Welt­lied

Mein Zep­ter liegt auf der Stein­bank, und im Bo­den da­vor sind über Nacht zwei Lö­cher er­schie­nen, et­wa dau­men­na­gel­groß. Dar­aus sind zwei Zi­ka­den hervor­gekrochen, die dort sie­ben Jah­re ver­bracht ha­ben, nicht mehr als ei­ne Daumen­länge un­ter der Er­de (mit ei­nem Zweig­lein nach­ge­mes­sen). Jetzt hocken sie über mir im Baum und brül­len, was das Zeug hält, sie­ben Ta­ge lang, mit al­ler Kon­zentration ih­res klei­nen Kör­pers. Mit al­ler Kon­zen­tra­ti­on der Welt. Sie sind über­zeugt, zu sin­gen. Und sie sin­gen das Welt­lied. Daß die Men­schen und die an­de­ren Tie­re es nicht ver­ste­hen, ja, nicht ein­mal hö­ren, macht ih­nen nichts aus, es braucht sie nicht zu küm­mern. Mög­lich, daß die an­de­ren Tie­re, die Frö­sche, Amei­sen, Spat­zen, et­was mehr da­von ver­ste­hen. Aber auch das spielt kei­ne Rol­le. Nichts braucht die Zi­ka­den zu küm­mern, sie sind ganz Ge­sang.


© Leo­pold Fe­der­mair

Car­lo Stren­ger: Zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung

Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung

Car­lo Stren­ger:
Zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung

»Ei­ne An­lei­tung zur Ver­tei­di­gung un­se­rer Frei­heit« un­ter­ti­telt Car­lo Stren­ger sein Buch und es ist glück­li­cher­wei­se nicht ei­nes je­ner Pam­phle­te, die den markt­li­be­ral-öko­no­mi­schen Frei­heits­be­griff hoch­le­ben lässt, son­dern es geht ihm um die Rück­be­sin­nung auf die Wer­te der Auf­klä­rung in un­se­rer post­mo­der­nen Welt, die mit »zi­vi­li­sier­ter Ver­ach­tung« ge­stärkt wer­den soll.

»Zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung« be­deu­tet, dass je­ne Wert- und Mo­ral­po­si­tio­nen, die den frei­heit­li­chen Idea­len der Auf­klä­rung ent­ge­gen­ste­hen, ge­äch­tet und nicht mit fal­scher To­le­ranz ge­dul­det wer­den. Die zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung steht da­bei in Op­po­si­ti­on zur »po­li­ti­schen Kor­rekt­heit«. Ein eher un­glück­li­cher Be­griff, wo­bei an­de­re Vo­ka­beln wie »Ap­pease­ment« oder »Re­la­ti­vis­mus« ähn­lich kon­ta­mi­niert ge­we­sen wä­ren. Stren­ger meint mit po­li­ti­scher Kor­rekt­heit nicht die Über­set­zung ver­meint­li­cher oder tat­säch­li­cher Sprach- und Denk­ver­bo­te, son­dern je­nen ni­vel­lie­ren­de Sicht­wei­se, die auch an­ti­auf­klä­re­ri­sche Wert­vor­stel­lun­gen aus Rück­sicht vor an­de­ren kul­tu­rel­len Prä­gun­gen gleich­be­rech­tigt gel­ten lässt. Stren­ger hält ei­ne vor­aus­ei­lend po­stu­lier­te Gleich­ran­gig­keit an­de­rer, an­ti­auf­klä­re­ri­scher Wer­te und Mo­ral­vor­stel­lun­gen für ei­ne »gro­tes­ke Ver­zer­rung des auf­klä­re­ri­schen To­le­ranz­prin­zips«.

