Car­lo Stren­ger: Zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung

Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung

Car­lo Stren­ger:
Zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung

»Ei­ne An­lei­tung zur Ver­tei­di­gung un­se­rer Frei­heit« un­ter­ti­telt Car­lo Stren­ger sein Buch und es ist glück­li­cher­wei­se nicht ei­nes je­ner Pam­phle­te, die den markt­li­be­ral-öko­no­mi­schen Frei­heits­be­griff hoch­le­ben lässt, son­dern es geht ihm um die Rück­be­sin­nung auf die Wer­te der Auf­klä­rung in un­se­rer post­mo­der­nen Welt, die mit »zi­vi­li­sier­ter Ver­ach­tung« ge­stärkt wer­den soll.

»Zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung« be­deu­tet, dass je­ne Wert- und Mo­ral­po­si­tio­nen, die den frei­heit­li­chen Idea­len der Auf­klä­rung ent­ge­gen­ste­hen, ge­äch­tet und nicht mit fal­scher To­le­ranz ge­dul­det wer­den. Die zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung steht da­bei in Op­po­si­ti­on zur »po­li­ti­schen Kor­rekt­heit«. Ein eher un­glück­li­cher Be­griff, wo­bei an­de­re Vo­ka­beln wie »Ap­pease­ment« oder »Re­la­ti­vis­mus« ähn­lich kon­ta­mi­niert ge­we­sen wä­ren. Stren­ger meint mit po­li­ti­scher Kor­rekt­heit nicht die Über­set­zung ver­meint­li­cher oder tat­säch­li­cher Sprach- und Denk­ver­bo­te, son­dern je­nen ni­vel­lie­ren­de Sicht­wei­se, die auch an­ti­auf­klä­re­ri­sche Wert­vor­stel­lun­gen aus Rück­sicht vor an­de­ren kul­tu­rel­len Prä­gun­gen gleich­be­rech­tigt gel­ten lässt. Stren­ger hält ei­ne vor­aus­ei­lend po­stu­lier­te Gleich­ran­gig­keit an­de­rer, an­ti­auf­klä­re­ri­scher Wer­te und Mo­ral­vor­stel­lun­gen für ei­ne »gro­tes­ke Ver­zer­rung des auf­klä­re­ri­schen To­le­ranz­prin­zips«.

Der be­son­ders ab den 1960er Jah­ren in der po­li­ti­schen Lin­ken ver­foch­te­nen The­se, dass das Ver­hal­ten des ko­lo­nia­li­sti­schen, wei­ßen Man­nes die Auf­klä­rung als ge­schei­ter­tes Pro­jekt dis­kre­di­tiert ha­be, und die sich der­zeit wie­der neu­er Be­liebt­heit er­freut, wi­der­spricht Stren­ger scharf. Auch den Vor­wurf ei­nes »Eu­ro­zen­tris­mus« und/oder ei­ner ein­sei­ti­gen und idea­li­sier­ten Fi­xie­rung auf den »We­sten« lässt er nicht gel­ten, was er mit der welt­wei­ten »Strahl­kraft west­li­cher Er­run­gen­schaf­ten« be­grün­det. Die Kri­tik an der Auf­klä­rung als »Ent­hu­ma­ni­sie­rungs­pro­jekt« wird ent­schie­den zu­rück­ge­wie­sen.

Stren­gers »zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung« greift zwar die Mei­nungs­frei­heit nicht an, möch­te sie je­doch im­mer dann be­fra­gen und als Dis­kurs­po­si­ti­on ab­leh­nen dür­fen, wenn grund­le­gen­de Wer­te des li­be­ra­len Rechts­staats und der De­mo­kra­tie auf dem Spiel ste­hen (wo­bei ge­le­gent­lich »Auf­klä­rung« mit »De­mo­kra­tie« ein biss­chen fahr­läs­sig gleich­setzt wer­den).

