb­sen für je­der­mann,
    So­bald die Scho­ten plat­zen!
    Den Him­mel über­las­sen wir
    Den En­geln und den Spat­zen.

© Leo­pold Fe­der­mair

Neu­es Res­sort: »Wie­der­vor­la­ge«

Leo­pold Fe­der­mairs mor­gi­ger Bei­trag »Die Grau­sam­keit der Ver­nunft« über Karl Gutz­kows Buch »Wal­ly, die Zweif­le­rin« be­grün­det ein neu­es Res­sort auf die­ser Web­sei­te. Es heisst »Wie­der­vor­la­ge«. In lo­ser Fol­ge sol­len hier per­sön­li­che Ein­drücke wie­der­ge­ge­ben wer­den, die beim Wie­der­le­sen ei­nes Bu­ches oder viel­leicht er­neu­tem An­schau­en ei­nes Fil­mes oder ei­nes an­de­ren Kunst­wer­kes ent­stan­den sind. Wie hat sich das Ur­teil ver­än­dert? Ist die er­neu­te Re­zep­ti­on ein Ge­winn? Oder ein Grau­sen? Hält das Buch, der Film, noch den ei­ge­nen, in­zwi­schen viel­leicht ge­wan­del­ten An­sprü­chen stand? Wird aus der Wie­der­vor­la­ge ei­ne Wi­der­vor­la­ge? War­um ist das so?

Al­le Au­toren die­ses Blogs sind ein­ge­la­den, Bei­trä­ge zu ver­fas­sen.

Am Ran­de kam es in die­sem Blog zu ei­ni­gen klei­nen Ver­än­de­run­gen in den Ka­te­go­rien, die »Res­sorts« ge­nannt wer­den. So wur­de z. B, aus »In­nen­po­li­tik« und »Au­ßen­po­li­tik« das Res­sort »Po­li­tik«. Ei­ni­ge Ka­te­go­rien wur­den auf­ge­löst und an­de­ren zu­ge­schla­gen.