In memoriam Günter Grass
© Malte Herwig
Jemand, der sich noch einem linken Repertoire verpflichtet fühlt, meinte neulich zum Thema der unentwegt ausgeweiteten israelischen Siedlungen in Palästina: Klar, da ist ein Volk ohne Raum. Reflexartig fing ein anderer an sich über die Insinuierung aufzuregen, und nach dem üblichen Hinundher übte man sich in dem unausweichlichen Patt. Ich dachte nur wieder daran, wie man mit dem Kampf um das Territorium bei den Grundlagen der Politik ist (und mit den Bodenbesitzern auch wieder bei jedem einzelnen Moshe und Ahmad Ohneland). Und wie die Verdrängung nicht-konformen Lebens der bewährte Mechanismus für das Überleben der Stärkeren ist.
Und kann der Stärkere anders als blind sein? Argumente jedenfalls heben sich irgendwann gegenseitig auf. Als ich eines frühen Maiabends als ich noch in der Nähe arbeitete durch die Kittelbachgärten ging, hatte es dort ein Fest gegeben mit Girlanden und Punsch, und auch dem schlendernden Zaungast wurde von einem lachenden, sich ob seiner Aufgabe sichtlich aufgewertet fühlenden dicken Mädchen ein Glas gereicht. Das Mädchen hatte sich eine Art Reif aus Goldpappe ins Haar gesteckt mit dem da herausstehenden Scherenschnitt einer Zahl – wie früher diese Aufsätze auf beim Bäcker zu bestellenden Torten zu Jubiläen. Aber sie bediente gleich weiter, und ich kam nicht dazu, mit ihr ein paar Worte darüber zu wechseln. Außerdem drehte wegen der Europameisterschaft gerade jemand an dem improvisierten Buffet ein Kofferradio an. Weiterlesen
»Unerschöpflich sind diese Bücher. Wie ich sie aufblättere, ist es mir beinahe unbegreiflich, zu denken, daß sie wirklich unter den Deutschen noch fast unbekannt sein sollen.« Diese Sätze schrieb Hugo von Hofmannsthal 1904 nach dem Tod von Lafcadio Hearn, und sie sind mehr als hundert Jahre später zu wiederholen. Der ungreifbare, nomadisierende, in unterschiedlichen Genres tätige Autor: daß sich an seiner Situation posthum etwas Entscheidendes ändern wird, ist zu hoffen, wenngleich man es bezweifeln mag. Der Übersetzer Alexander Pechmann tut das Seine dazu, in einer hervorragenden Arbeit von Präsentation, Einfühlung und Wiedergabe. Im Nachwort zu seiner Ausgabe des Romans Chita. Eine Erinnerung an Last Island situiert er Hearn literarhistorisch zwischen Robert Crane, R. L. Stevenson und Joseph Conrad.
Ein angelsächsischer Autor, gewiß. Vielleicht amerikanisch. Interkulturell und mehrsprachig wie Conrad. Neugierig auf Abenteuer wie Stevenson. In Griechenland geboren, in Frankreich zur Schule gegangen, nach Irland und in die USA geschickt, damit ihn die Familie loswird. Von Cincinnati nach New Orleans geflüchtet (oder wieder vertrieben). Dann Martinique, dann Japan, damals ein fast ganz unbekanntes Land – Hearn trug viel dazu bei, es jenseits eines gefälligen Exotismus bekannt zu machen. Die letzten 14 Jahre bis zu seinem Tod. Hearns’ Werk ist heterogen, es zeugt von einem mühsamen Lebenskampf, auch wenn die Mühen in den Texten durchaus nicht immer durchklingen. Chita zum Beispiel ist ein sorgfältig gewirkter Roman mit zahllosen Naturbeschreibungen, die ebenso wie die langsame, dann doch wieder beschleunigte Erzählbewegung an Adalbert Stifter erinnern. Erzählung einer Gegend, der Inseln und Bayous und Sümpfe in Louisiana, am Golf von Mexiko; aber auch eines verwaisten Mädchens und seiner Pflegeeltern. Weiterlesen
Peer Steinbrück hat ein neues Buch geschrieben. Wie pervers dieser Betrieb ist, kann man daran ablesen, dass er erwähnen muss, dass er es selber geschrieben hat. Seine Titelthese ist einfach: Der Wahlerfolg der Unions-Parteien 2013 (41,5%) geht darauf zurück, dass die Wähler das Bedürfnis nach Ruhe und vor allem politischer Kontinuität gewünscht hätten. Steinbrück bestätigt damit weitgehend die Aussage der Auguren, die Merkels Wahlkampfstrategie mit der von Konrad Adenauer 1957 verglichen hatten, der mit seinem Konterfei und »Keine Experimente« die absolute Mehrheit gewonnen hatte. Die Unionsparteien hätten diese Beschwichtigungsstrategie nicht zuletzt mit Hilfe der Medien erfolgreich umgesetzt. Jede Kritik an den Verhältnissen sei als Miesepeterei angesehen worden. Die Tendenz ging und geht, so Steinbrück, zur »konfliktscheuen Politik«.