Da­bei be­deu­te zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung aus­drück­lich nicht ei­ne Ab­wer­tung na­tio­na­ler, re­li­giö­ser oder kul­tu­rel­ler Grup­pen. Sie ist aus­schließ­lich sach- und the­men­be­zo­gen. Grund­vor­aus­set­zung sei ei­ne »in­tel­lek­tu­el­le Selbst­dis­zi­plin, die da­zu ver­pflich­tet, In­for­ma­tio­nen zu sam­meln und die­se sorg­fäl­tig ab­zu­wä­gen«. Dies nennt Stren­ger »ver­ant­wort­li­che Mei­nungs­bil­dung«. Es gel­te Tat­sa­chen­be­haup­tun­gen bspw. aus dem wis­sen­schaft­li­chen Be­reich bis zum Be­weis des Ge­gen­teils (Pop­per dient hier als Re­fe­renz) als sol­che zu ak­zep­tie­ren, auch wenn sie nicht zu den ei­ge­nen »emo­tio­na­len und welt­an­schau­li­chen Prä­fe­ren­zen pas­sen«. Hier­für ent­wickelt Stren­ger den so­ge­nann­ten »Ärz­te­test«, der Dog­ma­ti­ker, Re­li­gi­ons­füh­rer und Wis­sen­schafts­leug­ner de­cou­vrie­ren soll: »In dem Mo­ment, in dem sie [bspw. Re­li­gi­ons­füh­rer] Tat­sa­chen­be­haup­tun­gen auf­stel­len, die Men­schen­le­ben und mensch­li­che Wür­de be­tref­fen, müs­sen sie den An­for­de­run­gen ent­spre­chen, wel­che auch die mei­sten re­li­giö­sen Men­schen an die Ver­tre­ter je­nes Be­rufs­stands rich­ten, dem sie ih­re Ge­sund­heit an­ver­trau­en.« Wer al­so bei sei­ner ei­ge­nen Krank­heit ei­nen Arzt kon­sul­tiert, kann sich, so die Schluss­fol­ge­rung, ei­ner kon­trol­lier­ten Ab­ga­be von Kon­do­men zur AIDS-Ver­hü­tung nicht mit schein­mo­ra­li­schen Ar­gu­men­ten ver­schlie­ßen.

Die Nei­gung Über­zeu­gun­gen oder über­lie­fer­te Nar­ra­ti­ve als sa­tis­fak­ti­ons­fä­hi­ge »Ar­gu­men­te« ge­gen Tat­sa­chen­be­haup­tun­gen zu­zu­las­sen, fin­det sich, wie Stren­ger rich­tig her­aus­stellt, in al­len La­gern – links wie rechts. Der Ap­pell die­ses Es­says geht da­hin, die­se »ko­gni­ti­ven Ver­zer­run­gen« nicht mehr zu ak­zep­tie­ren. Er hält den Re­la­ti­vis­mus, der wis­sen­schaft­li­che Er­kennt­nis­se und so­zio-kul­tu­rel­le Er­run­gen­schaf­ten leicht­fer­tig her­gibt für ei­ne Be­dro­hung der frei­heit­li­chen Ge­sell­schaft.

Die Be­fürch­tung geht da­hin, dass, wenn die Auf­klä­rung ih­re Wer­te nicht ver­tei­digt und ih­ren Fein­den mit zi­vi­li­sier­ter Ver­ach­tung be­geg­net, rech­te und rechts­po­pu­li­sti­sche Grup­pie­run­gen und Par­tei­en wie bei­spiels­wei­se die SVP in der Schweiz, Le Pen in Frank­reich und Wil­ders in den Nie­der­lan­den mit re­van­chi­sti­schen und na­tio­na­li­sti­schen Pa­ro­len ge­nau die Wer­te un­ter­höh­len, die sie vor­ge­ben, zu schüt­zen. So ein­leuch­tend die­se Be­fürch­tung auch ist, so merk­wür­dig un­kon­kret bleibt Stren­ger wel­che Kon­se­quen­zen sei­ne zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung bei­spiels­wei­se für Ge­setz­ge­bung und Ju­stiz nach sich zie­hen soll­te. Hin­zu kommt, dass er zu­wei­len sel­ber in ei­ner Art po­li­ti­scher Kor­rekt­heit ge- bzw. be­fan­gen zu sein scheint, wenn er et­wa is­lam­kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen recht schnell mit dem At­tri­but »isla­mo­phob« be­zeich­net. Zwar re­ka­pi­tu­liert er die Fat­wa ge­gen Sa­man Rush­die um die »Sa­ta­ni­schen Ver­se« und kon­sta­tiert mehr oder we­ni­ger ein Ver­sa­gen des We­stens. Aber was hät­te man tun sol­len? Sein Hel­den­tum bleibt stumpf, wenn er zum Bei­spiel an die Er­mor­dung des ja­pa­ni­schen Über­set­zers er­in­nern muss.

