»Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit« untertitelt Carlo Strenger sein Buch und es ist glücklicherweise nicht eines jener Pamphlete, die den marktliberal-ökonomischen Freiheitsbegriff hochleben lässt, sondern es geht ihm um die Rückbesinnung auf die Werte der Aufklärung in unserer postmodernen Welt, die mit »zivilisierter Verachtung« gestärkt werden soll.
»Zivilisierte Verachtung« bedeutet, dass jene Wert- und Moralpositionen, die den freiheitlichen Idealen der Aufklärung entgegenstehen, geächtet und nicht mit falscher Toleranz geduldet werden. Die zivilisierte Verachtung steht dabei in Opposition zur »politischen Korrektheit«. Ein eher unglücklicher Begriff, wobei andere Vokabeln wie »Appeasement« oder »Relativismus« ähnlich kontaminiert gewesen wären. Strenger meint mit politischer Korrektheit nicht die Übersetzung vermeintlicher oder tatsächlicher Sprach- und Denkverbote, sondern jenen nivellierende Sichtweise, die auch antiaufklärerische Wertvorstellungen aus Rücksicht vor anderen kulturellen Prägungen gleichberechtigt gelten lässt. Strenger hält eine vorauseilend postulierte Gleichrangigkeit anderer, antiaufklärerischer Werte und Moralvorstellungen für eine »groteske Verzerrung des aufklärerischen Toleranzprinzips«.
Der besonders ab den 1960er Jahren in der politischen Linken verfochtenen These, dass das Verhalten des kolonialistischen, weißen Mannes die Aufklärung als gescheitertes Projekt diskreditiert habe, und die sich derzeit wieder neuer Beliebtheit erfreut, widerspricht Strenger scharf. Auch den Vorwurf eines »Eurozentrismus« und/oder einer einseitigen und idealisierten Fixierung auf den »Westen« lässt er nicht gelten, was er mit der weltweiten »Strahlkraft westlicher Errungenschaften« begründet. Die Kritik an der Aufklärung als »Enthumanisierungsprojekt« wird entschieden zurückgewiesen.
Strengers »zivilisierte Verachtung« greift zwar die Meinungsfreiheit nicht an, möchte sie jedoch immer dann befragen und als Diskursposition ablehnen dürfen, wenn grundlegende Werte des liberalen Rechtsstaats und der Demokratie auf dem Spiel stehen (wobei gelegentlich »Aufklärung« mit »Demokratie« ein bisschen fahrlässig gleichsetzt werden).
Dabei bedeute zivilisierte Verachtung ausdrücklich nicht eine Abwertung nationaler, religiöser oder kultureller Gruppen. Sie ist ausschließlich sach- und themenbezogen. Grundvoraussetzung sei eine »intellektuelle Selbstdisziplin, die dazu verpflichtet, Informationen zu sammeln und diese sorgfältig abzuwägen«. Dies nennt Strenger »verantwortliche Meinungsbildung«. Es gelte Tatsachenbehauptungen bspw. aus dem wissenschaftlichen Bereich bis zum Beweis des Gegenteils (Popper dient hier als Referenz) als solche zu akzeptieren, auch wenn sie nicht zu den eigenen »emotionalen und weltanschaulichen Präferenzen passen«. Hierfür entwickelt Strenger den sogenannten »Ärztetest«, der Dogmatiker, Religionsführer und Wissenschaftsleugner decouvrieren soll: »In dem Moment, in dem sie [bspw. Religionsführer] Tatsachenbehauptungen aufstellen, die Menschenleben und menschliche Würde betreffen, müssen sie den Anforderungen entsprechen, welche auch die meisten religiösen Menschen an die Vertreter jenes Berufsstands richten, dem sie ihre Gesundheit anvertrauen.« Wer also bei seiner eigenen Krankheit einen Arzt konsultiert, kann sich, so die Schlussfolgerung, einer kontrollierten Abgabe von Kondomen zur AIDS-Verhütung nicht mit scheinmoralischen Argumenten verschließen.
Die Neigung Überzeugungen oder überlieferte Narrative als satisfaktionsfähige »Argumente« gegen Tatsachenbehauptungen zuzulassen, findet sich, wie Strenger richtig herausstellt, in allen Lagern – links wie rechts. Der Appell dieses Essays geht dahin, diese »kognitiven Verzerrungen« nicht mehr zu akzeptieren. Er hält den Relativismus, der wissenschaftliche Erkenntnisse und sozio-kulturelle Errungenschaften leichtfertig hergibt für eine Bedrohung der freiheitlichen Gesellschaft.
Die Befürchtung geht dahin, dass, wenn die Aufklärung ihre Werte nicht verteidigt und ihren Feinden mit zivilisierter Verachtung begegnet, rechte und rechtspopulistische Gruppierungen und Parteien wie beispielsweise die SVP in der Schweiz, Le Pen in Frankreich und Wilders in den Niederlanden mit revanchistischen und nationalistischen Parolen genau die Werte unterhöhlen, die sie vorgeben, zu schützen. So einleuchtend diese Befürchtung auch ist, so merkwürdig unkonkret bleibt Strenger welche Konsequenzen seine zivilisierte Verachtung beispielsweise für Gesetzgebung und Justiz nach sich ziehen sollte. Hinzu kommt, dass er zuweilen selber in einer Art politischer Korrektheit ge- bzw. befangen zu sein scheint, wenn er etwa islamkritische Auseinandersetzungen recht schnell mit dem Attribut »islamophob« bezeichnet. Zwar rekapituliert er die Fatwa gegen Saman Rushdie um die »Satanischen Verse« und konstatiert mehr oder weniger ein Versagen des Westens. Aber was hätte man tun sollen? Sein Heldentum bleibt stumpf, wenn er zum Beispiel an die Ermordung des japanischen Übersetzers erinnern muss.
So richtet Strenger seinen Aufruf, die »Kränkung« der argumentativen Niederlage zu ertragen, an die falsche Seite. Die Verfechter der Aufklärung dürften hiermit keine Probleme haben, was er sogar an zwei Beispielen belegt: Die Aufregung um Philipp Roths Buch »Portnoys Beschwerden« Ende der 1960er Jahre in der jüdischen Gemeinde der USA. Und ein Musical, das sich kritisch mit der Religionsgemeinschaft der Mormonen auseinandergesetzt hatte. In beiden Fällen hätte es zwar erbitterte Debatten gegeben, aber grundsätzliche Werte wie Publikations- und Meinungsfreiheit seien von den Kritikern niemals infrage gestellt worden; Drohungen und persönliche Angriffe seien unterblieben. Ein Kapitel, wie die Kränkungen von denen zu verkraften sind, die Strengers Aufklärungsideale nicht verfechten und was zu tun ist, wenn aus Kränkungen Drohungen oder gar Aktionen werden, sucht man leider vergebens.
Die Zeugen für Strengers Vorgehen sind gewichtig, wenn auch einseitig. Da das Ideal der säkulare Liberalismus ist, neigt er in der Religionskritik ziemlich stark Dawkins und Hitchens zu. In der politischen Ökonomie dienen ihm Krugman und Stiglitz als Vorbilder, was ein wenig überrascht. Philosophisch werden Autoren wie Pascal Bruckner, André Glucksmann und Bernard-Henry Lévy zitiert, ohne freilich deren zum Teil drastische Sprache zu übernehmen. Sorgfältig vermeidet Strenger Begriffe wie »Multikulturalismus« und »Parallelgesellschaft«. Um die Frage des außenpolitischen Interventionismus, den die Vertreter der »Nouvelle Philosophie« gerne verfechten, indem sie Aufklärung, Demokratie und »zivilisierte Verachtung« notfalls mit militärischer Gewalt in andere Staaten exportieren möchten, drückt sich Strenger ebenfalls. Damit bleibt sein Essay ein wohlformuliertes Bekenntnis, dass sich jedoch bedauerlicherweise nicht mit den Niederungen der Exekutive abgibt.
