(Blind­gän­ger)

Je­mand, der sich noch ei­nem lin­ken Re­per­toire ver­pflich­tet fühlt, mein­te neu­lich zum The­ma der un­ent­wegt aus­ge­wei­te­ten is­rae­li­schen Sied­lun­gen in Pa­lä­sti­na: Klar, da ist ein Volk oh­ne Raum. Re­flex­ar­tig fing ein an­de­rer an sich über die In­si­nu­ie­rung auf­zu­re­gen, und nach dem üb­li­chen Hin­und­her üb­te man sich in dem un­aus­weich­li­chen Patt. Ich dach­te nur wie­der dar­an, wie man mit dem Kampf um das Ter­ri­to­ri­um bei den Grund­lagen der Po­li­tik ist (und mit den Bo­den­be­sit­zern auch wie­der bei je­dem ein­zel­nen Mos­he und Ah­mad Ohne­land). Und wie die Ver­drän­gung nicht-kon­for­men Le­bens der be­währ­te Me­cha­nis­mus für das Über­le­ben der Stär­ke­ren ist.

Und kann der Stär­ke­re an­ders als blind sein? Ar­gu­men­te je­den­falls he­ben sich ir­gend­wann ge­gen­sei­tig auf. Als ich ei­nes frü­hen Mai­abends als ich noch in der Nä­he ar­bei­te­te durch die Kit­tel­bach­gär­ten ging, hat­te es dort ein Fest ge­ge­ben mit Gir­lan­den und Punsch, und auch dem schlen­dern­den Zaun­gast wur­de von ei­nem la­chen­den, sich ob sei­ner Auf­ga­be sicht­lich auf­ge­wer­tet füh­len­den dicken Mäd­chen ein Glas ge­reicht. Das Mäd­chen hat­te sich ei­ne Art Reif aus Gold­pap­pe ins Haar ge­steckt mit dem da heraus­stehenden Sche­ren­schnitt ei­ner Zahl – wie frü­her die­se Auf­sät­ze auf beim Bäcker zu be­stel­len­den Tor­ten zu Ju­bi­lä­en. Aber sie be­dien­te gleich wei­ter, und ich kam nicht da­zu, mit ihr ein paar Wor­te dar­über zu wech­seln. Au­ßer­dem dreh­te we­gen der Europameister­schaft ge­ra­de je­mand an dem im­pro­vi­sier­ten Buf­fet ein Kof­fer­ra­dio an.

Nun will ich hier nicht mei­ner­seits et­was in­si­nu­ie­ren, doch mer­ke ich, wie et­was Vor­gän­gi­ges da stär­ker ist und ich dem nie ganz ent­kom­me. Viel­leicht nicht un­ähn­lich wie ich (der sich an­son­sten noch nie da­für in­ter­es­sier­te) nicht das Jahr ver­ges­sen kann, in dem der lo­ka­le, der Hei­mat­klub Mei­ster wur­de: 1933. Ich ha­be des­we­gen so­gar ein­mal ei­ne Un­ter­su­chung über Zu­sam­men­hän­ge von Po­li­tik und Sport­tri­um­phen ge­le­sen, und weiß, dass ein­an­der so oder so zu be­din­gen fä­hi­ge Kon­junk­tu­ren da oft mög­lich, aber zu­letzt un­be­re­chen­bar sind. So glau­be ich al­so auch nicht, dass die As­so­zia­ti­on ge­recht ist, und doch den­ke ich je­des mal, fällt der Na­men die­ses (mir an­son­sten al­so kom­plett gleich­gül­ti­gen) Fuß­ball­ver­eins: aus­ge­rech­net, und die fa­ta­le Ge­dan­ken­ver­bin­dung ist da.