So rich­tet Stren­ger sei­nen Auf­ruf, die »Krän­kung« der ar­gu­men­ta­ti­ven Nie­der­la­ge zu er­tra­gen, an die fal­sche Sei­te. Die Ver­fech­ter der Auf­klä­rung dürf­ten hier­mit kei­ne Pro­ble­me ha­ben, was er so­gar an zwei Bei­spie­len be­legt: Die Auf­re­gung um Phil­ipp Roths Buch »Port­noys Be­schwer­den« En­de der 1960er Jah­re in der jü­di­schen Ge­mein­de der USA. Und ein Mu­si­cal, das sich kri­tisch mit der Re­li­gi­ons­ge­mein­schaft der Mor­mo­nen aus­ein­an­der­ge­setzt hat­te. In bei­den Fäl­len hät­te es zwar er­bit­ter­te De­bat­ten ge­ge­ben, aber grund­sätz­li­che Wer­te wie Pu­bli­ka­ti­ons- und Mei­nungs­frei­heit sei­en von den Kri­ti­kern nie­mals in­fra­ge ge­stellt wor­den; Dro­hun­gen und per­sön­li­che An­grif­fe sei­en un­ter­blie­ben. Ein Ka­pi­tel, wie die Krän­kun­gen von de­nen zu ver­kraf­ten sind, die Stren­gers Auf­klä­rungs­idea­le nicht ver­fech­ten und was zu tun ist, wenn aus Krän­kun­gen Dro­hun­gen oder gar Ak­tio­nen wer­den, sucht man lei­der ver­ge­bens.

Die Zeu­gen für Stren­gers Vor­ge­hen sind ge­wich­tig, wenn auch ein­sei­tig. Da das Ide­al der sä­ku­la­re Li­be­ra­lis­mus ist, neigt er in der Re­li­gi­ons­kri­tik ziem­lich stark Daw­kins und Hit­chens zu. In der po­li­ti­schen Öko­no­mie die­nen ihm Krug­man und Stig­litz als Vor­bil­der, was ein we­nig über­rascht. Phi­lo­so­phisch wer­den Au­toren wie Pas­cal Bruck­ner, An­dré Glucks­mann und Ber­nard-Hen­ry Lé­vy zi­tiert, oh­ne frei­lich de­ren zum Teil dra­sti­sche Spra­che zu über­neh­men. Sorg­fäl­tig ver­mei­det Stren­ger Be­grif­fe wie »Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus« und »Par­al­lel­ge­sell­schaft«. Um die Fra­ge des au­ßen­po­li­ti­schen In­ter­ven­tio­nis­mus, den die Ver­tre­ter der »Nou­vel­le Phi­lo­so­phie« ger­ne ver­fech­ten, in­dem sie Auf­klä­rung, De­mo­kra­tie und »zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung« not­falls mit mi­li­tä­ri­scher Ge­walt in an­de­re Staa­ten ex­por­tie­ren möch­ten, drückt sich Stren­ger eben­falls. Da­mit bleibt sein Es­say ein wohl­for­mu­lier­tes Be­kennt­nis, dass sich je­doch be­dau­er­li­cher­wei­se nicht mit den Nie­de­run­gen der Exe­ku­ti­ve ab­gibt.

Stren­ger lebt in Is­ra­el, lehrt an der Uni­ver­si­tät in Tel Aviv und forscht über Ter­ro­ris­mus. Da wä­re es sehr in­ter­es­sant ge­we­sen, wel­che Lö­sungs­mög­lich­kei­ten er für die­je­ni­gen Min­der­hei­ten in west­li­chen Ge­sell­schaf­ten vor­schlägt, die sich den Idea­len der De­mo­kra­tie und Auf­klä­rung nicht nur wi­der­set­zen, son­dern sie auch ak­tiv und zum Teil mit Ge­walt aus­lö­schen wol­len. Das Spek­trum die­ser mi­li­tan­ten Auf­klä­rungs­ver­wei­ge­rer ist üb­ri­gens grö­ßer als ge­dacht. Es um­fasst nicht nur den sa­la­fi­sti­schen Pre­di­ger in Dins­la­ken, Lon­don oder Kai­ro oder die evan­ge­li­ka­len Ab­trei­bungs­geg­ner in den USA, son­dern auch den Neo-Na­zi aus Dort­mund und die links­au­to­no­me Sze­ne in Ham­burg.