Strenger lebt in Israel, lehrt an der Universität in Tel Aviv und forscht über Terrorismus. Da wäre es sehr interessant gewesen, welche Lösungsmöglichkeiten er für diejenigen Minderheiten in westlichen Gesellschaften vorschlägt, die sich den Idealen der Demokratie und Aufklärung nicht nur widersetzen, sondern sie auch aktiv und zum Teil mit Gewalt auslöschen wollen. Das Spektrum dieser militanten Aufklärungsverweigerer ist übrigens größer als gedacht. Es umfasst nicht nur den salafistischen Prediger in Dinslaken, London oder Kairo oder die evangelikalen Abtreibungsgegner in den USA, sondern auch den Neo-Nazi aus Dortmund und die linksautonome Szene in Hamburg.
Als das Buch schon fast zu Ende ist, liefert Strenger noch eine präzise Analyse der wichtigsten Gefahr für die westlichen Gesellschaften. Im Rekurs auf Nietzsche entwirft er den zeitgenössischen »Letzten Menschen«, der nur noch damit beschäftigt sei, »Risiken so weit wie möglich zu minimieren, bis auch Extremsport versicherungstechnisch abgedeckt ist.« Die neuesten technischen Errungenschaften, ein Abo für das Fitness-Studio, ein halbwegs komfortables Leben – das genüge schon. »Der Letzte Mensch möchte nur noch in Ruhe gelassen werden, damit er sich auf Karriere, Familie und Hobbies konzentrieren kann.« Politik wird delegiert, als »Management« betrachtet. Der »apathische Letzte Mensch« ist dadurch aber anfällig für falsche Versprechungen und totalitäre Politikentwürfe, sofern sie sein Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Status quo bedienen. So könnte man erklären, dass die generalstabsmässigen Bespitzelungen durch Geheimdienste und/oder multinationale Konzerne billigend und ohne großes Murren in Kauf genommen werden. In der Freiheit, die Strenger so emphatisch verfechtet, steckt nur dann eine »sinnstiftende Leidenschaft«, wenn sie endgültig verloren gegangen ist, so der Autor. Ansonsten wird sie als allzu selbstverständlich genommen; ihre Einschränkungen und Bedrohungen bemerkt man womöglich erst zu spät.
Strengers Idee der »zivilisierten Verachtung« könnte man auch als »wehrhafte Demokratie« bezeichnen. Sofort wird dann der Fokus von der bequemen, akademischen Betrachtung auf die alltägliche Praxis gelenkt. Denn eine »wehrhafte Demokratie« definiert nicht nur ihre Werte, sondern setzt eigene, gesellschaftliche Standards, beispielsweise auch in der Migrations- und Einwanderungspolitik. Eben um diese Themen nicht politisch radikalen Gruppierungen zu überlassen. Die »zivilisierte Verachtung« Strengers, beim Wort genommen, wäre eben kein Wohlfühl-Paradiesgarten, sondern ein Gebilde, in dem es verbindliche Werte und Regeln für Alle gibt. Welche Konsequenzen dies bedeuten könnte – auch hierüber hätte man gerne etwas erfahren.
Mit einer Verteidigung der Aufklärung ist es nicht getan; all die Diskussionen über die Moderne und das Verwerfen derselben bzw. deren Errungenschaften, haben doch gezeigt, dass es einer Korrektur, einem Eingedenkwerden, einer Weiterentwicklung bedarf (sofern man dem Verwerfen widerspricht): Eine moderne, hochdifferenzierte Gesellschaft vereinzelt automatisch, weil die Zusammenhänge und Konsequenzen der täglichen Handlungen im Dunklen bleiben; die Auflösung traditioneller Bindungen (Familie, Religion, Nation) und die Möglichkeit in einer Gesellschaft auch bloß für sich leben zu können, die Besinnung auf das Individuum hin, die Verwissenschaftlichung, die Technisierung, die Ökonomisierung, usf., das ist alles Moderne und der apathische Mensch wohl auch. Die zivilisierte Verachtung ist schön und gut (ja: ein kindliches Gemüt mag für Gott empfänglich sein, aber es bleibt das eben auch allem anderen gegenüber; man muss Unsinn Unsinn nennen dürfen und Ungleiches ungleich ...); dennoch scheint unsere Moderne aus dem Ruder zu laufen oder sagen wir, etwas flapsig: An etlichen unserer menschlichen »Bedürfnisse« einfach vorbei. Das müsste man zur selben Zeit in den Blick bekommen.
Was Carlo Strengers Position aus meiner Sicht interessant macht, ist nicht die blanke Verteidigung der Aufklärung gegen »Postmoderne« und »Extremismus«. Solche Positionen sind nicht neu und auch nicht besonders aufregend. Oft vergessen ihre VertreterInnen auch, ihre Gegner genauer zu untersuchen. Strenger hingegen fragt immerhin die Frage, was die liberale Linke eigentlich in den letzten Jahrzehnten verloren hat, das sie verteidigen könnte – und warum. Zwar finde ich seine Antworten nicht immer ausreichend (aus linker Sicht auch: https://kimberra.wordpress.com/2015/05/12/uber-linke-moglichkeiten-i-carlo-strenger ), aber seine Diagnose einer tiefen Verunsicherung der Linke nach und durch den zweiten Weltkrieg (den Holocaust) und die kolonialistischen Verwüstungen regt zum Nachdenken an.
Ob sich politische und moralische Fragen stets wie »Sachfragen« behandeln lassen, wage ich zu bezweifeln. Aber die Frage, wofür stehe ich moralisch und politisch eigentlich ein und gerade, gewinnt in Phasen von sich verstärkt gewaltsam zeigender Xenophobie erheblich an Gewicht. Wer wagt, das heute noch eindeutig zu beantworten?
@metepsilonema
Strenger scheint das aus-dem-Ruder-laufen ja auch zu bemerken und setzt dagegen eine sehr traditionelle, fast säkular-protestantische Ethik der Vernunft garniert mit einer Rede von der Faszination der Freiheit. Von Ferne erinnert das an den Verfassungspatriotismus von Habermas. Strenger konzediert dabei durchaus, dass das nicht besonders attraktiv und strahlend ist, weil freiheitliche Werte inzwischen als selbstverständlich gelten. Das »frierende Stacheltier« (Schopenhauer), der Mensch, bleibt unbehaust. Das individualistische Leben bleibt kompliziert, stiftet per se aber keine Identität. (Vielleicht erklären sich hierdurch die Erfolge der sozialen Netzwerke, die Identitäten wieder neu begründen, in dem kurzzeitige Gesinnungsgemeinschaften [Hashtags] entstehen.)
@Kim Berra
Stengers Verunsicherungetheorem was die politische Linke angeht, teile ich. Aber es wird ja durch seine »zivilisierte Verachtung« nicht besser. Und am Ende müssen sich politische Fragen als »Sachfragen« auch beantworten lassen, sonst bleiben sie nur Wortgeklingel für Sonntagsreden.
@Gregor
Der Mensch bleibt unbehaust; aber zumindest die Unsicherheit über (s)eine Behausung ist doch – sozusagen – urmodern (wieder naiv zu werden, ist auch keine Lösung). — Die Sache mit der Freiheit ist nicht, ob sie strahlend, attraktiv oder selbstverständlich ist; Freiheit alleine genügt nicht, schon deshalb, weil wir andere Referenzen (Werte) benötigen um Freiheitskonflikte lösen zu können. — Die meisten Menschen sind wohl sozial veranlagt, mehr oder weniger stark, d.h. Freundschaften, u.ä., spielen einewichtige Rolle; dass soziale Netzwerke nun solche Funktionen übernehmen oder zu übernehmen scheinen, deutet vielleicht auf das Problem: Eine Verschlankung von Strukturen, ein Weniger an Möglichkeiten (damit an Begehrlichkeiten und Stress), Ruhe um sich dem widmen zu können, was wichtig ist, usf. (das wäre zumindest ein Aspekt).
Naja, es gibt den Spruch, dass Freiheit nicht Alles ist aber ohne Freiheit sei Alles Nichts. Die Tendenz geht dazu, Sicherheit und Status quo über freiheitliche Grundsätze zu stellen. Die Universalüberwachung der Telekommunikation durch Geheimdienste oder die immer rigider werdenden Gesinnungsurteile im öffentlichen Diskurs, die diesen immer mehr im Mainstream versinken lassen schränken das, was man »Freiheit« nennen kann, schon ein.