Und dann kam ich al­so wäh­rend je­nes Gar­ten­fe­stes nicht um­hin mit an­zu­hö­ren, wie ein eher klein­wüch­si­ger, mir in sei­nem Äu­ße­ren nicht wei­ter deut­lich ge­blie­be­ner Mann, der da mit an dem im Frei­en auf­ge­stell­ten Ta­pe­zier­tisch saß, sich be­schwer­te, dass man heu­te ja nicht mal mehr ei­nen Fuchs­bau ver­ga­sen dür­fe! (Oder hat­te er, noch ein Stück Wurst im Mund, Dachs­bau ge­sagt? Aber da war auch das nach Zu­stim­mung schon gar nicht mehr Hei­schen­de, da war die­ses längst Zwei­fel­lo­se im Ton. Ein Schre­ber? Ein Ge­mein­mensch? Ein All­tags-Na­zi? Ein durch sein ei­ge­nes Ste­reo­typ Ge­recht­fer­tig­ter?)

Wäh­rend wei­ter nie­mand auf die Äu­ße­rung des Man­nes re­agier­te, war für mich je­ne eh pre­kä­re Ge­müt­lich­keit in dem mit dem fröh­li­chem Ge­räusch an­ge­füll­ten Gar­ten so­fort da­hin ge­we­sen. Als ob über­haupt ein füh­len­des We­sen ei­nem an­de­ren füh­len­den We­sen je so et­was an­tun dürf­te! Und was war mit der Ge­walt sol­cher Un­be­irrt­heit, ob der Fa­ta­li­tät ir­gend­ei­nes blö­den Rich­ti­gen erst recht und schon im­mer blind? Steckt auch nur ein Mensch sich an, ei­ne gan­ze Po­pu­la­ti­on aus­zu­rot­ten: Kommt auch nur ein plün­dern­der Be­sat­zer um, er­schie­ßen wir al­le Män­ner im Dorf? Was ist mit der Toll­wut sol­cher Ver­nunft?

Et­was Un­gu­tes, et­was seit mei­nen er­sten Be­rüh­run­gen mit dem au­to­ri­tä­ren Cha­rak­ter in sei­ner Ohn­macht viel­leicht sel­ber Schlim­mes war da in mir auf­ge­stie­gen. Et­was, das ich we­gen der mir den Hals ver­en­gen­den Em­pö­rung noch nie wie an­de­re ein­fach hat­te ver­la­chen kön­nen, ob­wohl es, als Her­ren­lo­gik, an­ders­wie doch auch von mir schon als über­holt und ab­ge­wirt­schaf­tet er­kannt ge­wor­den war: Das Ze­tern der Kirsch­baum­be­sit­zer, das Zacki­ge der ih­re Hun­de Ab­rich­ten­den! Das Her­um­schnau­zen und die Kom­man­dos der ob ih­rer Ver­gan­gen­hei­ten ver­bit­tert aber de­muts­los ge­blie­be­nen Rent­ner! All das ih­re Kriegs­heim­keh­rer-Gest­rig­keit in gest­ri­ger Grö­ße über­tö­nen sol­len­de Alt­män­ner­un­glück! (Und bald dar­auf auch noch das An­hei­schi­ge ei­nes nach Pfei­fen­rauch und Le­der, nach Zünf­tig­keit rie­chen­den Leh­rers, der uns neu­er­dings kum­pel­haft zu kom­men ver­such­te.)

Ich hat­te nur noch mein Glas auf den Tisch knal­len und rasch da weg­ge­hen kön­nen. Doch die Re­ak­ti­on ver­gif­te­te mich selbst, ich kann­te mich da längst: Hät­te es ei­ne Waf­fe und ei­ne Ge­le­gen­heit ge­ge­ben, mein Hass in dem Mo­ment auf das Un­be­strit­te­ne in die­sem Mann war so stark, dass ich ihm gern mei­ner­seits ein­mal mit der Art Ver­blen­dung ge­kom­men wä­re, mit der er in die Welt ging. Oder mit Schlim­me­rem.