Der be­son­ders ab den 1960er Jah­ren in der po­li­ti­schen Lin­ken ver­foch­te­nen The­se, dass das Ver­hal­ten des ko­lo­nia­li­sti­schen, wei­ßen Man­nes die Auf­klä­rung als ge­schei­ter­tes Pro­jekt dis­kre­di­tiert ha­be, und die sich der­zeit wie­der neu­er Be­liebt­heit er­freut, wi­der­spricht Stren­ger scharf. Auch den Vor­wurf ei­nes »Eu­ro­zen­tris­mus« und/oder ei­ner ein­sei­ti­gen und idea­li­sier­ten Fi­xie­rung auf den »We­sten« lässt er nicht gel­ten, was er mit der welt­wei­ten »Strahl­kraft west­li­cher Er­run­gen­schaf­ten« be­grün­det. Die Kri­tik an der Auf­klä­rung als »Ent­hu­ma­ni­sie­rungs­pro­jekt« wird ent­schie­den zu­rück­ge­wie­sen. Wei­ter­le­sen

Egon Bahr

In den letz­ten Jah­ren schien Egon Bahr ei­ne ge­wis­se Re­nais­sance zu er­fah­ren. Er war Gast in Talk­shows und nicht nur, wenn es um Wil­ly Brandts 20. To­des­tag oder 100. Ge­burts­tag ging. Sein Ur­teil über geo­po­li­ti­sche und stra­te­gi­sche Fra­gen wur­de im­mer noch ge­schätzt. Liest man sei­ne »Tutz­in­ger Re­de« heu­te nach könn­te man un­ge­ach­tet der Si­tua­ti­on 1963 durch­aus Hand­lungs­an­wei­sun­gen für ak­tu­el­le po­li­ti­sche Kon­flik­te ab­lei­ten. Wie erfolg­reich zä­he po­li­ti­sche Ver­hand­lun­gen sein kön­nen, zeig­te sich un­längst als es um das ira­ni­sche Atom­pro­gramm ging. So­gar Hard­li­ner wie Zbi­gniew Brze­zin­ski mu­tie­ren plötz­lich zu Ent­span­nungs­po­li­ti­kern. Die Par­al­le­len zur so­ge­nann­ten Ost­po­li­tik der 1970er Jah­re sind ver­blüf­fend. Die da­ma­li­ge So­wjet­uni­on und der heu­ti­ge Iran gal­ten und gel­ten in be­stimm­ten po­li­ti­schen Krei­sen als Fein­de, was die­sen als Recht­fer­ti­gung gilt, jeg­li­che Kon­tak­te oder gar Ver­hand­lun­gen aus­zu­schlie­ßen. Bahr durch­brach die­ses Den­ken in Be­zug auf das »Reich des Bö­sen«, weil er über­zeugt war, dass auch das po­li­ti­sche Ge­gen­über – moch­ten auch die ideo­lo­gi­schen Dif­fe­ren­zen noch so gross und schein­bar un­über­brück­bar sein – ei­ne Sehn­sucht nach Ko­exi­stenz mit den Nach­barn such­te.

»Wan­del durch An­nä­he­rung« war kei­ne Phra­se, wo­bei es al­ler­dings ein gro­ßes Miss­ver­ständ­nis war, die­ser Wan­del be­zö­ge sich aus­schließ­lich auf die Bun­des­re­pu­blik. Wei­ter­le­sen