Strengers Diagnose bringt das Problem auf dem Punkt: Die Linke übt sich in Werterelativismus, der zum Teil absurde Züge bekommt. Rechte und konservative Kräfte dagegen setzen auf law-and-order und nationalistische Lösungen (Teile der Linken gehen hier was die EU angeht d’accord). Die Linke glaubt an ein spannungsfreies (multikulturelles) Leben, das möglichst wenig Bindungskräfte an das Gemeinwesen bedeutet. Konservative und Rechte wollen die Bindungskräfte wieder erhöhen, aber nicht in dem sie ein Gemeinwesen konstituieren, sondern in dem sie meist ausgrenzen. Beide Lager schwächen – so die These – die freiheitlichen Werte. Inzwischen sind die Grenzen zwischen links und rechts durchaus fließend (Ausnahme: Xenophobie). Beiden ist gemein, dass ihre Toleranz dem jeweils Andersdenkenden immer mehr gen Null tendiert. Gemässigte Kräfte spielen immer weniger eine Rolle, weil viele Themen längst ideologisiert sind. Grundlegende politische Felder wie Europa‑, Flüchtlings- und Finanzpolitik werden nicht diskutiert, sondern allenfalls noch dekretiert.
Verschlankung von Strukturen und ein Weniger an Möglichkeiten klingt gut, wird aber durch das kapitalistische System per se als »Stagnation« betrachtet und verworfen. Wenn ein Hotel am Frühstücksbuffet nicht mindestens zehn verschiedene Sorten Marmelade anbietet, muss es mit Minuspunkten bei den Bewertungen rechnen.
High-Brow-Liberalismus vom feinsten. Diese Art Heldentum, welche nur die hochfliegenden Vokabeln der Geistesgeschichte als ihr geistiges Rüstzeug ansieht, ist freilich nicht dem Handeln zuallervorderst zugetan. Eigentlich geht es nur um die »bewusste Verarbeitung«. Da war der Welt zu viel, bevor der »Denker« anhob... Ausgerechnet Tel Aviv. Nicht der beste Ort, um sich Grundsätzliches vorzulegen.
Meiner Brain-Entwicklung zufolge kann ich sagen: den Liberalismus habe ich »zuletzt« verstanden, obwohl er eigentlich am einfachsten ist. Zuvor muss man wissen, wo LINKS und RECHTS ist. Die dritte Ecke im politischen Ring ist eigentlich nur der Versuch, Elemente der klassischen Bildung und ein paar Begriffe (so hohl wie alte Zähne) auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dass Strenger seinen Hochmut (unser aller Hochmut) gleich zum Programm erklärt, gefällt mir. Das ist ehrlich, und ehrlich ist gut.
Strengers Hochmut ist ein akademischer. Wunderbar für Clubabende, Stehpartys und Talkshows. Die Praxis sieht dann anders aus, aber es ist vermutlich verpönt, dies zu artikulieren.
@Gregor
Ich stimme Deinem ersten Absatz uneingeschränkt zu; allerdings wird selten berücksichtigt, dass Freiheit auch eine Zumutung darstellt: Der, der frei ist, ist unbehaust, alleine, einsam, auf sich selbst zurückgeworfen, gerade nicht aufgehoben, womöglich gegen seinen Willen; wir sind zwar nicht beim Wirtschaftsliberalismus, aber dort ist es besonders auffällig: Der wird immer von denjenigen gefordert, die ökonomisch potent sind, die Vorteile daraus ziehen, die mehr Freiheit leichter »ertragen«. — Ein guter Teil des Widerstands gegen die modernen (und spät- oder postmodernen) Gesellschaften kommt von dort (von den Zumutungen frei zu sein).
Auch beim zweiten Absatz weitgehende Übereinstimmung: Ich sehe den Liberalismus allerdings weniger als dritte politische Kraft oder Möglichkeit, sondern sich einmal mehr nach rechts oder links neigend; der Freiheitsbegriff kann individuellen Egoismus ebenso rechtfertigen, wie einen starken (Sozial)staat.
Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte! –
Ich war mir auch lange nicht sicher: Hybrid-Pflanze oder eigene Spezies des Politischen?! Zumal einem dieses Gewächs ja so überflüssig vorkommt wie ein Kropf. Verteidigt als lautstarke Nachhut Freiheiten, die schon erkämpft sind. Schon ein bisschen narzisstisch, oder?!
Was man jedoch nicht übersehen sollte: jede politische Fraktion, auch diese hat ein persistentes WIR. Die Frage, ob es sich um eine »Minderheit« oder ein »Kollektiv« handelt, ist dabei entscheidend. Die Liberalen behaupten trotz miserabler Umfragewerte tatsächlich so etwas wie ein »majoritäres Wir«. Es mag einem verblendet vorkommen, aber allein schon die Performance zählt. Solange sie das hinkriegen, sind sie als »dritte Kraft« anzuerkennen.
@die_kalte_sophie
Die Freiheiten, die erkämpft sind, sieht Strenger in Gefahr. Diese Diagnose teile ich. Sie sind nämlich keine statischen Gebilde, die man in den Vorgarten stellt und dann ihre Aura unwiderbringlich verbreiten. Er sieht sie als amorphe, fragile Konstrukte. Vielleicht etwas verknappt zusammengefasst sieht Strenger diese Gefahr durch einen »Liberalismus« (um diesen Begriff zu verwenden – Strenger macht das nicht), der mit einem postmodernen »anything goes« verwechselt wurde bzw. wird.
In der Ökonomie hat sich das markt- und wirtschaftsliberale Denken längst durchgesetzt. Immer noch hält sich die Fama, dass, wenn es der Wirtschaft gut geht, dann auch anderen gutgehen muss.
Gut, ich übertreibe. In Wahrheit ist es doch für alle schwierig, Freiheiten zu verteidigen, die sich hauptsächlich auf andere beziehen. Mit dem Hinweis auf die Wirtschaft liegen Sie richtig. Der bildungsferne- und erbschaftsfreie Mensch hat nicht allzu Entfaltungs-Potenzial von der gegebenen Weltwirtschaft zu erwarten. Aber auch die politische Teilhabe vermag seine Anpassungs-Leistungen nicht zu kompensieren. Mit der Freiheit sind (außer den Grundrechten) sog. Entfaltungs-Räume angesprochen, wie mir scheint. Und da hat die westliche Zivilisation nicht so viel anzubieten, wie sie es gerne hätte. Es gibt wohl eine typisch westliche Zwickmühle zwischen Legitimations-Bedarf und idealistischer Fahnenfälscherei. Und da sehe ich natürlich den Liberalismus (schon aufgrund seines Hintergrund-Milieus) als sehr hochfahrend an. Strengers Vater war wohl kein Arbeiter?! Meiner schon.
@Gregor
Anders und provokanter formuliert: Zu viel (oder falsche) Toleranz bringt die Freiheit in Gefahr. — Aber würde das nicht sofort wieder denjenigen in die Hände spielen, denen Strenger nicht in die Hände spielen will?
Daher der Kniff mit »zivilisierter« Verachtung. Nur: Ich kann Demokratiefeinde »zivilisiert« verachten, aber es wird sie nicht von ihrem Tun abhalten. Strenger hat den Spagat zwischen »Law-and-Order-Politik« und übermässig verständnisvoller Toleranz theoretisch gemeistert. Aber er scheitert an einer Ausformulierung in der Praxis. (Er erwägt das erst gar nicht.)
[gelöscht – völlig abseitiges Statement; bitte beachten Sie die Kommentarregeln]
Dann sind »Demokratie« und »Zivilisation« praktisch Synonyme, wobei man in der politischen Auseinandersetzung immer ein Stück weit den Frieden und die Eintracht riskiert?!