Als das Buch schon fast zu En­de ist, lie­fert Stren­ger noch ei­ne prä­zi­se Ana­ly­se der wich­tig­sten Ge­fahr für die west­li­chen Ge­sell­schaf­ten. Im Re­kurs auf Nietz­sche ent­wirft er den zeit­ge­nös­si­schen »Letz­ten Men­schen«, der nur noch da­mit be­schäf­tigt sei, »Ri­si­ken so weit wie mög­lich zu mi­ni­mie­ren, bis auch Ex­trem­sport ver­si­che­rungs­tech­nisch ab­ge­deckt ist.« Die neue­sten tech­ni­schen Er­run­gen­schaf­ten, ein Abo für das Fit­ness-Stu­dio, ein halb­wegs kom­for­ta­bles Le­ben – das ge­nü­ge schon. »Der Letz­te Mensch möch­te nur noch in Ru­he ge­las­sen wer­den, da­mit er sich auf Kar­rie­re, Fa­mi­lie und Hob­bies kon­zen­trie­ren kann.« Po­li­tik wird de­le­giert, als »Ma­nage­ment« be­trach­tet. Der »apa­thi­sche Letz­te Mensch« ist da­durch aber an­fäl­lig für fal­sche Ver­spre­chun­gen und to­ta­li­tä­re Po­li­tik­ent­wür­fe, so­fern sie sein Be­dürf­nis nach Ru­he, Si­cher­heit und Sta­tus quo be­die­nen. So könn­te man er­klä­ren, dass die ge­ne­ral­stabs­mä­ssi­gen Be­spit­ze­lun­gen durch Ge­heim­dien­ste und/oder mul­ti­na­tio­na­le Kon­zer­ne bil­li­gend und oh­ne gro­ßes Mur­ren in Kauf ge­nom­men wer­den. In der Frei­heit, die Stren­ger so em­pha­tisch ver­fech­tet, steckt nur dann ei­ne »sinn­stif­ten­de Lei­den­schaft«, wenn sie end­gül­tig ver­lo­ren ge­gan­gen ist, so der Au­tor. An­son­sten wird sie als all­zu selbst­ver­ständ­lich ge­nom­men; ih­re Ein­schrän­kun­gen und Be­dro­hun­gen be­merkt man wo­mög­lich erst zu spät.

Stren­gers Idee der »zi­vi­li­sier­ten Ver­ach­tung« könn­te man auch als »wehr­haf­te De­mo­kra­tie« be­zeich­nen. So­fort wird dann der Fo­kus von der be­que­men, aka­de­mi­schen Be­trach­tung auf die all­täg­li­che Pra­xis ge­lenkt. Denn ei­ne »wehr­haf­te De­mo­kra­tie« de­fi­niert nicht nur ih­re Wer­te, son­dern setzt ei­ge­ne, ge­sell­schaft­li­che Stan­dards, bei­spiels­wei­se auch in der Mi­gra­ti­ons- und Ein­wan­de­rungs­po­li­tik. Eben um die­se The­men nicht po­li­tisch ra­di­ka­len Grup­pie­run­gen zu über­las­sen. Die »zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung« Stren­gers, beim Wort ge­nom­men, wä­re eben kein Wohl­fühl-Pa­ra­dies­gar­ten, son­dern ein Ge­bil­de, in dem es ver­bind­li­che Wer­te und Re­geln für Al­le gibt. Wel­che Kon­se­quen­zen dies be­deu­ten könn­te – auch hier­über hät­te man ger­ne et­was er­fah­ren.