Jan Kon­eff­ke: Ein Sonn­tags­kind

Jan Koneffke: Ein Sonntagskind

Jan Kon­eff­ke:
Ein Sonn­tags­kind

In sei­nem Buch »Die Flak­hel­fer« ver­such­te der Pu­bli­zist Mal­te Her­wig nicht nur die Ver­strickun­gen der Ge­ne­ra­ti­on der um 1927 ge­bo­re­nen in den National­sozialismus zu do­ku­men­tie­ren und auf­zu­be­rei­ten, son­dern auch zu ver­ste­hen. Es war die Ge­ne­ra­ti­on, die »ih­re Ju­gend im ‘Drit­ten Reich’ ver­bracht« hat­te, ei­ne, wie es in Heinz Reins Ro­man »Fi­na­le Ber­lin« aus dem Jahr 1947 heißt, »ver­lo­re­ne, ver­las­se­ne, ver­ra­te­ne Ju­gend«. Aber nicht we­ni­ge die­ser Ge­ne­ra­ti­on wa­ren »nach dem Krieg zu pro­mi­nen­ten In­tel­lek­tu­el­len und Wort­füh­rern der jun­gen Bun­des­re­pu­blik auf­ge­stie­gen« (Her­wig). Die Li­ste der Na­men ist ein­drucks­voll: Von Gün­ter Grass bis Mar­tin Wal­ser, von Er­hard Epp­ler über Die­ter Hil­de­brandt, Hans-Diet­rich Gen­scher, Ni­klas Luh­mann, Erich Loest, Wal­ter Jens bis Hans Wer­ner Hen­ze. Ih­nen ge­mein ist ein Ma­kel: Sie sind aus­ge­wie­sen als Mit­glie­der der NSDAP. Grass bil­det ei­ne Aus­nah­me: er ge­hör­te ei­ner Ein­heit der Waf­fen-SS an. Her­wig klagt in sei­nem Buch nicht die Ver­wir­run­gen der 17, 18, 19jährigen an, die jah­re­lang in­dok­tri­niert wur­den. Aber er fragt, wie es da­zu kom­men konn­te, dass die­se Vor­bil­der der neu­en, deut­schen De­mo­kra­tie ih­re Ju­gend­sün­den bis auf we­ni­ge Aus­nah­men nicht ein­ge­stan­den son­dern ver­heim­licht oder so­gar »ver­ges­sen« (vul­go: er­folg­reich ver­drängt) ha­ben.

Mit »Ein Sonn­tags­kind« legt nun der 1961 ge­bo­re­ne Schrift­stel­ler Jan Kon­eff­ke ei­nen Ro­man vor, der die­se Pro­ble­ma­tik ein we­nig er­hel­len könn­te. Haupt­fi­gur ist der um 1927 ge­bo­re­ne Kon­rad Al­fred Kann­ma­cher. Der Na­me Kann­ma­cher ist Kon­eff­ke-Le­sern schon aus sei­nem letz­ten Ro­man »Die sie­ben Le­ben des Fe­lix Kann­ma­cher« be­kannt. Fe­lix kommt nur ganz am Ran­de im »Sonn­tags­kind« vor; er ist der Bru­der von Kon­rads Va­ter Lud­wig. Kon­rad wächst in dem fik­ti­ven Ort Frei­wal­de in Pom­mern auf (ge­meint ist wohl das ehe­ma­li­ge Frei­en­wal­de, das heu­ti­ge Cho­ci­wel). Das Na­zi­tum ist tief ein­ge­sickert in dem Ort. Nur Kon­rads Va­ter Lud­wig Kann­ma­cher, der »lang­wei­li­ge« Buch­hal­ter, spielt nicht mit. Er ar­bei­tet in ei­ner »jü­di­schen« Bank, was schnell zu ent­spre­chen­den Diffa­mierungen führt. Mut­ter Emi­lie ist eher un­schein­bar, küm­mert sich um den ver­göt­ter­ten Sohn, das »Sonn­tags­kind« Kon­rad und des­sen jün­ge­re Schwe­ster He­le­ne. Kon­rad bil­det mit den gleich­alt­ri­gen Hart­mut und Er­win das so­ge­nann­te »Klee­blatt«. Sie sind unzer­trennliche Raub­ei­ne, die auch in »Katz und Maus« hät­ten mit­spie­len kön­nen. Oh­ne die Spick­zet­tel Hart­muts wä­re Kon­rad im Ma­the­ma­tik-Un­ter­richt ver­lo­ren ge­we­sen. Kon­rad be­wun­dert Hart­muts nach­läs­sig-ma­cho­haf­ten Um­gang mit Mäd­chen und Frau­en.