Es macht jedenfalls einen sehr großen Unterschied, ob man die Auseinandersetzung theoretisch oder »in echt« durchführt. In einer Friedensschrift (oder Verteidigungsschrift) ist noch jeder zu dem Ergebnis gelangt, das er favourisiert. Der Nachteil ist, dass diese »Theorie-Erfolge« auf selektiven Wahrnehmungen beruhen. Damit opfert man den deskriptiven Mehrwert. Die Schein-Welt triumphiert, ohne die Praxis.
Letztendlich wird man Gegner der Demokratie kaum (nicht) durch Argumente »überzeugen« können, weil sie gerade diese Form der Auseinandersetzung ablehnen (meistens zumindest).
Entspringt die diagnostizierte Gefahr vielleicht einem Mangel an Selbstvertrauen? Nennt Strenger eigentlich konkrete Beispiele (z.B. Welche Freiheiten sind besonders bedroht?)?
Strenger spezifiziert nicht dezidiert einzelnen Freiheiten. Er befürchtet, dass die »Verteidigung« der Freiheit(en) von den falschen Protagonisten propagiert und instrumentalisiert wird. Er benutzt hierzu den gängigen Begriff des »Populismus« (bzw.: »Rechtspopulismus«), womöglich, weil er keinen besseren finden wollte. Ich stehe diesem Begriff skeptisch gegenüber, weil Demokratien per se auf »Populismus« basieren, d. h. politische Entscheidungen müssen »populär« vermittelt werden, damit man über sie entscheiden kann. »Populismus« ist längst zum Totschläger geworden, wenn man es sich in intellektuellen Denkrefugien erst einmal gemütlich gemacht hat.
Eine gute Argumentation kann auf den Begriff verzichten (oder ihn maximal am Ende anführen; abgesehen davon agieren alle Parteien populistisch [im ersteren Sinn]).
Trotz allem muss man die bedrohten Freiheiten (irgendwann einmal) konkret benennen, sonst bekommt eine solche Diskussion rasch etwas »Geisterhaftes« (dass passiert vor allem beim Freiheitsbegriff, der sehr interpretationsbedürftig ist).
Die CDU-Abgeordnete Julia Klöckner besuchte neulich ein Flüchtlingslager. Dort kümmert sich auch eine muslimische Gemeinde mit einem Imam an der Spitze um muslimische Flüchtlinge. Sie wollte diesen treffen. Der ließ jedoch ausrichten, ihr mit Hinweis auf seine religiöse Auffassung den Handschlag zu verweigern. Da stellt sich m. E. nicht die Frage, ob die Religionsfreiheit dieses Verhalten legitimiert. Es geht darum, ob so etwas durch Toleranzgebote gedeckt ist oder nicht. Hierüber fand ich auf Facebook einen langen Text, der nach allen Regeln der Dialektik agierte. Er kam zu dem Schluss, dass ein solches Verhalten nicht akzeptabel ist. Es mutet jetzt ein bisschen merkwürdig an, aber diesen Schluss kann man auch kürzer haben (ohne, dass das in einen »kurzen Prozess« münden muss). Jede intellektuell vielleicht interessante Ausformulierung eines Für und Wider blendet aus: Hier werden elementare Errungenschaften unserer Gesellschaftsordnung verletzt. Man muss nun – nach Strenger – dem Verhalten des Imam mit zivilisierter Verachtung begegnen. Aber was bedeutet das konkret? Kann man ihn sozusagen zwingen, Frau Klöckner die Hand zu geben? Kann man ihn belangen, wenn er es nicht macht? Interessant auch: Warum hat Klöckner nicht trotzdem die Begegnung gesucht und das Verhalten somit öffentlich als Bild dokumentiert? Geschieht dies womöglich aus Gründen des sogenannten »sozialen Friedens«?
zu #19: Also, da versagt ja wohl vor allem der Verstand bei den Dialektikern . Der Handschlag darf natürlich »verweigert« werden von einem Geistlichen. Das ist ja nun wirklich das Gegenteil von einer »Ablehnung«. Das ist eine Standesregel. Umsichtigerweise wurde das im Vorfeld der Begegnung mitgeteilt. Also, wer ist da unzivilisiert?! Wenn Frau Klöckner damit nicht fertig wird, stünde sie in Sachen Multikulturalität so ziemlich am Anfang. Glaub ich aber nicht, dass sie deshalb das Treffen abgesagt hat. Klingt unwahrscheinlich.
Die Dialektik ist auch nicht mehr das, was sie mal war...
Der Handschlag wurde ja aus religiösen Erwägungen verweigert. Die Frau sei lt. Koran »unrein«. Das zu akzeptieren hat mit Multikulturalität nichts zu tun. Das ist ja der Blödsinn der Toleranzromantiker. Den Handschlag kann er natürlich verweigern. Aber es muss – in D – eine Konsequenz haben. (Wie die Sache in Saudi-Arabien oder sonstwo aussieht, ist dort zu klären.)
Sorry, aber ich bin kein Toleranzromantiker. Es geht nur mit Genauigkeit. Die Verweigerung stellt keine Bewertung dar, und der Code dafür (»unrein«) kann so einiges bedeuten. »Stinkt«, »Giftig«, »Gefährlich«, »Töricht«, »Verwirrend«, etc.
Ist nicht positiv, stimmt. Im wesentlichen aber nur die »Beschreibung« der Regel über das Hände-Reichen. Daraus macht der Abendländer natürlich eine ganz große Sache: ewige Attribute, unwiederbringlich beschädigte Kategorien, logozentrisches Sein wichtiger als Konventionen, etc.– Tut mir leid, wenn ich schlecht über das Abendland reden muss, aber bei dieser Anekdote wird wieder mal die komplette Irrationalität dieser Formation sichtbar. Ganz wie wir es kennen.
Versuchte der Imam nicht nur zwei konkurrierenden Ansprüchen, denen er ausgesetzt ist, geschickt Rechnung zu tragen? In dem er Klöckner vor dem Termin mitteilt, dass es hier ein Problem geben wird, gibt sich und ihr die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren, ohne das Klöckner sich mit dümmlichen Anti-Islamismus gemein machen muss. Sie konnte der Gemeinde durch ihren Besuchswunsch demonstrieren, dass sie deren Arbeit wertschätzt – und gut war. Ich finde, dass ist unter Maßgabe unserer Art der Moderne, die es ja eben auch ermöglicht, strenge religiöse Lebensformen pflegen zu können, ziemlich gut gelöst worden. Was hätte den sonst die Sanktion sein sollen? Den Imam und seine Gemeinde durch die Drecksblätter der Republik zu zerren? Sowas trägt ganz sicher nicht zur Lockerung rigider religiöser Vorschriften bei und macht es den Leuten, die ihre Gemeinden reformieren wollen, nur schwerer.
Orthodoxe Rabbiner sowie Priester christlich-orthodoxer Observanz dürfen Frauen übrigens auch nicht die Hand geben. In der Zeit von Zarinnen löste man das Problem, in dem es keine Zarinnen gab: Katharina die Gr. war deswegen zeremoniell ein Mann. Ein smarte Anwendung der Gender Theorie avant la lettre.
Und was zur Hölle meinst Du mit »Konsequenzen«?! Willst Du Krieg, oder eine neue Ordnungswidrigkeit einführen?! Recht viel mehr Konsequenzen fallen mir auf die Schnelle nicht ein...
Die Handschlagverweigerung ist – sofern sie nicht krankhaft bedingt ist (Kontaktphobie) – gesellschaftlich ein Beleg für Missachtung ad personam. Das ist keine »ganz große Sache«, das ist der allgemeine gesellschaftliche Umgang. Wer aus Gründen des Geringschätzung von mindestens 50% der Bevölkerung dieser das elementare Grundrecht der Person abspricht, sollte seinen Aufenthaltsort überprüfen. Ich stehe ja nicht auf dem Standpunkt wie Broder, dass man in Saudi-Arabien als Frau im Bikini herumlaufen muss, damit man dieses Land als zivilisiert anerkennt. Aber da macht es eben einen Unterschied.