Na­tür­lich ist man da gleich wie­der bei der Idee, nach der man das, was man ver­nich­ten will, im­mer auch in sich trägt. Nur konn­te ich das, wäh­rend ich al­so merk­te, dass ich das bes­ser end­lich ein­mal in mir auf­zu­spü­ren hät­te, beim be­sten Wil­len nicht fin­den. Im Ge­gen­teil. Au­ßer, dass er, die­ser Mann – und er hat­te ja wie zu nie­man­dem Be­stimm­ten ge­rich­tet ge­spro­chen, in all sei­nen de­zi­dier­ten Äu­ße­run­gen hat­te er nie je­man­den an­ge­se­hen – die­se be­stimm­te Art Ge­gen­teil ver­kör­per­te, näm­lich mei­nes: dar­an ge­bun­den zu sein – und da­vor auf der Flucht.

Statt­des­sen deu­te­te es nur wie­der auf blin­de Flecke, auf ei­ne la­by­rin­thi­sche Ori­en­tiert­heit seit je, dar­auf, noch den Feind of­fen­bar ver­in­ner­licht zu ha­ben – ei­nen Mi­no­tau­rus?, ein Tä­terin­tro­jekt?, ei­ne Miss­ge­burt mei­ner selbst, von der ich An­er­ken­nung woll­te, dem ich Dank schul­de­te? -, und dar­in sel­ber zu­rück­ge­blie­ben zu sein, hoch­fah­rend und ins­ge­heim ver­zwei­felt, als ei­ner, der sich dem Al­ter nä­hert, der da­mit er­satz­wei­se zu re­kla­mie­ren­den Recht­ha­be­rei.

Da­bei kann ei­nem das dau­ernd zu Be­den­ken­de, das la­ten­te Ver­irrt­sein in sich selbst, bald sel­ber ei­ne Er­satz­hei­mat sein.

Ein­mal, am Ran­de der Tanz­flä­che auf ei­ner kroa­ti­schen Hoch­zeits­ge­sell­schaft, auf die ein Freund mich mit­ge­schleppt und auf der ich mich be­son­ders über­flüs­sig ge­fühlt hat­te, hat­te ich ei­nen sei­ner Be­kann­ten zu ihm sa­gen hö­ren (mög­li­cher­wei­se nicht den Bräu­ti­gam, son­dern den be­denk­lich ge­wor­de­nen Le­bens­weg oder die im Nach­hin­ein dy­na­sti­sche Fehl­ent­schei­dung ei­nes wei­te­ren Freun­des kom­men­tie­rend): Es war die fal­sche Hei­rat. Und ich, ich hat­te fal­sche Hei­mat ver­stan­den. Und so schlag­ar­tig wie un­ab­weis­bar den zu be­zwei­feln­den Teil an mir ge­se­hen, den, der – von et­was Un­heimlichem an­ge­trie­ben, ei­ner ins­ge­heim de­struk­ti­ven Po­tenz, die nicht leicht zu ak­zep­tie­ren ist -, an­dau­ernd ver­schlun­ge­nen We­gen fol­gen will, ei­ner Ver­knäu­e­lung des stra­pa­zier­ten Fa­dens in ihm sel­ber, den Decker­zäh­lun­gen im Gar­ten der Pfa­de, die sich ver­zwei­gen. Üb­ri­gens ver­mu­tet man die Her­kunft des Wor­tes La­by­rinth tat­säch­lich in ei­ner frü­hen Tanz­fi­gur – was mir das selt­sa­me Bild ei­ner be­stimm­ten Bein­be­we­gung ein­gibt, kann sein et­was aus dem Bal­lett, wo­mög­lich mit Be­zug auf das an­ge­zo­ge­ne und vor Span­nung leicht wip­pen­de Bein vor dem Sprung ei­nes Pans oder ei­nes ver­schla­ge­nen Sa­tyrs. (Ich den­ke auch an das Bild des an sei­nem Mi­kro­phon öf­ter auf ei­nem Bein ste­hen­den Flö­ti­sten ei­ner eng­li­schen Rock-Band, die es, glau­be ich, in den 1970ern mal gab.)