–> wei­ter­le­sen auf Glanz und Elend

Heinz Rein: Fi­na­le Ber­lin

Heinz Rein: Finale Berlin

Heinz Rein: Fi­na­le Ber­lin

Spä­te­stens in der Schu­le kam man an ih­nen nicht mehr vor­bei. Da war der Kriegs­heim­keh­rer Beck­mann aus Bor­cherts »Drau­ßen vor der Tür«, der Sol­dat Fein­hals und die Ar­chi­tek­ten­fa­mi­lie Fäh­mel aus Bölls Wer­ken, spä­ter noch Clown Schnier und des­sen An­sich­ten. Os­kar Mat­zer­ath kann­te je­der (meist al­ler­dings oh­ne das Werk en dé­tail ge­le­sen zu ha­ben). Sel­te­ner wa­ren schon die Er­leb­nis­se mit dem des­il­lu­sio­nier­ten Bundestags­abgeordneten und Schön­geist Kee­ten­heuve (Koep­pens »Treib­haus«) oder dem Ma­ler Lud­wig Nan­sen aus der 60er Jah­re »Deutsch­stun­de« (Sieg­fried Lenz). All die­sen Fi­gu­ren ist ge­mein, dass sie heu­te noch Er­in­ne­run­gen her­vor­ru­fen und Re­fe­renz­grö­ßen der deut­schen Nach­kriegsliteratur wie selbst­ver­ständ­lich her­bei­zi­tiert wer­den. Aber wer kennt ei­gent­lich Joa­chim Las­sehn, den De­ser­teur aus Heinz Reins »Fi­na­le Ber­lin«? und wer kennt die­ses Buch, das be­reits 1947 er­schie­nen war und ve­he­ment-dra­sti­scher Spra­che die Schrecken des Krie­ges nicht nur er­zähl­te, son­dern vor dem Le­ser fast aus­spie?

Si­cher­lich, ver­ges­se­ne Bü­cher mit ver­ges­se­nen Schrift­stel­lern aus die­ser Zeit gibt es vie­le. Ne­ben Heinz Rein fal­len ei­nem auf An­hieb Hans Scholz (»Am grü­nen Strand der Spree« [die­ses Buch wur­de in den 1960er Jah­ren er­folg­reich für das Fern­se­hen ver­filmt]), Pe­ter Bamm und Hans Hell­mut Kirst ein, die al­le­samt mit dem Vor­wurf des Tri­vi­al­au­tors zu kämp­fen hat­ten. Aber auch äs­the­tisch an­spruchs­vol­le­re Au­toren wie Gert Le­dig und Jo­sef W. Jan­ker gin­gen im Li­te­ra­tur­be­trieb un­ter, vor al­lem weil sie nicht in das äs­the­ti­sche Kon­zept der Grup­pe 47 hin­ein­pass­ten, ei­ner in­for­mel­len Ver­ei­ni­gung, die suk­zes­si­ve die Ho­heit über die deut­sche Nach­kriegs­li­te­ra­tur über­nahm und schon vor der Usur­pie­rung durch die Kri­ti­ker-Vie­rer­ban­de (Reich-Ra­nicki, May­er, Kai­ser, Jens) ei­ne macht­vol­le Po­si­ti­on ein­nahm. Wer heu­te den Ka­non durch­schaut, den die­se We­ni­gen auf­ge­stellt ha­ben, ent­deckt über­all die im­mer­glei­chen Na­men: Hein­rich Böll, Gün­ter Eich, Gün­ter Grass, Al­fred An­dersch, Il­se Ai­chin­ger, In­ge­borg Bach­mann, Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger, Mar­tin Wal­ser (der ei­gent­lich als »grup­pen­frem­der« Au­tor galt), ein biss­chen Wolf­diet­rich Schnur­re und Wal­ter Höl­le­rer noch. Al­le­samt Au­toren, die an den Sit­zun­gen der Grup­pe 47 zum Teil re­gel­mä­ssig teil­nah­men und da­durch bis heu­te das li­te­ra­ri­sche Bild der 1950er und 1960er Jah­re in Deutsch­land präg­ten.