Dieses Beispiel zeigt m. E. sehr schön, worauf die Problematik bei Strenger zielt – und wofür er keine Lösung hat. Das Appeasement – dem Iman eine gewisse Klugheit zu unterstellen – ist exakt das, was Strenger ablehnt. Und nur weil es »Drecksblätter« gibt, die das instrumentalisieren, kann man solche Vorgänge nicht totschweigen. Damit erreicht man langfristig exakt das Gegenteil.
Zu den »Konsequenzen«: Wenn man in Deutschland Berufsverbote für rassistische Äußerungen bekommen kann, dann kann man auch Lehr-bzw. Auftrittsverbote für solche Imame erwirken.
Unsere (Doktor D und moi) Einwände scheinen Strenger ein Fehler zu sein, rekapituliere ich das richtig?! Man sollte den Feinden des Liberalismus keine edlen Motive unterstellen... GENAU DAMIT RECHNEN SIE JA
Spaß beiseite: das ist ein Teufelskreis, ist Dir das klar?! Wenn ich keine guten Absichten mehr unterstelle, wird daraus sehr schnell ein selbst-verstärkend feindseliges Verhältnis. Ich rate dringend, Strenger als »ethischen Ratgeber« skeptisch zu beurteilen. Das ist eine politische Schrift liberaler Provenienz, und nicht der Weisheit letzter Schluss. –Schließlich ist die »Kunst der Verachtung« ja nicht jedermanns Sache. Kommt eh nur für Akademiker in Betracht. »Ganz unten« wird man mit ganz gewöhnlichem Hass reagieren.
Es gibt keine »guten Absichten«, wenn mir jemand den Handschlag verweigert, weil ich in dessen Augen kein »reines« Lebewesen bin. Nazis haben übrigens Juden auch nicht die Hand gegeben.
Strengers Sicht mag akademisch sein. Die andere ist aber auch – wenn sie auch zunächst für Ruhe sorgt. Man kann bei Houellebecq nachlesen, wohin das führen könnte.
»Wenn man in Deutschland Berufsverbote für rassistische Äußerungen bekommen kann, dann kann man auch Lehr-bzw. Auftrittsverbote für solche Imame erwirken.« – natürlich nicht: Die Gemeinde, die den Imam bezahlt, darf sich natürlich selbst aussuchen, wenn sie anstellt, so lange sie kein Geld vom Staat bezieht. Und selbst Kirchengemeinden, die ja auch vom Staat zumindest vermittelt, gefördert werden, können sich die reaktionärsten Pfaffen als Priester aussuchen, das ist ok laut GG. Auftrittsverbot kann es nur geben, wenn der Mann zur Gewalt oder zum Sturz der FDGO aufriefe, was er aber mit seiner Verweigerung natürlich nicht tut.
Anders sieht die Sache aus, wenn man im Auftrag des Staates ein Amt ausübt, wie zum Beispiel als Lehrer oder Polizist. Da sind Äußerungen, die gegen das Grundgesetz und die Rechtsordnung verstoßen, eben nicht ok, sondern Verstöße gegen das Dienstrecht, dessen Gültigkeit man bei Unterschrift des Vertrags anerkannt hat. Weil unser Staat und unser Rechtswesen gerade in diesem Bereich glücklicherweise mittlerweile sehr zurückhaltend reagiert, ist es sogar gar nicht so unüblich auf Polizisten zu stoßen, die ein festgefügtes neo-nazistisches Weltbild haben und das fallweise auch an einem auslassen, denen aber kaum mehr als ein formelles Disziplinarverfahren ohne Eintrag in die Dienstakte droht. Von den Professoren, die in ihren Veranstaltungen regelmäßig sexistische und rassistische Äußerungen zum Besten geben oder »beweisen«, dass die Juden ja im Prinzip und so..., von der Uni-Verwaltung aber mit Samthandschuhen angefasst werden, ganz zu schweigen.
Man kann in Deutschland gerade in exponierten gesellschaftlichen Positionen eine Menge Unsinn reden und schreiben, ohne dass es einen Stelle oder gar Pension kosten würde. Man könnte sogar sagen, manche Stellen, zum Beispiel als Kolumnist bei Welt, Zeit, TAZ und FAZ bekommt man nur so.
Wer die Weigerung des Imam rechtlich verfolgen will, muss offensiv pro-Gesinnungsstrafrecht argumentieren und sämtliche Organisationen, in denen Frauen, Homosexuelle oder andere soziale Gruppen als nicht in der Lage angesehen werden wegen ihrer speziellen ontologischen Verfasstheit volle menschliche Rechte zu tragen und alle Ämter auszuführen, verbieten. Das wären dann nicht nur die katholische Kirche, viele orthodoxe jüdische Gemeinden, bestimmte Formen des Islam, bestimmte Formen der griechisch- und russisch-orthodoxen Kirche, sondern auch zahllose Schützenverein, Burschenschaften etc.. Außerdem müsste man eine Art Inquisition einrichten, die überwacht, dass es überall nach den Regeln zugeht.
Deswegen verstehe ich das Problem nicht: Jeder kann ja über den Imam sagen, dass er mal langsam im 21. Jhdt. ankommen sollte und das sein Verhalten reichlich unangemessen ist und sich mit den Idealen, nach denen wir unsere Gesellschaft formen wollen, nicht vereinbaren lässt. Aber mehr geht eigentlich nicht, sonst verlassen wir nämlich ziemlich zügig diese Ideale.
Ja, Strenger »zu Ende« denken, heißt: FDGO nur für diejenigen, die passend dafür gemacht sind. Nicht als Deckmantel und Rechtsschutz für diese ganze Klitsche vormoderner Subjekte. Radikal-liberal, eben. Nicht mehr nur stille Verachtung, sondern aktive Strafverfolgung gegen alles Unmoderne. Das wäre die praktische Konsequenz, die (bewusst?!) in dem Text ausgespart wird. Eine typische Programmatik, wo die Handlungsweisen fehlen, eben weil sie radikal wären... Distanzierung des Brandstifters von den geschichtlichen Folgen in weiser Voraussicht.
P.S.: »...Ideale zügig verlassen« find ich eine tolle Formulierung.
@Doktor D
Ich meinte nicht den uralten Kampf der um den Radikalenerlass geführt wurde. Ich dachte eher an sowas hier.
Das Argument, dass wir, d. h. »der Westen« die Ideale verlassen, in dem wir die Negierer dieser Ideale bekämpfen, ist auch keines. Wie fragil das ist, zeigt sich am Fall Mahler: Entweder ist man für »Meinungsfreiheit« oder nicht.
Dem Imam mit ein paar gut gemeinten Ratschlägen zu begegnen, ist an Naivität kaum zu überbieten. (Naja, mindestens ein Mann müsste man dafür sein – von Frauen lässt er sich ja bestimmt nichts sagen.)
@die_kalte_sophie
Natürlich gibt sich jede Gesellschaft die Lebensordnung, den Rahmen, den man für richtig hält. Das ist natürlich ein Prozess, wie die europäische Geschichte bspw. zeigt. Da Sie nicht an die Aufklärung glauben (die Gründe kann ich nachvollziehen und darauf geht Strenger m. E. viel zu wenig ein), verfechten Sie natürlich ein anything goes. Das wird aber auf lange Sicht das bestehende System aushebeln. Das kann man natürlich wollen. Aber dann soll man es auch sagen.
Sie wollten den Imam irgendwie bestrafen – und daraus folgt schlicht und erfgreifend sowas wie der Radikalenerlass. In der jetzigen Gesellschaftsordnung muss sich der Imam von mir nix sagen lassen und ich mir nix von ihm. Das ist ja der Punkt der modernen liberalen Gesellschaft: Ich will ja dem Imam gar nicht die Hand geben, denn ich habe weder vor Mitglied seiner Gemeinde zu werden, noch irgendwie gesellscaftlichen Umgang mit ihm zu pflegen. Erst wenn die Gemeinde einen Antrag für Geld, Steuerbefreiung oder andere Unterstützung durch den Staat (Kommune / Land / Bund) beantragt, greift der komplette verfassungsrechtliche Überbau – und die Gemeinde wird zumindest hier in Stuttgart kein Geld bekommen, wenn Frauen aktiv diskriminiert werden.