Deutlich wird er, wenn es darum geht, dass die SPD sich fragen lassen müsse, warum sie die Wähler nicht habe mobilisieren und aufrütteln können. Die SPD unterschätzte das »Selbstbildnis der Republik«, so Steinbrück. Der Wunsch nach Kontinuität resultierte nicht zuletzt aus den reinen ökonomischen Zahlen. Sie sprachen für die amtierende Kanzlerin. Steinbrück sah sich zudem in der Falle, da er seinem Naturell entsprechend einige politische Entscheidungen von schwarz-gelb nicht kritisieren konnte, weil er ihnen eigentlich selber zustimmte. Dazu zählte der Abbau der Staatsneuverschuldung (»Schwarze Null«) genauso wie die diversen Rettungsschirme für notleidende Euro-Länder. Eine Gegenposition hierzu kam für Steinbrück und die SPD in beiden Fällen nicht infrage.
Perfekt hätten es die Unionsparteien verstanden, die Wähler für ihr »Notariat über die bürgerlich-konservative Interessenwahrung« zu mobilisieren. Der Spagat für die Opposition bestand darin, dass man das Land nicht schlechter reden wollte, als es in großen Teilen der Bevölkerung empfunden wurde. Die Parole nicht alles anders, aber einiges besser machen zu wollen, war bereits vergeben. Steinbrück suchte sich Themen. Diese zündeten jedoch nicht, was er uneingeschränkt eingestand. Weiterlesen
Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung soll der durch Stellvertreter geführte Dialog stehen, in dem diese eine sehr kleine Teilmenge der von den Auswirkungen des Dialogs Betroffenen, darstellen, also nicht mit ihnen ident sind: Um als (berechtigter) Stellvertreter zu gelten, muss man durch die Betroffenen qua Amt, qua Wahl oder auf irgendeinem anderen Weg legitimiert worden sein; diese Legitimation wird immer von Einzelnen oder Gruppen in Frage gestellt werden, der Dialogs wird Angriffen ausgesetzt sein, gegen die sich die beteiligten Personen behaupten müssen; ihre Kraft erhält diese Behauptung aus der Notwendigkeit des Dialogs und der Nachteile (»Kosten«) die ein Scheitern oder Nichtzustandekommen bedeuten würden. Weiterlesen
TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN MÄRZ 1989
Paris, 6. März, Montag: Strahlender Tag, herrliche Wärme, unglaublich schön. Mutter klingt schrecklich schlecht, am Telefon, in Berlin ist sie, alleingelassen von Bob1, ent-liebt, deprimiert. Mache ihr den Vorschlag, nach Paris zu kommen. Aus Mitleid? Ja, in erster Linie.