Und da fällt mir auch das noch ein: Das ein­zi­ge Mal, als ich sel­ber auf Kre­ta ge­we­sen war, war das nur so ein Hip­pie-Ur­laub ge­we­sen, am Strand zu schla­fen, am Mor­gen die Ein­ge­bo­re­nen mit heid­ni­scher Nackt­heit zu er­schrecken, und abends wie­der den gras-be­flü­gel­ten Geist in die Stern­him­mel ab­tru­deln zu las­sen. Und der Ort der frü­he­sten eu­ro­päi­schen Hoch­kul­tur? Nach Knos­sos, al­so zu de­ren eh längst aus­ge­plün­der­ten Stät­ten zu fah­ren, war es tags­über ein­fach zu heiß ge­we­sen. Au­ßer­dem woll­te da­mals auch ich noch ein mo­der­nes, das hieß igno­ran­tes Mit­glied des wei­te­ren eu­ro­päi­schen Welt­ju­gend­tums sein (was wie­der­um hieß: des ame­ri­ka­ni­sier­ten).

Und da­mit bin ich wie­der bei der Ge­walt der ei­nem ir­gend­wann to­ta­li­tär er­schei­nen­den, der herr­schen­den Ideen. Bei ei­nem Keim an Ter­ro­ris­mus, der viel­leicht früh aus un­kla­ren (vor mir sel­ber ver­steck­ten) Grün­den auch in mir war, hier, wo sie auf und her­um dem Gar­ten­gebiet Vo­gel­sang noch manch­mal Zer­schel­ler­bom­ben aus dem letz­ten Krieg fin­den, und ei­ne spe­zi­fi­sche Ge­ne­tik ei­nem so et­was wo­mög­lich wei­ter­ver­erbt oder sonst wie ein­pflanzt. Bei den auf­fäl­lig vie­len Hun­de­trai­nern in der Sied­lung, bei den Mi­li­ta­ria-Samm­lern (don­ners­tags of­fe­ne Tausch­bör­se). Bei den dau­ernd auf­ge­zo­ge­nen Territorial­zeichen, Fah­nen und Vor­hän­ge­schlös­sern an den Gar­ten­pfor­ten (de­ren mei­ste Pflöcke man mit ei­nem schwar­zen, ei­nem be­herz­ten Stie­fel­tritt wohl ein­tre­ten könn­te). Bei den Gar­ten­zwer­gen.

Oder rührt das, ein ge­fähr­li­ches Ge­misch aus Ab­nei­gung und Selbstun­ge­nü­gen – und mit der Zeit an­ge­wach­se­nem Un­be­ha­gen (al­so auch dem in der Kul­tur, der ei­ge­nen) -, doch nur an un­vor­denk­li­che, je nur wie­der aus­zu­gra­ben­de Ver­zweif­lun­gen, wenn man ein­mal und dann im­mer öf­ter und zu­neh­mend mit der Mehr­heit nicht mehr kon­form ge­hen kann? Rührt je­de Ab­wei­chung an ei­ne Schuld? Und da­mit wie­der an die grö­ße­re, die an­geb­lich kol­lek­ti­ve? Ein Zei­tungs­re­por­ter, der sich län­ger un­ter ih­nen auf­ge­hal­ten hat, zieht den Schluss, dass, was al­le Ter­ro­ri­sten ne­ben er­klär­ten oder vor­ge­scho­be­nen Grün­den wie Re­li­gi­on, Kampf für Ge­rech­tig­keit, Hass auf den lüg­ne­risch sei­ne Idea­le ver­ra­ten­den We­sten und so wei­ter ver­bin­det, das tie­fe Ge­fühl von Aus­ge­schlos­sen­sein ist: die Krän­kung, nicht da­zu­zu­ge­hö­ren. Und da­mit ein tie­fes Be­geh­ren nach Ra­che.