Und wo wollen Sie den Imam denn rauswerfen? Die Gemeinde finanziert sich ja selbst und muss sich deswegen von niemand von außen reinreden lassen. Deswegen kann ja auch Porsche den Azubi entlassen, der sich rassistisch äußert. Das ist arbeitsrechtlich eine ziemlich safe Sache. Ob es nicht im Sinne Strengers sinnvoller gewesen wäre, dass sich der Ausbildungsleiter den jungen Mann mal zur Brust nimmt und ihn vor den sicherlich zahlreichen KollegInnen mit Migrationshintergrund dazu auffordert, seine Position doch noch mal darzulegen, darüber wäre zu diskutieren. Denn ist es ja tatsächlich so, dass unsere Art der liberalen, hochkomplexen Gesellschaft Menschen, für die das Überschauen der eigenen Handlungen und ihrer Kontexte schwer ist, tendenziell in gefährliche Situationen bringt. Was früher durch sozialen Druck und Einfluss aus dem Nahfeld geregelt wurde, kann sich – wenn man in einem international tätigen Konzern arbeitet, der stark auf Export ausgerichtet ist, jetzt sehr schnell zu einer Imagefrage auswachsen, weil man den Mist auf Sozialen Medien rausposaunt, und es für Porsche natürlich viel effektiver als Schadensbegrenzung ist, den jungen Mann zu entlassen, als sich um seine Einführung in die normalen Umgangsformen des christlichen Abendlands zu bemühen.
Nee, ich will die bestehende Formation bewahren. Die sehe ich aber durch Wirtschaft, Staat und Christentum geprägt. Das passt ja sowieso schon nicht zusammen. Der Imam ist mir schnuppe, die Aufklärung Geschichte. Es hat m.E. nicht für eine »bürgerliche Identität« gereicht, sodass erst die Religion verzichtbar wird und (utopisch) danach sogar der Kapitalismus wegmoderiert werden könnte. Ich weiß, damit gerate ich in das Schwerefeld des Konservatismus, aber das ist Schicksal.
Wenn Sie mich zur *Krise befragen: totale Katastrophe, breiter Realitätsverlust, hysterischer Moral-Komplex, Hybris moderner Bio-Politik, »Die internationalen Beschwerden über Leben und Tod zum Gegenstand der Sozialverwaltung erklären...«.
Problem: kann nichts dagegen tun. Also wieder die Praxis.
Die – Verzeihung! – Kabarettdiskussion zeigt sehr gut, wie treffend Strengers Analyse ist und zugleich warum Rechtsparteien wie die FPÖ so rasant zulegen: Dass auf das Verhalten des Imams quasi geantwortet wird, dass man ihm vielleicht gar nicht die Hand geben möchte oder müsste oder das anderswo auch gemacht werde, versteht kaum jemand mehr; gewählt werden dann diejenigen, die einen Standpunkt überhaupt noch vertreten können. — Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie in einer berufsbedingten Besprechung einer der Teilnehmenden einer Frau den Handschlag verweigert hat, das war allerdings kein Imam und jeder – haben wir darüber wenigstens Konsens? – wird nachvollziehen können wie unangenehm, gering schätzend und verachtend, das für die Betroffene gewesen sein wird (die übrigens davon abgesehen hat, die Angelegenheit zu thematisieren). Ich kann auch gerne meine türkische Nachbarin fragen, was sie von derlei Praktiken hält (und die, nebenbei bemerkt, heilfroh ist, dass sie hierzulande nicht dazu gezwungen wird, ein Kopftuch zu tragen). — Sicherlich: Bei Licht besehen, werden Personen, die Frauen keine Hand geben, ansonsten vorbildliche liberale Ansichten haben und alle anderen (Frauen)rechte achten und hochhalten. Dass ich nicht lache!
Wenn jemand im privaten Raum einer Frau aus religiösen Gründen nicht die Hand geben will, von mir aus, da kann man gewisse Unsinnigkeiten tolerieren, niemand wird zu seinen Freunden, Bekannten oder Ehepartnern gezwungen (hoffentlich!), aber in der Öffentlichkeit, dort wo der gesellschaftliche Konsens unausgesprochen auftritt, hört sich der Spaß auf, das ist kein Verein, kein Kirche und kein Keller (abgesehen davon: ich latsche ja auch nicht mit Schuhen in eine Moschee).
[Die Frage, ob ein solches Verhalten Konsequenzen haben kann oder soll ist die zweite; die erste ist, ob unsere Gesellschaften noch willens oder fähig sind, gewisse allgemeine (unausgesprochene, aber bedeutsame) Verbindlichkeiten und Praktiken aufrecht zu erhalten.]
Ja, Kabarettdiskussion trifft die Sache – und auch wieder nicht. Sie zeigt, wie in bestimmten Milieus eine solche Thematik behandelt wird: Der Imam ist egal, die Aufklärung tot, ich muss niemandem die Hand geben wollen. Es zeigt vor allem, dass Strengers Prinzip der »zivilisierten Verachtung« schon alleine aus dem Grund scheitern muss, weil bestimmte Verhaltensweisen gar nicht mehr als verachtenswert angesehen werden. Sie werden sozusagen zu Tode toleriert – teils aus übergroßer Nachsicht, teils aus (intellektueller) Faulheit.
»Bei Licht besehen, werden Personen, die Frauen keine Hand geben, ansonsten vorbildliche liberale Ansichten haben und alle anderen (Frauen)rechte achten...« –Ich weiß nicht, wo Du diese naiv-positive Unterstellung abliest. Vermutlich frei aus dem Äther formuliert. Ich weiß, man versucht uns jetzt den Rückschritt als Fortschritt zu verkaufen. Ein reines postpolitisches Pan-Opticon, das sich medial entfaltet.
Die Misogynie ist in der Tat tief verankert in den andro-arabischen Welt, vom Einzelfall mal abgesehen. Da beißt die Maus kein’ Faden ab. Das muss jetzt alles wegdiskutiert werden, Moderation durch seine Eminenz Gauck. Das gibt es nicht, ihr werdet sehen. Wenn wir das erst mal AUSDISKUTIERT haben. Neue epistemische Verdunkelungs-Techniken mit sanft autoritärer Note im Abgang. Das ist kein Liberalismus, stimmt! Da geht’s im wesentlichen um Gehirnwäsche, oder wie Victor Orban sagen würde: It’s a German Problem!
@die_kalte_sophie
Sorry, jetzt wird’s wirklich Kabarett: »Die Misogynie ist in der Tat tief verankert in den andro-arabischen Welt..« Das hat ja niemand bestritten. (Wobei Misogynie fast ein Euphemismus ist.) Ähnlich ließe sich auch über das Verhältnis zur Homosexualität sagen. Oder zur Apostasie im Islam. Es geht hier jedoch nicht um diese »andro-arabische« Welt, sondern um unseren Kulturkreis. Imame haben in muslimischen Gemeinden Vorbildfunktion. Wie überall gibt es dort liberale und auch »misogyne«. Das Klöckner-Beispiel zeigt nicht mehr und nicht weniger, dass muslimische Gläubige hier durch »misogyne« Vorbilder geführt, wenn nicht gar indoktriniert werden. (Dass Klöckner diesen Vorfall für ihre halbgaren Sprüche nutzt, lassen wir mal weg; sie ist ja ähnlich ohnmächtig wie die Multikulturalisten.) Es geht darum, ob man das duldet oder nicht. Wenn man es nicht duldet, geht um Konsequenzen. Dass diese mit (im Zweifel änderbaren) Formalien gekontert werden, überzeugt mich nicht.
Das »Ausdiskutieren« betreiben gerade Sie, in dem Sie je nach Diskussionslage Rechtfertigungsstrategien entwickeln oder aber auch mal alles vom Tisch wischen. Die Rechtfertigungs- und Verteidigungsreden sind in dem Moment absurd, wenn es dann später heißt »...ich will die bestehende Formation bewahren. Die sehe ich aber durch Wirtschaft, Staat und Christentum geprägt.« Bleibt nur die Frage, was passiert, wenn jemand den »Staat« bzw. den Codes dieses Staates – vulgo: das Grundgesetz – ganz oder in wichtigen Teilen ablehnt. Da sind übrigens misogyne Imame und NPD-Anhänger gleichermaßen mit gemeint. Um es auf den Punkt zu bringen: Da gibt es nichts »auszudiskutieren«.