Begleite L.2 zu ihrem Engagement in den »Vogue«-Studios: sie soll Limonov3 nackt photographieren, für die Condé-Nast-Zeitschrift »Glamour«. (...) Durch die unfassbare Wärme Richtung Théatre de l’Odéon, heute gelingt mir der erste Kontakt zu den Männern.4 Ein Junge spricht mich an, Pascal, stellt mich all seinen Haberern5 vor, Hakim vor allem, einem Wasserfall der Rede- und Erzähllust. Lade sie zu Café und Menthe-Tee ein, wir sprechen über mein Anliegen, sie zeigen sich interessiert, begeistert, neugierig. Hakim meint, ich müsse viel über die Technik des Bühnenbilds, der Bühnenarbeit nachlesen, die zahllosen Fachausdrücke, die Knoten, die TABUS der »machinistes« kennenlernen, die vor 200 – 300 Jahren meist ehemalige Seeleute waren. Er zeigt mir den Bereich oberhalb der Bühne, den Schnürboden sozusagen, CINTRE genannt. Bin im Umkleideraum der Männer, wo die blau-metallenen Schränke stehen – wie bei Fußballern oder Militärs. Endlich der erhoffte Kontakt! Werde sicher viel von diesen Kerlen lernen... Weiterlesen
Gemeint sind Jungks Eltern, Ruth und Robert (Bob) Jungk. ↩
Lillian Birnbaum, Fotografin und Filmproduzentin, seine spätere Frau. ↩
Ed Limonov, russischer Schriftsteller, später nationalistischer Politiker. Vgl. 'Horror-Wohnungen' ↩
Im Rahmen seiner Recherchen für den Roman 'Tigor', 1991 im Verlag S. Fischer erschienen, verbrachte Jungk mehrere Monate im Théatre de l’Odéon, um das Leben der Bühenarbeiter, vor allem der am Schnürboden Beschäftigten, näher kennenzulernen. ↩
Österreichisch/Wienerisch für Freunde. ↩
Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin
Jesus war ein »Schwärmer«, der eine »verunglückte Revolution« anzettelte. Sich als Messias zu bezeichnen, war eine »dreiste Behauptung«. Die Jesus-Geschichten in der Bibel sind »Märchen«, die nur von Ochsen und Eseln – wie im Stall von Bethlehem – geglaubt würden... Wer heute solche Sätze über den Propheten Mohammed und den Islam schreibt, muß um sein Leben fürchten. Als Karl Gutzkow 1835 in Deutschland seine religionskritischen Bemerkungen über das Christentum veröffentlichte, wurde er ins Gefängnis geworfen, sein Buch wurde verboten. Immerhin, er kam bald wieder frei und konnte seine noch junge Karriere als freier Schriftsteller fortsetzen.
Macht man sich an die Lektüre des Romans, aus dem diese Zitate stammen, deutet nichts auf ideologische Auseinandersetzungen. Eine schöne Frau reitet uns auf einem Schimmel entgegen, eine sanfte Schwester jener Amazone, die Heinrich von Kleist unter dem Namen Penthesilea verewigte. Wally bietet den Männern, die sie umwerben, Paroli. Sie spielt mit ihnen, bis Cäsar auftritt und seinerseits mit ihr zu spielen beginnt. Aus der Feder dieses Cäsar stammt die religionskritische Schrift, die Wally am Ende zur Verzweiflung treiben wird, denn sie läßt die junge Frau, die an etwas glauben will und doch, weil sie klug ist, an nichts glauben kann, mit leeren Händen stehen.