Hei­mat da­ge­gen sei ja im­mer das, wo wir al­le noch nicht sind. Des­halb schaf­fen wir uns ei­ne, und sei es mit Ge­walt. Was au­ßer Selbst­ver­gif­tung kann je­man­den da­zu trei­ben, mit Blau­säu­re­pa­tro­nen her­um­zu­ge­hen um die lo­ka­le Tier­welt zu be­ga­sen, den Un­ter­grund der Won­ne­gär­ten im Ter­ror­mo­nat Mai? Üb­ri­gens liegt das mut­maß­lich ur­sprüng­li­che, das mi­noi­sche La­by­rinth gar nicht in dem da­für gift­shop-mä­ßig aus­ge­bau­ten Mu­se­um Knos­sos, son­dern wohl eher 30 Ki­lo­me­ter süd­west­lich da­von in den Ber­gen, na­he ei­nem Ort na­mens Gor­tyn. Es ist ein weit­läu­fi­ges Ge­wirr von Tun­neln und Höh­len un­ter ei­nem Stein­bruch aus rö­mi­scher Zeit. In des­sen oft sack­gas­se­nen, stock­dunk­len Tie­fen auch im­mer noch Un­ge­heu­er lau­ern, und zwar höchst rea­le: in Form da ge­la­ger­ter und we­gen ih­rer an­dau­ern­den Ge­fähr­lich­keit nie ge­bor­ge­ner deut­scher Kriegs­mu­ni­ti­on.

Ge­gen En­de war mein Ge­fühl mit dem Ab­zweig Vo­gel­sang, dass ich mich dort im Gu­ten wie im Ab­grün­di­gen seit Lan­gem und an­dau­ernd ei­ner Sa­che ge­nä­hert hat­te – oder ihr für im­mer auf un­ge­fähr der glei­chen Di­stanz blieb. Und nie­man­dem war dar­an ei­ne Schuld zu ge­ben, auch die­sen Blind­gän­gern am Le­ben, die­sen Gar­ten-Obri­sten und ih­ren ein­äu­gi­gen, mich hier und da an­sprin­gen­den Ge­spen­stern nicht. Und es hat­te mich ja auch nur zu­fäl­lig da­hin ge­bracht. Und wie je­de Kreis­be­we­gung war sie ir­re­füh­rend und um­sonst – wenn auch nicht ver­geb­lich.

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(ver­wor­fe­ner Teil ei­ner Er­zäh­lung)

© Rai­ner Ra­bow­ski

3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ist es nicht merk­wür­dig, der­art an der Bier­bäu­chig­keit ei­ner sich als Mehr­heit ge­rie­ren­den Min­der­heit zu sto­ßen und die­sen Be­grif­fe wie »Hei­mat« oder »Ge­sell­schaft« frei­wil­lig zu über­las­sen? Ist denn aus­ge­macht, dass Hei­mat iden­tisch ist mit Kitsch und Rühr­se­lig­keit der 50er Jah­re-Fil­me oder der Mu­si­kan­ten­stadl- und Schla­ger­in­du­strie? War­um ih­nen nicht die­se Be­grif­fe ent­rei­ssen und sie neu »for­ma­tie­ren«?

    Und: Ist es nicht auch ein biss­chen be­quem für sich den Sta­tus des ewi­gen Sta­chels zu mo­nie­ren? Ich den­ke da nicht ein­mal nur an den Über­mo­ra­li­sten Grass, der in den letz­ten Ta­gen im­mer wie­der her­auf­be­schwo­ren und – zum letz­ten Mal – ab­ge­straft wur­de (be­rech­tigt oder nicht?). Ich den­ke da auch an mich, der sich im­mer und über­all – vor al­lem po­li­tisch – als be­son­ders re­flek­tiert zu ge­bär­den hat. Liegt nicht in die­sem Ver­hal­ten auch schon wie­der so et­was wie ein Per­fek­tio­nis­mus­wahn, vor­ge­bracht in im­mer wohl­fei­lem, weil auch ein biss­chen selbst­ge­rech­ten An­kla­ge­ton?