Ach­te­te man pein­lichst dar­auf, kei­ne na­zi­be­la­ste­ten Schrei­ber in der Grup­pe zu ha­ben (was, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, gründ­lich miss­lang), so konn­te man je­doch als Op­fer, das nicht den sol­da­ti­schen Weg ein­ge­schla­gen hat­te, kaum re­üs­sie­ren, wie am Bei­spiel Paul Ce­lan deut­lich wur­de. Exi­lan­ten mied man of­fi­zi­ell aus äs­the­ti­schen Grün­den – in Wahr­heit woll­ten sich die­se in der Re­gel nicht mit Wehr­macht­sol­da­ten oder »In­ne­ren Emi­gran­ten« mes­sen. Am­bi­tio­nier­te Pro­sa, die sich von der dem Rea­lis­mus ver­pflich­te­ten so­ge­nann­ten Trüm­mer­li­te­ra­tur ab­wi­chen, hat­te eben­falls kei­ne Chan­ce; sie wa­ren auf Für­spra­che au­ßer­halb der Grup­pe an­ge­wie­sen, was bei ei­ni­gen Aus­nah­men (Koep­pen, Sieg­fried Lenz) ge­lang.

Höl­len­ge­wit­ter oh­ne Scheu vor Pa­thos

So ist es nicht über­ra­schend, dass Heinz Rein, der Au­tor von »Fi­na­le Ber­lin«, nie­mals in der Grup­pe 47 ge­le­sen hat. Sein Ro­man ent­sprach mit sei­nem der­ben Splat­ter-Ex­pre­s­­sio­nis­mus nicht dem Ge­schmack der Grup­pe, die es vor­zog, den deut­schen Sol­da­ten nach dem Krieg als Op­fer der Um­stän­de dar­zu­stel­len. Reins Buch da­ge­gen zeigt in ex­pres­si­ven, zum Teil pa­the­tisch-bru­ta­len Bil­dern ein Ber­lin vom 15. April 1945 bis zur Ka­pi­tu­la­ti­on am 2. Mai. Es ist ein Ber­lin der Stra­ßen- spä­ter so­gar Häu­ser­kämp­fe – ei­ne Be­völ­ke­rung ein­ge­presst zwi­schen Ro­ter Ar­mee und rück­sichts­los ge­gen die ei­ge­ne Zi­vil­be­völ­ke­rung vor­ge­hen­der SS-Trup­pen. Es ist ein Ber­lin der bis zum Schluss an den Sieg Glau­ben­den, ein Ber­lin, das am En­de groß­flä­chig in Schutt und Asche liegt, über­sät mit Lei­chen bzw. Lei­chen­tei­len. Rein ent­wickelt ei­ne To­po­gra­phie des Schreckens; wer möch­te, kann Trup­pen- und Kampf­be­we­gun­gen auf ei­ner Kar­te ge­nau nach­voll­zie­hen. Ber­lin wird zur Höl­le, bar je­der Zi­vi­li­sa­ti­on. Wei­ter­le­sen