48 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Mit ei­ner Ver­tei­di­gung der Auf­klä­rung ist es nicht ge­tan; all die Dis­kus­sio­nen über die Mo­der­ne und das Ver­wer­fen der­sel­ben bzw. de­ren Er­run­gen­schaf­ten, ha­ben doch ge­zeigt, dass es ei­ner Kor­rek­tur, ei­nem Ein­ge­denk­wer­den, ei­ner Wei­ter­ent­wick­lung be­darf (so­fern man dem Ver­wer­fen wi­der­spricht): Ei­ne mo­der­ne, hoch­dif­fe­ren­zier­te Ge­sell­schaft ver­ein­zelt au­to­ma­tisch, weil die Zu­sam­men­hän­ge und Kon­se­quen­zen der täg­li­chen Hand­lun­gen im Dunk­len blei­ben; die Auf­lö­sung tra­di­tio­nel­ler Bin­dun­gen (Fa­mi­lie, Re­li­gi­on, Na­ti­on) und die Mög­lich­keit in ei­ner Ge­sell­schaft auch bloß für sich le­ben zu kön­nen, die Be­sin­nung auf das In­di­vi­du­um hin, die Ver­wis­sen­schaft­li­chung, die Tech­ni­sie­rung, die Öko­no­mi­sie­rung, usf., das ist al­les Mo­der­ne und der apa­thi­sche Mensch wohl auch. Die zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung ist schön und gut (ja: ein kind­li­ches Ge­müt mag für Gott emp­fäng­lich sein, aber es bleibt das eben auch al­lem an­de­ren ge­gen­über; man muss Un­sinn Un­sinn nen­nen dür­fen und Un­glei­ches un­gleich ...); den­noch scheint un­se­re Mo­der­ne aus dem Ru­der zu lau­fen oder sa­gen wir, et­was flap­sig: An et­li­chen un­se­rer mensch­li­chen »Be­dürf­nis­se« ein­fach vor­bei. Das müss­te man zur sel­ben Zeit in den Blick be­kom­men.

  2. Was Car­lo Stren­gers Po­si­ti­on aus mei­ner Sicht in­ter­es­sant macht, ist nicht die blan­ke Ver­tei­di­gung der Auf­klä­rung ge­gen »Post­mo­der­ne« und »Ex­tre­mis­mus«. Sol­che Po­si­tio­nen sind nicht neu und auch nicht be­son­ders auf­re­gend. Oft ver­ges­sen ih­re Ver­tre­te­rIn­nen auch, ih­re Geg­ner ge­nau­er zu un­ter­su­chen. Stren­ger hin­ge­gen fragt im­mer­hin die Fra­ge, was die li­be­ra­le Lin­ke ei­gent­lich in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­lo­ren hat, das sie ver­tei­di­gen könn­te – und war­um. Zwar fin­de ich sei­ne Ant­wor­ten nicht im­mer aus­rei­chend (aus lin­ker Sicht auch: https://kimberra.wordpress.com/2015/05/12/uber-linke-moglichkeiten-i-carlo-strenger ), aber sei­ne Dia­gno­se ei­ner tie­fen Ver­un­si­che­rung der Lin­ke nach und durch den zwei­ten Welt­krieg (den Ho­lo­caust) und die ko­lo­nia­li­sti­schen Ver­wü­stun­gen regt zum Nach­den­ken an.

    Ob sich po­li­ti­sche und mo­ra­li­sche Fra­gen stets wie »Sach­fra­gen« be­han­deln las­sen, wa­ge ich zu be­zwei­feln. Aber die Fra­ge, wo­für ste­he ich mo­ra­lisch und po­li­tisch ei­gent­lich ein und ge­ra­de, ge­winnt in Pha­sen von sich ver­stärkt ge­walt­sam zei­gen­der Xe­no­pho­bie er­heb­lich an Ge­wicht. Wer wagt, das heu­te noch ein­deu­tig zu be­ant­wor­ten?

  3. @metepsilonema
    Stren­ger scheint das aus-dem-Ru­der-lau­fen ja auch zu be­mer­ken und setzt da­ge­gen ei­ne sehr tra­di­tio­nel­le, fast sä­ku­lar-pro­te­stan­ti­sche Ethik der Ver­nunft gar­niert mit ei­ner Re­de von der Fas­zi­na­ti­on der Frei­heit. Von Fer­ne er­in­nert das an den Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus von Ha­ber­mas. Stren­ger kon­ze­diert da­bei durch­aus, dass das nicht be­son­ders at­trak­tiv und strah­lend ist, weil frei­heit­li­che Wer­te in­zwi­schen als selbst­ver­ständ­lich gel­ten. Das »frie­ren­de Sta­chel­tier« (Scho­pen­hau­er), der Mensch, bleibt un­be­haust. Das in­di­vi­dua­li­sti­sche Le­ben bleibt kom­pli­ziert, stif­tet per se aber kei­ne Iden­ti­tät. (Viel­leicht er­klä­ren sich hier­durch die Er­fol­ge der so­zia­len Netz­wer­ke, die Iden­ti­tä­ten wie­der neu be­grün­den, in dem kurz­zei­ti­ge Ge­sin­nungs­ge­mein­schaf­ten [Hash­tags] ent­ste­hen.)