    War­um muss ich er­schau­dern, wenn ich hö­re, dass For­tu­na Düs­sel­dorf 1933 Deut­scher Mei­ster wur­de? War­um er­schau­dert man nicht in ähn­li­cher Ma­nier über die acht DDR Mei­ster­schaf­ten von Dy­na­mo Dres­den zwi­schen 1953 und 1990? Ist es nicht viel per­fi­der, dass al­le in der DDR-Zeit er­brach­ten Re­kor­de und Ti­tel mit der Ver­ei­ni­gung so­zu­sa­gen in Be­sitz der Bun­des­re­pu­blik über­ge­gan­gen sind – al­so auch al­le die un­ter Do­ping er­brach­ten Lei­stun­gen? Sind die­se Fra­gen zu ab­sei­tig?

    Noch ein­mal Grass: Man kann und darf ja sei­ne spä­te Ver­öf­fent­li­chung der Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­ner Ein­heit der Waf­fen-SS kri­ti­sie­ren. Aber darf man sie mit Jahr­gang 1970 oder spä­ter auch rich­ten? Ab­strak­ter: Ist der Hy­per­mo­ra­lis­mus, mit dem wir uns zu­wei­len mar­tern, nicht auch im­mer – ty­pisch deut­sches! – Bes­ser­wis­ser­tum?

    So, wie es hier steht, ist eben ein Som­mer­tag in ei­ner Schre­ber­gar­ten­ko­lo­nie oder im Rei­hen­haus. So ist er auch – aber längst nicht mehr nur. In der Nä­he mei­nes Wohn­or­tes gibt es meh­re­re Schre­ber­gär­ten. Auf ei­nem weht ei­ne rie­sen­gro­ße Fah­ne des Li­ba­non. Über ei­nem an­de­ren ei­ne Pi­ra­ten­flag­ge. Und so­gar, am Ein­gang, fast ver­steckt, ei­ne al­ba­ni­sche. Das Ge­mü­se wird von rus­sisch­spre­chen­den Men­schen an­ge­baut oder Kopf­tuch-Frau­en har­ken die Bee­te. Nicht aus­zu­schlie­ßen dass al­le letz­tes Jahr für Deutsch­land beim End­spiel ge­hal­ten ha­ben. Ich war nicht da­bei.

    Will sa­gen: Sieht man die gril­len­den Gar­ten-Obri­sten mit ih­ren Zwer­gen, weil man sie se­hen möch­te, um sich ge­nü­gend und mit gu­tem Ge­fühl von der Mehr­heit di­stan­zie­ren zu kön­nen? Ist die­se Di­stan­zie­rung aber nicht auch im­mer ein ge­wis­ser Selbst­be­trug?

    Das Ge­fühl von Aus­ge­schlos­sen­sein als Mo­vens für Ter­ro­ris­mus, Amok­lauf, Ban­den­tum. Die »Krän­kung, nicht da­zu­zu­ge­hö­ren«? Ein­leuch­tend. Ei­ner­seits. Aber dann? Will »man« tat­säch­lich da­zu ge­hö­ren? Oder möch­te man nicht eher, dass die an­de­ren sich ei­nem zu­wen­den? Ist nicht in ei­ner längst ato­mi­sier­ten Ge­sell­schaft für je­den ir­gend­wo ein Platz, oder, um es ein biss­chen sa­lop­per zu sa­gen: ein Plätzchen? Da kann doch selbst ein Un-Ort wie die­se vir­tu­el­le Platt­form hier ei­ne »Hei­mat« sein, wenn auch nur vor­über­ge­hend? Oder min­de­stens ei­ne Heim­statt? Aber ir­gend­wie ge­nügt das dann ja doch nicht.

    Das »la­ten­te Ver­ir­ren« als »Er­satz­hei­mat« – schö­ner kann man es nicht sa­gen.