Es gibt eigentlich nur drei Möglichkeiten: Entweder wir akzeptieren durch die Bank jeden Wert, sofern er in irgendeiner Form identitätsstiftend ist (politisch, religiös oder kulturell). Oder wir akzeptieren jeden Wert, solange bis wir ihn nicht bemerken (so entstehen dann Parallelgesellschaften, die sich im günstigsten nichts zu sagen haben und sich nicht begegnen). Oder wir ziehen Grenzen. Über letzteres geht es in dem Buch.
Sie täuschen sich in mir, aber das macht nichts. Zunächst die Erinnerung an die Praxis: Was schlagen Sie vor?! Wos mach’ ma mit dem Imam?! Sie haben keine einzige Aktion vorgeschlagen, nur allgemeine Handlungsrichtlinien. Das geht ins Leere.
Dann die Frage nach dem Wollen oder Nicht-Wollen der multikulturellen Gesellschaft. Ich will sie nicht. Ich betrachte sie als Ärgernis, der gewagten Formation »Staat, Wirtschaft und Religion« als Mühlstein um den Hals gehängt. Als Reaktion darauf kann ich nur so entschieden wie möglich GEGEN weitere Einwanderung plädieren. Was ich tue, ganz undialektisch, ganz unverhohlen. Wie @mete sagt: Wäre schön, wenn jemand noch eine Position hätte...
Habe ich. Bin dagegen. So dagegen, dass ich täglich auf 180 systolisch bin.
Sie glauben, weil ich »herumdiskutiere« und Späße treibe, wäre es mir nicht ernst?! Ich sage Ihnen, wir stehen am Abgrund. Vielleicht liegt darin ja der Grund für meine Späße.
Sie freilich können gar nicht kein großes NEIN mehr formulieren. Der Handschlag wird zum »letzten Gefecht«. Wenn ich ihre Notlage nicht so klar nachvollziehen könnte (man kennt sich), wäre das Klassisches Kabarett. Aber mir ist nicht generell zum Lachen. Der Libertinismus ist mir fremd. Ich trage Verantwortung für andere Menschen. Das schließt sich aus.
Der Handschlag wird zum »letzten Gefecht«
Das ist Unsinn. Der Handschlag ist ein Beispiel. Merkwürdigerweise aus der Praxis. Lesen Sie in meinen Kommentaren oben, wie man vielleicht verfahren könnte. Ansonsten habe ich darauf hingewiesen, dass die Konsequenz-Frage schwierig ist. Aber mit Appeasement lösen kann sie eben auch nicht.
Gut, ich übertreibe. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass dem Liberalismus eine gewisse Disziplin und »erworbener Gemeinsinn« vorausgeht. Ihre einzige Sorge ist nun: wie kriegen wir die Ausländer in diese Form?! Die haben andere Gebete, andere Tugenden, andere Leidenschaften, etc. Die müssten umformatiert werden. Auf erzieherische Herausforderungen reagiert der Deutsche meist mit dem Bau von Schulen. Aber das wird in diesem Fall nicht mehr reichen. Ich würde sagen: der Liberalismus, über den wir sprechen, lässt sich leicht in einer jüdisch-christlich geprägten »Leistungsgesellschaft« vertreten, aber: die Umkehrung, dass selbiger Liberalismus auch ein guter Ratgeber für eine zunehmend multi-kulturelle Gesellschaft sein könnte, gilt natürlich nicht. Aus apokalyptischer Perspektive: wir gemeinsam untergehen. Wir waren vielleicht aufeinander angewiesen, die Betonköpfe, die Sozis und die Liberalen, aber den zivilen Überbau zu formulieren, zu vertreten und einzufordern, wird immer schwieriger. Blatt überreizt, wie beim Skat. Eine universelle Lösung sehe ich nicht. Sie formulieren das ja andauernd. Auch der Westen stellt sich am Ende als endliches Gebilde heraus. Er ist keine »universelle Gesellschaftsmaschine«, frei nach Deleuze.
Es geht nicht um »Umformatierung«. Nicht mal um Assimilation. Aber gegenseitiges Nicht-Beachten funktioniert irgendwie auf Dauer auch nicht. Richtig, der sogenannte Liberalismus funktioniert nicht als anything-goes-Motor, der als einzige Maxime Profit und Konsum kennt. Das Grundgesetz hat ungleich weniger Strahlkraft als religiöse oder politische Utopien oder den Besitz eines Porsche. Das verblüffende ist, dass die Einforderung bestimmter Werte etwas verlangt, was jahrzehntelang zuverlässig als überflüssig und abschaffenswert angesehen wurde: Gemeinschaft.
(Hierin liegt auch die Kehre Merkels mit ihrem Spruch »Wir schaffen das«. Sie, die Kehre, liegt in der Verwendung des Wortes »Wir«. Als Peer Steinbrück mit dem »Wir« 2013 Wahlkampf machte, wurde er deswegen ausgelacht, weil es als Werbespruch eines Unternehmens daher kam. Merkel oktroyiert plötzlich dieses »Wir«, ohne es jemals zu definieren. Das »Wir« ist jetzt die Gemeinschaft, die Millionen von Migranten und Flüchtlingen zu integrieren hat, ohne das eine auch nur annähernd belastbare Agenda zu deren Integration vorliegt. Aber das ist ein anderes Thema.)
@die kalte Sophie
»Wos mach‘ ma mit dem Imam?!« — Das ist zunächst einmal die falsche Frage; ich bin mir noch immer nicht sicher, ob wir hier überhaupt den Konsens haben, dass die öffentliche Weigerung einer bestimmten Gruppe von Personen die Hand zu reichen, eine fundamentale Geringschätzung und/oder Verachtung darstellt, die eben nicht auf Erfahrung, persönlicher Bekanntheit, usf., beruht; diese Verweigerung bedeutet, dass diese anderen es prinzipiell nicht wert seien, dass man ihnen die Hand reicht, dass sie quasi einer untergeordneten (weniger schätzenswerten) Gruppe von Menschen angehören. Ein solches Verhalten ist nicht zufällig oder einem Affekt geschuldet, es ist begründet, bedacht, gewollt (systematisch); die Vorbildwirkung kommt dann noch dazu. Hier wird eine Asymmetrie artikuliert und wohl auch gelebt, die einem Fundament unserer Gesellschaften, der prinzipiellen (rechtlichen) Gleichheit aller, widerspricht.
Eine selbstbewusste Gesellschaft, oder eben: Gemeinschaft (zu der der Liberalismus in einem Gegensatz steht), würde darum kein Aufhebens machen müssen, weil schlicht und einfach klar wäre, was auf einer grundsätzlichen Ebene geboten (gefordert) ist und zwar durch die gesellschaftliche Praxis; dass man überhaupt über Konsequenzen nachdenken muss, ist ein Zeichen von Schwäche, von Substanzlosigkeit, von Unklarheit, von Orientierungs- und Reflexionslosigkeit; das Fremde zu verschlingen, ist nichts anderes als ein Abweisen nach innen, es zeugt von einer Unfähigkeit sich mit ihm auseinander zu setzen und eine gemeinsame Vorstellung zu entwickeln, ohne seine eigenen grundlegenden (modernen) Positionen aufgeben zu müssen.
Zum konkreten Fall: Dem guten Herrn wäre klar zu machen, was er tut und dass dies nicht im Einklang mit den üblichen, gewünschten und praktizierten Vorstellungen ist (man kann ihn ja zu einer Unterredung bitten); jeder weitere Umgang und jede Betreuung von Flüchtlingen durch ihn und seine Gemeinde ist zu untersagen, weil er der Integration hinderliche Praktiken verbreitet; jede staatliche Förderung, falls vorhanden, zu streichen, ebenso wie allfällige Ambition schulischer oder lehrender Natur (aus denselben Gründen).