    @Kim Ber­ra
    Sten­gers Ver­un­si­che­r­un­ge­theo­rem was die po­li­ti­sche Lin­ke an­geht, tei­le ich. Aber es wird ja durch sei­ne »zi­vi­li­sier­te Ver­ach­tung« nicht bes­ser. Und am En­de müs­sen sich po­li­ti­sche Fra­gen als »Sach­fra­gen« auch be­ant­wor­ten las­sen, sonst blei­ben sie nur Wort­ge­klin­gel für Sonn­tags­re­den.

  4. @Gregor
    Der Mensch bleibt un­be­haust; aber zu­min­dest die Un­si­cher­heit über (s)eine Be­hau­sung ist doch – so­zu­sa­gen – ur­mo­dern (wie­der na­iv zu wer­den, ist auch kei­ne Lö­sung). — Die Sa­che mit der Frei­heit ist nicht, ob sie strah­lend, at­trak­tiv oder selbst­ver­ständ­lich ist; Frei­heit al­lei­ne ge­nügt nicht, schon des­halb, weil wir an­de­re Re­fe­ren­zen (Wer­te) be­nö­ti­gen um Frei­heits­kon­flik­te lö­sen zu kön­nen. — Die mei­sten Men­schen sind wohl so­zi­al ver­an­lagt, mehr oder we­ni­ger stark, d.h. Freund­schaf­ten, u.ä., spie­len ei­newich­ti­ge Rol­le; dass so­zia­le Netz­wer­ke nun sol­che Funk­tio­nen über­neh­men oder zu über­neh­men schei­nen, deu­tet viel­leicht auf das Pro­blem: Ei­ne Ver­schlan­kung von Struk­tu­ren, ein We­ni­ger an Mög­lich­kei­ten (da­mit an Be­gehr­lich­kei­ten und Stress), Ru­he um sich dem wid­men zu kön­nen, was wich­tig ist, usf. (das wä­re zu­min­dest ein Aspekt).

  5. Na­ja, es gibt den Spruch, dass Frei­heit nicht Al­les ist aber oh­ne Frei­heit sei Al­les Nichts. Die Ten­denz geht da­zu, Si­cher­heit und Sta­tus quo über frei­heit­li­che Grund­sät­ze zu stel­len. Die Uni­ver­sal­über­wa­chung der Te­le­kom­mu­ni­ka­ti­on durch Ge­heim­dien­ste oder die im­mer ri­gi­der wer­den­den Ge­sin­nungs­ur­tei­le im öf­fent­li­chen Dis­kurs, die die­sen im­mer mehr im Main­stream ver­sin­ken las­sen schrän­ken das, was man »Frei­heit« nen­nen kann, schon ein.

    Stren­gers Dia­gno­se bringt das Pro­blem auf dem Punkt: Die Lin­ke übt sich in Wer­te­re­la­ti­vis­mus, der zum Teil ab­sur­de Zü­ge be­kommt. Rech­te und kon­ser­va­ti­ve Kräf­te da­ge­gen set­zen auf law-and-or­der und na­tio­na­li­sti­sche Lö­sun­gen (Tei­le der Lin­ken ge­hen hier was die EU an­geht d’­ac­cord). Die Lin­ke glaubt an ein span­nungs­frei­es (mul­ti­kul­tu­rel­les) Le­ben, das mög­lichst we­nig Bin­dungs­kräf­te an das Ge­mein­we­sen be­deu­tet. Kon­ser­va­ti­ve und Rech­te wol­len die Bin­dungs­kräf­te wie­der er­hö­hen, aber nicht in dem sie ein Ge­mein­we­sen kon­sti­tu­ie­ren, son­dern in dem sie meist aus­gren­zen. Bei­de La­ger schwä­chen – so die The­se – die frei­heit­li­chen Wer­te. In­zwi­schen sind die Gren­zen zwi­schen links und rechts durch­aus flie­ßend (Aus­nah­me: Xe­no­pho­bie). Bei­den ist ge­mein, dass ih­re To­le­ranz dem je­weils An­ders­den­ken­den im­mer mehr gen Null ten­diert. Ge­mä­ssig­te Kräf­te spie­len im­mer we­ni­ger ei­ne Rol­le, weil vie­le The­men längst ideo­lo­gi­siert sind. Grund­le­gen­de po­li­ti­sche Fel­der wie Europa‑, Flücht­lings- und Fi­nanz­po­li­tik wer­den nicht dis­ku­tiert, son­dern al­len­falls noch de­kre­tiert.