  2. Das fas­zi­nier­te mich und war Teil der Über­le­gung (wie des La­by­rinths da­hin): Dass die Hei­mat ei­nem wo­mög­lich so oder so nicht ge­hört – au­ßer viel­leicht da, wo sie noch aus­steht (oder da, wo man sie sich nimmt und sie sel­ber be­stimmt). Die Er­zäh­lung ver­sucht ei­ne An­nä­he­rung da­hin.

    Al­ler­dings gab es auch die­sen kon­kre­ten Aus­gangs­punkt für mich, näm­lich ei­ne be­stimm­te Ecke am Kit­tel­bach – ich hat­te da als Kind ge­spielt und von den Bom­ben nichts ge­wusst. Und al­so auch erst vor Kur­zem her­aus­ge­fun­den, dass von dort her die so ge­nann­ten Kit­tel­bach- spä­ter „Edel­weiß­pi­ra­ten“ ka­men, Ju­gend­wi­der­stand im 3. Reich! Das war für mich der un­mit­tel­ba­re Be­zug, mich mit – bis da­hin oft fast mi­li­tant ab­ge­wehr­ten – The­men zu be­schäf­ti­gen: Sind sie viel­leicht doch et­was, das – an­ders als in den Ein­sprü­chen von oben – zu mir ge­hört? Ein paar Ge­ne­ra­tio­nen frü­her und ich hät­te mich viel­leicht ent­schei­den müs­sen: HJ oder Kit­tel­bach­pi­rat! (Die­se Pi­ra­ten hat­ten z. B. öf­ter lan­ge Haa­re, die ih­nen dann gern von der Ge­sta­po ra­siert wur­den, es gab auch un­ver­stell­ten Um­gang zwi­schen den Ge­schlech­tern – es geht da auch um ei­ne an­de­re denk­bar deut­sche Li­nie, ei­ne über­ra­schend freie­re vor den dann spä­ter re-im­por­tier­ten: Es be­rührt ei­nen viel­schich­tig ge­la­ger­ten Phan­tom­schmerz.)

    In der an­ge­führ­ten Sicht­wei­se auf die Di­stan­zie­rung wä­re ja dann auch die Zu­wen­dung „Selbst­be­trug“, wie das Ein­ver­stan­den­sein, das Ge­fühl, an sei­nem Plätz­chen schon an­ge­kom­men zu sein – und eben das ist er dann viel­leicht, der fau­le Frie­den, an dem so vie­le lei­den? Al­le „Grün­de“ tau­gen auch als vor­ge­scho­be­ne. Und sor­gen so für ein be­frie­de­tes Zu­sam­men­le­ben.

    Der Bes­ser­wis­se­rei ver­su­che ich mit Sub­jek­ti­vi­tät zu ent­kom­men – ich will da nur mei­ner Wahr­neh­mung ge­gen­über ver­ant­wort­lich sein (oder eben auch mei­nen Er­fin­dun­gen: des­we­gen der Ver­weis auf Bor­ges). Und es ist ja auch nur ei­ne Ge­schich­te und kein Wahr­heits­be­richt.

    Das mit For­tu­na ist nur ein Fak­ten­split­ter und teils so­gar als Bos­haf­tig­keit ge­gen mein ei­ge­nes Ver­dräng­tes ge­meint – bei der „Hei­mat“ glau­be ja auch mei­nen ei­ge­nen Vor­ur­tei­len nicht. (Wo­bei die, die das tun, wahr­schein­lich durch­ge­hend die Ge­sün­de­ren sind, zu­min­dest die we­ni­ger Neu­ro­ti­schen. Aber ich bin da nicht nei­disch.) Und das Fuß­ball­ereig­nis war na­tür­lich 2004: Grie­chen­land Eu­ro­pa­mei­ster! (Ein Witz für sich – sa­gen mir Leu­te, die das da­mals ver­folgt ha­ben. Oder ist das auch nur Sno­bis­mus? Ich ken­ne mich da nicht aus, und neh­me an­son­sten oh­ne Skru­pel was der Er­zäh­lung dient.)