Ralf Roth­mann: Im Früh­ling ster­ben

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

Ralf Roth­mann:
Im Früh­ling ster­ben

»Das Schwei­gen, das tie­fe Ver­schwei­gen, be­son­ders wenn es To­te meint, ist letzt­lich ein Va­ku­um, das das Le­ben ir­gend­wann von selbst mit Wahr­heit füllt.« So be­ginnt Ralf Roth­mann sei­nen Ro­man »Im Früh­ling ster­ben«. Man sieht vor sei­nem gei­sti­gen Au­ge förm­lich den prä­ten­tiö­sen Aus­druck des Dich­ters oder Vor­le­sers, der be­deu­tungs­schwe­re Duk­tus, der den Le­ser, die Le­se­rin, auf die­se Li­te­ra­tur vor­be­rei­ten soll und un­um­wun­den si­gna­li­siert: Hier ent­steht et­was ganz Be­son­de­res, ein Mei­ster­werk. Das Schwei­gen, »wenn es To­te meint«, füllt das Le­ben mit »Wahr­heit«. Fra­gen, wes­sen Le­ben mit Wahr­heit ge­füllt wer­den soll und wie dies mit dem »tie­fen Ver­schwei­gen« ge­meint sein könn­te, wir­ken da eher stö­rend, nach dem Sinn die­ses Sat­zes zu su­chen erst recht.

Sechs­ein­halb Sei­ten skiz­ziert ein Ich-Er­zäh­ler mit star­ken Stri­chen das Le­ben sei­nes Va­ters Wal­ter Ur­ban. Das schweig­sa­me We­sen, sei­ne Hilfs­be­reit­schaft (»das Wort hoch­an­stän­dig fiel oft«), die Jacken von C & A, die er ger­ne trug. 30 Jah­re ar­bei­te­te er als Hau­er im Berg­werk in Es­sen, oh­ne Ge­hör­schutz. Er er­taub­te und ver­stand nur noch sei­ne Frau, »ob es ih­re Stimm­fre­quenz war oder die Art der Lip­pen­be­we­gung« weiß der Er­zäh­ler nicht. Nach der Früh­ver­ren­tung, die ihn kränk­te, war das Le­ben prak­tisch schon zu En­de. Es gab die Zei­tung, Heft­chen­ro­ma­ne und, lei­der, den Al­ko­hol. Schließ­lich der Krebs mit 60, das war 1987. Der Er­zäh­ler schenkt ihm ein Heft, in dem er et­was vom Krieg, von sei­nem Le­ben auf­schrei­ben soll, aber au­ßer ein paar Orts­na­men schreibt Wal­ter Ur­ban nichts hin­ein. Der Schrift­stel­ler sei doch er, be­merkt er spitz­bü­bisch. Auf dem Ster­be­bett be­ginnt er im Schlaf zu spre­chen. Er sei jetzt »wie­der im Krieg« sagt dann sei­ne Frau.

Und dann, auf Sei­te 13, be­ginnt ei­ne Ge­schich­te von Wal­ter Ur­ban ab Fe­bru­ar 1945. Er ist Mel­ker­lehr­ling in Nord­deutsch­land, der Prü­gel-Va­ter im Feld ir­gend­wo auf dem Bal­kan (straf­ver­setzt, weil er Ge­fan­ge­nen Zi­ga­ret­ten ge­ge­ben ha­ben soll), die Mut­ter mit sei­ner Schwe­ster in Es­sen. Es ist Sonn­tag und es gibt ein Fest. Der »Reichs­nähr­stand« gibt ei­nen aus. Man trifft sich im »Fähr­hof«, die Ka­pel­le, die aus Kriegs­ver­sehr­ten be­steht, spielt Hans Al­bers, Za­rah Le­an­der und Heinz Rüh­mann. Ir­gend­wo steht auch ein SS-Mann mit der Auf­schrift »Frunds­berg« – schö­ner Gruss von Roth­mann an Gün­ter Grass. Wei­ter­le­sen

Öde Be­lang­lo­sig­keit

»Der Pri­mus« lau­te­te der Ti­tel der Do­ku­men­ta­ti­on von Eri­ca von Moel­ler, die ge­stern in der ARD zu spä­ter Stun­de (22.50 Uhr) lief. Ge­zeigt wer­den soll­te das pri­va­te und po­li­ti­sche Le­ben von Franz Jo­sef Strauß, des­sen 100. Ge­burts­tag im Sep­tem­ber an­steht.