Es liegt nahe, die Figur des Cäsar als Verführer in der Tradition der Libertins des 18. Jahrhunderts zu sehen. Allerdings stellt uns Gutzkow einen Frauenhelden vor, der das Objekt seiner Begierde mit erhitzten Diskursen abfertigt und sich auf keusches Anschauen ihrer Nacktheit beschränkt (geradezu verräterisch, wie oft das Wort »keusch« in der entsprechenden Szene vorkommt). Die sinnliche Liebe vollzieht er, wenn es wahr ist, mit einer Jüdin und lebt mit ihr in Frankreich, weil das Ehepaar dort nicht, wie in Deutschland, auf den Segen der Kirche angewiesen ist. Auch in diesem Punkt sind Cäsar ideologische, sogar bürokratische Fragen wichtiger als menschliche, sinnliche Entscheidungen. Der Zynismus des Verführers liegt nicht mehr darin, daß er die Frauen zur Befriedigung seiner Gelüste gebraucht, um sie hernach fallen zu lassen, sondern in seinem intellektuellen Über-den-Dingen-Stehen. Mit seinem Denken und Meinen hält er sich Wally vom Leib. Er treibt im buchstäblichen Sinne das, was man mit einem bösen deutschen Wort (des späten 20. Jahrhunderts) als »Hirnwichserei« bezeichnet.
Gutzkows Roman wendet sich fast schon kokett gegen den Empfindsamkeitskult der Romantiker, doch in seiner Machart ist viel von der collagehaften Fragmentarik romantischer Prosa. Die Erzählung schließt mit einigen Seiten aus Wallys Tagebuch, und dieses Tagebuch enthält seinerseits als Fremdtext Cäsars Traktat über und wider das Christentum. Im Roman sehen wir Wally als Leserin; die anti-christliche Lektüre stürzt sie in den Abgrund, statt sie zu erbauen, wie es christliche Schriften seit jeher beanspruchen. Auch Wally erhofft sich Erbauung, also Stärkung, und zwar vom Menschen, den sie liebt, ebenso wie von den Texten die sie liest, doch sie wird von beiden bitter enttäuscht. Dem Leser des Romans steht es frei, jene Entrüstung über den männlichen Helden zu empfinden, auf deren Formulierung der Autor verzichtete möglicherweise deshalb, weil ihm Cäsar zu nahe stand.
Die Religionskritik ist heute auch in den Ländern christlicher Tradition nicht verstummt, obwohl sie manchmal den Anschein von Windmühlenkämpfen hat. Was, wenn alles historisch erklärt ist, wenn das gesellschaftliche Handeln durch und durch vernünftig geworden und die Quelle religiöser oder sonstwie phantastischer Märchen versiegt ist? Kein Opium mehr für das Volk! So bleibt womöglich ein waste land zurück, in dem empfindsame Gemüter wie Wally nicht existieren können. Ein so rücksichtsloser Atheismus ist eitel und zynisch, er beschränkt sich zuletzt auf bloße Rechthaberei. Und eben daran geht Wally zugrunde, mitsamt ihrer Sehnsucht nach vernünftigen Verhältnissen, in denen trotzdem für Liebe und Phantasie Platz wäre. Wally, die Zweiflerin ist das geistige Erzeugnis eines Zynikers, der uns eine unfreiwillige Tragödie vermacht hat. Vielleicht hätten sie die Dichtungen Heinrich Heines, den Gutzkow als Prosaschriftsteller verehrte, retten können:
© Leopold Federmair
Leopold Federmairs morgiger Beitrag »Die Grausamkeit der Vernunft« über Karl Gutzkows Buch »Wally, die Zweiflerin« begründet ein neues Ressort auf dieser Webseite. Es heisst »Wiedervorlage«. In loser Folge sollen hier persönliche Eindrücke wiedergegeben werden, die beim Wiederlesen eines Buches oder vielleicht erneutem Anschauen eines Filmes oder eines anderen Kunstwerkes entstanden sind. Wie hat sich das Urteil verändert? Ist die erneute Rezeption ein Gewinn? Oder ein Grausen? Hält das Buch, der Film, noch den eigenen, inzwischen vielleicht gewandelten Ansprüchen stand? Wird aus der Wiedervorlage eine Widervorlage? Warum ist das so?
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Am Rande kam es in diesem Blog zu einigen kleinen Veränderungen in den Kategorien, die »Ressorts« genannt werden. So wurde z. B, aus »Innenpolitik« und »Außenpolitik« das Ressort »Politik«. Einige Kategorien wurden aufgelöst und anderen zugeschlagen.