    Ei­ne Schre­ber­ko­lo­nie aber ha­be ich auch heu­te di­rekt hin­term Haus. Ak­tu­ell ge­zählt sind da sie­ben Fah­nen, al­le deutsch (plus ein paar von dem be­sag­ten Fuß­ball­klub). Und ein Ter­ri­to­ri­al­zei­chen heißt: Ab­gren­zung, und wenn sie noch so un­schul­dig-un­be­dacht da­her­kommt. Soll­te ich viel­leicht bes­ser um­zie­hen (so oder so)? Ei­ne Ko­lo­nie wei­ter, wo ein Be­kann­ter wohnt (am „Stof­fe­l­er Damm“) ha­ben sie vor Kur­zem wie­der ei­ne au­ßer Kon­trol­le ge­ra­te­ne Fei­er Rechts­ra­di­ka­ler ge­stürmt, und an­geb­lich schwelt es da schon seit Jah­ren wei­ter. Wie ge­sagt, ich ge­he da nach mei­ner Er­fah­rung. (Ver­sucht man je­des De­tail zu ver­ob­jek­ti­vie­ren ver­liert es rasch je­de Far­be.)

    Mo­ra­lis­mus ist ja oft, au­ßer wo er von ei­ner Er­fah­rung ab­ver­lang­ter war, nur ein ge­lern­ter – und von da­her im­mer auch et­was bil­lig. Aber er steu­ert uns doch.

    Al­so Zwei­fel über Zwei­fel. Viel­leicht ist es ja auch Ei­tel­keit, sie al­le of­fen zu le­gen? Oder der glei­che, ver­kehr­te (ver­steckt ego­ma­ni­sche?) Wil­le nach et­was von Be­lang. Da mag ich zu Grass in dem Zu­sam­men­hang hier und jetzt nichts sa­gen. Man könn­te ihn dem­nächst ja auch wie­der als Schrift­stel­ler se­hen.
    (Hö­re ge­ra­de Amoz Oz, wie er er­zählt, dass er als Jun­ge al­les Deut­sche ge­hasst hat – und die Blech­trom­mel hat ihn da­von er­löst. Im­mer­hin auch ein Schritt zum „Welt­frie­den“.)

  3. Grass als Schrift­stel­ler se­hen: Ja, das wär was! (Und was wür­de blei­ben?)

    Und Grie­chen­land als Eu­ro­pa­mei­ster 2004: Das End­spiel ge­gen Gast­ge­ber Por­tu­gal in Bay­ern in Ur­laub in ei­ner Fe­ri­en­woh­nung ge­se­hen bei 10 Grad oh­ne Hei­zung. Und ge­staunt und es den Grie­chen ge­gönnt und ge­wünscht, schon weil es hieß, der deut­sche Trai­ner spie­le so schreck­lich alt­mo­disch und den (zum gro­ßen Teil) hoch­be­zahl­ten por­tu­gie­si­schen Pro­fis da­bei zu­se­hend, wie sie sich all­zu si­cher wähn­ten, den Ti­tel ge­gen den »Un­der­dog« zu ge­win­nen und dann zu­se­hen muss­ten, wie es nicht funk­tio­nier­te. Und nach dem Schluss­pfiff end­lich ein­mal wie­der das Ge­fühl ge­habt, »der Rich­ti­ge« ha­be ge­won­nen. (Und das ist ja auch so ein Mo­ra­lis­mus, der – streng ge­nom­men – mit dem Sport nichts zu tun hat, aber wer schaut sich scho­ne in Fuß­ball­spiel an, oh­ne nicht mit dem ei­nen oder dem an­de­ren »zu hal­ten«? – Ich ken­ne Men­schen, die aus die­sem Grund – der In­dif­fe­renz – Sport lang­wei­lig fin­den.)