Die Klam­mer des Films bil­de­te der Wahl­kampf Strauß’ als Kanz­ler­kan­di­dat 1980. Dar­um her­um wur­de das Le­ben von den 1920er Jah­ren an chro­no­lo­gisch be­han­delt. Der latein­kundige Mi­ni­strant, der an­ti­na­zi­sti­sche Va­ter, der schwe­ren Her­zens dem Gym­na­si­um für sei­nen Sohn zu­stimm­te, schließ­lich der Mu­ster­schü­ler Franz Jo­sef, der als Ober­leut­nant der Wehr­macht in den letz­ten Ta­gen klei­ne und grö­ße­re Hel­den­ta­ten voll­brach­te. Schließ­lich der bay­ri­sche Po­li­ti­ker, der be­reits 1949 bei der le­gen­dä­ren Ein­la­dung Ade­nau­ers in Rhön­dorf da­bei war. Zur Si­cher­heit und um den Zu­schau­er nicht zu über­for­dern wur­den et­li­che Sze­nen nach­ge­spielt; teil­wei­se wur­de das Ma­te­ri­al aus dem Film »Kon­rad Ade­nau­er – Stun­den der Ent­schei­dung« von 2012 ver­wen­det. Strauß ist im po­li­ti­schen Bonn ein Kar­rie­rist. Ade­nau­er bremst ihn zu­nächst, macht ihn dann aber doch zum Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster. In der »Spiegel«-Affäre lässt der Al­te ihn fal­len. Ver­blüf­fend da­bei, dass Strauß loy­al blieb, d. h. die Rück­ver­si­che­rung Ade­nau­ers für sei­ne um­strit­te­ne Ver­haf­tungs­ak­ti­on zu Con­rad Ah­lers in Spa­ni­en hat Strauß öf­fent­lich nie er­wähnt.

Wolf­ram Bicke­rich, ehe­ma­li­ger »Spiegel«-Redakteur, und Aug­stein-Bio­graph Pe­ter Mer­se­bur­ger kom­men zu Wort und ana­ly­sie­ren Aug­steins fast ob­ses­siv-pa­tho­lo­gi­schen Hass auf (den po­li­ti­schen) Strauß, der zu­wei­len mit Jour­na­lis­mus nichts mehr zu tun hat­te. Zu Wort kom­men Franz-Ge­org Strauß und Mo­ni­ka Hohl­mei­er, zwei von drei Strauß-Kin­dern und Ed­mund Stoi­ber. Po­li­ti­sche Geg­ner wie auch der in sol­chen Fil­men zu­meist üb­li­che Hi­sto­ri­ker feh­len. Strauß’ Wahl­kampf von 1980 wird als teil­wei­se Hass­kam­pa­gne ge­gen ihn in­ter­pre­tiert, wenn er Stö­rer als »Ge­hirn­pro­the­sen­trä­ger« be­zeich­net, heißt es im Film, er ha­be schlag­fer­tig und wit­zig re­agiert und nicht ver­bis­sen. Zur Si­cher­heit fehlt dann aber das schweiß­nas­se Strauß-Re­de­ge­sicht dann doch nicht.

War­um Aug­stein Strauß als »ge­fähr­lich« ein­schätz­te, bleibt er­staun­li­cher­wei­se un­er­wähnt. Strauß war in sei­ner Ei­gen­schaft als »Atom­mi­ni­ster« näm­lich mit­nich­ten al­lei­ne für die fried­li­che Nut­zung der da­mals als Se­gen ge­prie­se­nen Kern­ener­gie be­fasst. Er in­ter­pre­tier­te sein Amt auch mi­li­tär-stra­te­gisch da­hin­ge­hend die frisch ge­grün­de­te Bun­des­wehr ato­mar zu be­waff­nen. Für Aug­stein et al. war die Vor­stel­lung ei­nes Deutsch­lands mit Atom­waf­fen ein Alp­traum, den es un­ter al­len Um­stän­den zu ver­hin­dern galt. Wei­ter­le­sen