@ Gregor Völlig einverstanden. Wenn man das »Wir« jenseits der Rhetorik programmatisch, als Agenda (die völlig unbestimmt bleibt) benutzt, aktiviert man die Gemeinschafts-Neuronen. Das führt manchmal zu Widerspruch, in diesem Fall (meine Einschätzung) zur »gemeinsamen« Verdrängung. Es wird eine der letzten Verdrängungsleistungen in der Kanzlerschaft Merkel sein, die »wir« erbracht haben.
@ mete Stimmt, wir haben noch keinen Konsens. Ich kenne diese Import-Imame, die uns aus der Türkei oder Saudi-Arabien zugeführt werden. Die haben keine Ahnung, was sie tun oder nicht tun sollen. Aber sie verbreiten natürlich von Tag 1 die frohe Botschaft. Eine Betreuung der Flüchtlinge kann man auf Kreis-Ebene verhindern, dann kann die Gegenseite klagen, oder sich den Mund schaumig geifern. Da bin ich zu weit weg, um eine Meinung zu fassen.
Aber der Staat, ganz gleich ob Gemeinde oder Bundes-Ebene ist nicht besonders progressiv, was die »Lenkung der Gesellschaft« angeht. Es muss schon verdammt viel passieren, damit mal was »passiert«. Die Schwerfälligkeit des Staates sieht fast schon aus wie »Liberalismus«, nicht?!
»Das verblüffende ist, dass die Einforderung bestimmter Werte etwas verlangt, was jahrzehntelang zuverlässig als überflüssig angesehen wurde: Gemeinschaft«.
Dann wäre ein Jahrzehnte langer Diskurs also abwegig gewesen?! Das kann gut sein, dass es geistesgeschichtliche Phasen der De-Politisierung gibt. Na und?! Dann ist halt jetzt Montag, und es beginnt eine neue Woche.
Sie spielen gewiss auf die »Beweglichkeit des Geistes« an, wo sich die Dinge ständig ändern, und doch so einige Thesen immer wieder kehren. Aber auch die Voraussetzungen ändern sich manchmal. Die Voraussetzungen sind näher an der Wirklichkeit.
Es fand ja gar kein Diskurs über das, was man »Gemeinschaft« nennen und man diese definieren könnte statt. Der Begriff und das, was damit verbunden wird, war denunziert durch den Missbrauch der Nazis. Das »Kollektiv« der DDR war auch verschrien. Der in den 1980/90er Jahren kurz nach Europa überschwappende amerikanische Kommunitarismus fand hier keinen wortgewaltigen Vertreter. Habermas sprach dann irgendwann vom »Verfassungspatriotismus«, der allerdings in dieser Form keinerlei Strahlkraft besitzt. Der Versuch des Grünen-Politikers Robert Habeck einen »linken Patriotismus« zu begründen, wurde (und wird) diffamiert. Stattdessen wurde von den politischen Eliten eine europäische Identität ins Spiel gebracht, die uns jetzt in Katalanien und anderswo um die Ohren fliegt.
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Die Betreuung von (muslimischen) Flüchtlingen wird muslimischen Gemeindevertretern überlassen, weil man die Aufgaben mit dem zur Verfügung stehenden Personal einfach nicht bewältigen kann. Aber wie wäre es, den Flüchtlingen Informationsmaterial (inklusive Zitate der wichtigsten Grundgesetzartikel) in den Heimatsprachen auszugeben und eine Verpflichtung auf eine Hausordnung einzufordern? Es könnten Hausverbote für unerwünschte Personen ausgesprochen werden. Usw., usf.
Die Erörterungen um eine »europäische Identität« habe ich auch verfolgt. Der »linke Patriotismus« ist mir neu. Die Begründung für diese Kopf-sucht-Herz-Idee dürfte sehr schwierig sein. Ich lese da ein Paradoxon.
Es gab keinen Diskurs, weil es nicht gebraucht wurde. Da ist ganz einfach. Der Politik-Betrieb kommt durchaus ein paar Jahrzehnte ohne Grundsatz-Diskussionen aus. Die Intellektuellen haben da keine vorauseilenden Leistungen erbracht. Jetzt auf die Schnelle Herz und Verstand zu mobilisieren, wird schwierig. Habermas hat sich nicht für die Kulturnation Deutschland interessiert, und voll auf das Rechtsverständnis gesetzt. Das ist eigentlich eine konservative Definition. Dass dieser »graue Patriotismus« keine Strahlkraft hat, ist noch untertrieben. Er hat auch keine innovative Kraft. Bei einem Papiertiger wie H. geht die ganze Kreativität ja in Szenarien, in Weltbeschreibungen, die stark idealisiert sind. Das liest sich dann gern auch »progressiv«. Da ist die tatsächliche gesellschaftliche Entwicklung eigentlich nur störend. Ich will das gar nicht groß kritisieren, aber im Bereich der Politischen Philosophie merkt man doch am deutlichsten, dass der Intellekt nicht mehr mit den existenziell-kognitiven Anforderungen mithalten konnte. Deshalb ist der Identitäts-Begriff ja so extrem künstlich. Weil es nur so wenig gibt, was man Identität nennen könnte.
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Ich glaube auch, dass Habermas kein Linker im klassischen Sinn ist, sondern eher ein Bismarck’scher Reichsgründer – eben diesmal nur nicht als »Deutsches Reich«, sondern »Europäisch«. In diese Richtung geht ja auch der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, der den EU-Staat definitiv will und die (teilweise nur noch rudimentär vorhandenen) nationalen Identitäten zerstören möchte. Genau das wird nicht funktionieren.
Diese nicht mehr funktionierenden Identitäten kann man schwerlich durch Rechtsnormen ersetzen. Zumal wenn man – wie der obige Fall zeigt – diese Rechtsnormen zu Gunsten eines Universalismus auch noch leichtfertig aufgibt. in den Herkunftsländern der aktuellen Flüchtlinge gibt es weniger nationale, denn religiöse Normierungen, die sehr fest verankert sind und nun auf eine eher »weiche« Gesellschaft trifft.
Menasse, stimmt. Derselbe Versuch, ein ins Rudimentäre abgleitendes politisches Selbst auf eine vollkommen neue politische Einheit zu beziehen. Es gibt ja Konzepte, würde Habermas sagen. Er hat wenig Verständnis für das demokratische Funktions-Kriterium, dass möglichst viele einvernehmend (»mehrheitlich«) teilnehmen müssen. Das hat er immer als Problem eingekreist, das von einer ominösen Elite verursacht wurde. Technokratisch, war das Stichwort. Hätte er sich das Tagesgeschäft eines Politikers aus der Nähe angeschaut, hätte er merken können, dass die Demokratie »ganz schlecht« mit Technokraten funktioniert. Lästig, diese Wahlen. Immer will die Elite unsere Zustimmung.
Rund um den Identitätsbegriff, der postbürgerlichen Posse durch die Medien und der sagenhaften Überkompensation der Linken haben wir ein Problem, mit dem eigentlich keiner gerechnet hat. Ein verspätetes Problem. Ich würde es die Verstrickung des spätmodernen Menschen in die Demokratie nennen. Sie scheint Forderungen zu stellen, die auf anthropologische Varietäten, Prioritäten verweisen, die keinen gemeinsamen Nenner aufweisen. Das Paradoxon, das der Abgeordnete Habeck da aufwirft, ist das nicht auch ein Hinweis auf die Inkompatibilität der Vielfalt für das System?! Ganz unpolemisch dahingestellt. Ich bin jedenfalls nicht überzeugt, dass die Demokratie sozialpsychologisch und systemisch einwandfrei funktionieren könnte, wenn der Mensch... Tja, eben. Welche Bedingungen stellt man noch gleich?! ...nur rational genug wäre. Ich glaube eher, dass die Demokratie den Menschen zu der Annahme verleitet, dass Politik im wesentlichen eine Bearbeitung von Kommunikationsproblemen und Interessensgegensätzen ist. Wäre schön, wenn es so wäre.