Fried­rich Helms: Ta­ge­bü­cher 1945 / 1946–47

Friedrich Helms Tagebuch Wilhelmshorst 1945

Fried­rich Helms
Ta­ge­buch Wil­helms­horst 1945

Fried­rich Helms wur­de 1883 ge­bo­ren. Er leb­te in Ber­lin, wur­de dann, 1945, aus­ge­bombt und zog in sein Gar­ten­haus nach Wil­helms­horst bei Pots­dam. Helms war da­mals über 40 Jah­re in Dien­sten der Deut­schen Bank, zum Schluss als »Di­rek­tor«. Sei­ne Frau Ma­rie war 12 Jah­re jün­ger als er. Sie war »Pg«, al­so Mit­glied der NSDAP. Helms sel­ber wird als deutsch­na­tio­na­ler So­zi­al­de­mo­krat be­schrie­ben; er war Frei­mau­rer. Das Paar hat­te zwei Töch­ter. Viel weiß man über die­se Fa­mi­lie nicht. Fried­rich Helms führ­te Ta­ge­buch. Dies kam ir­gend­wann in den Be­sitz von Wal­ter Kem­powski, der in sei­nem »Echo­lot« »Abgesang’45« ein klei­nes Stück aus Helms’ Ta­ge­buch zi­tier­te. Der Pu­bli­zist und Ver­le­ger To­bi­as Wim­bau­er nahm sich des Ta­ge­buchs an und gab in sei­nem lei­der kürz­lich ge­schlos­se­nen »Eisenhut«-Verlag bis­her zwei Bän­de her­aus. Der er­ste um­fasst die Zeit von April bis De­zem­ber 1945; er setzt fast mit der Ka­pi­tu­la­ti­on des Deut­schen Reichs ein. Der zwei­te Band um­fasst die Jah­re 1946 und 1947.

In An­be­tracht des 70. Jah­res­ta­ges des En­des des Zwei­ten Welt­kriegs wur­de man me­di­al um­fang­reich ver­sorgt. Bei al­ler Aus­führ­lich­keit in den Schil­de­run­gen der letz­ten Ta­ge des Na­zi-Re­gimes und der an­schlie­ßen­den Be­sat­zung nebst geo­po­li­ti­scher Si­tua­ti­on blieb die Zeit un­mit­tel­bar nach dem Kriegs­en­de selt­sam dun­kel. Zwar gilt die Phra­se der »Stun­de Null« längst als wi­der­legt, aber was tat­säch­lich da­mals ge­schah wur­de in der po­pu­lä­ren und pu­bli­zi­sti­schen Ge­schichts­schrei­bung kaum be­han­delt. Es ging dann ir­gend­wie mit der Wäh­rungs­re­form 1948 und dem Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik 1949 wei­ter.

Der Grund für die­se Leer­stel­le liegt auch dar­in, dass die Schil­de­run­gen der Pro­ble­me der Be­völ­ke­rung un­mit­tel­bar nach dem Krieg sehr schnell als Ge­schichts­re­vi­sio­nis­mus hät­te aus­ge­legt wer­den kön­nen. Die­se Be­fürch­tun­gen gab es ja auch bei an­de­ren Themen­bereichen wie Ver­trei­bung und Bom­ben­krieg. Al­les, was nur im Ent­fern­te­sten das Tä­ter­volk hät­te als Op­fer dar­stel­len kön­nen, galt es zu ver­mei­den. Hin­zu kam, dass die nach­fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen oft ge­nau die­se Er­zäh­lun­gen von ih­ren El­tern und Groß­eltern hör­ten und als Ab­len­kungs­ma­nö­ver ei­ner even­tu­el­len Mit­schuld in­ter­pre­tier­ten. Wei­ter­le­sen