    Ver­schlan­kung von Struk­tu­ren und ein We­ni­ger an Mög­lich­kei­ten klingt gut, wird aber durch das ka­pi­ta­li­sti­sche Sy­stem per se als »Sta­gna­ti­on« be­trach­tet und ver­wor­fen. Wenn ein Ho­tel am Früh­stücks­buf­fet nicht min­de­stens zehn ver­schie­de­ne Sor­ten Mar­me­la­de an­bie­tet, muss es mit Mi­nus­punk­ten bei den Be­wer­tun­gen rech­nen.

  6. High-Brow-Li­be­ra­lis­mus vom fein­sten. Die­se Art Hel­den­tum, wel­che nur die hoch­flie­gen­den Vo­ka­beln der Gei­stes­ge­schich­te als ihr gei­sti­ges Rüst­zeug an­sieht, ist frei­lich nicht dem Han­deln zu­al­ler­vor­derst zu­ge­tan. Ei­gent­lich geht es nur um die »be­wuss­te Ver­ar­bei­tung«. Da war der Welt zu viel, be­vor der »Den­ker« an­hob... Aus­ge­rech­net Tel Aviv. Nicht der be­ste Ort, um sich Grund­sätz­li­ches vor­zu­le­gen.
    Mei­ner Brain-Ent­wick­lung zu­fol­ge kann ich sa­gen: den Li­be­ra­lis­mus ha­be ich »zu­letzt« ver­stan­den, ob­wohl er ei­gent­lich am ein­fach­sten ist. Zu­vor muss man wis­sen, wo LINKS und RECHTS ist. Die drit­te Ecke im po­li­ti­schen Ring ist ei­gent­lich nur der Ver­such, Ele­men­te der klas­si­schen Bil­dung und ein paar Be­grif­fe (so hohl wie al­te Zäh­ne) auf ei­nen ge­mein­sa­men Nen­ner zu brin­gen. Dass Stren­ger sei­nen Hoch­mut (un­ser al­ler Hoch­mut) gleich zum Pro­gramm er­klärt, ge­fällt mir. Das ist ehr­lich, und ehr­lich ist gut.

  7. Stren­gers Hoch­mut ist ein aka­de­mi­scher. Wun­der­bar für Club­aben­de, Steh­par­tys und Talk­shows. Die Pra­xis sieht dann an­ders aus, aber es ist ver­mut­lich ver­pönt, dies zu ar­ti­ku­lie­ren.

  8. @Gregor
    Ich stim­me Dei­nem er­sten Ab­satz un­ein­ge­schränkt zu; al­ler­dings wird sel­ten be­rück­sich­tigt, dass Frei­heit auch ei­ne Zu­mu­tung dar­stellt: Der, der frei ist, ist un­be­haust, al­lei­ne, ein­sam, auf sich selbst zu­rück­ge­wor­fen, ge­ra­de nicht auf­ge­ho­ben, wo­mög­lich ge­gen sei­nen Wil­len; wir sind zwar nicht beim Wirt­schafts­li­be­ra­lis­mus, aber dort ist es be­son­ders auf­fäl­lig: Der wird im­mer von den­je­ni­gen ge­for­dert, die öko­no­misch po­tent sind, die Vor­tei­le dar­aus zie­hen, die mehr Frei­heit leich­ter »er­tra­gen«. — Ein gu­ter Teil des Wi­der­stands ge­gen die mo­der­nen (und spät- oder post­mo­der­nen) Ge­sell­schaf­ten kommt von dort (von den Zu­mu­tun­gen frei zu sein).

    Auch beim zwei­ten Ab­satz weit­ge­hen­de Über­ein­stim­mung: Ich se­he den Li­be­ra­lis­mus al­ler­dings we­ni­ger als drit­te po­li­ti­sche Kraft oder Mög­lich­keit, son­dern sich ein­mal mehr nach rechts oder links nei­gend; der Frei­heits­be­griff kann in­di­vi­du­el­len Ego­is­mus eben­so recht­fer­ti­gen, wie ei­nen star­ken (Sozial)staat.

  9. Ich sei, ge­währt mir die Bit­te, in eu­rem Bun­de der Drit­te! –
    Ich war mir auch lan­ge nicht si­cher: Hy­brid-Pflan­ze oder ei­ge­ne Spe­zi­es des Po­li­ti­schen?! Zu­mal ei­nem die­ses Ge­wächs ja so über­flüs­sig vor­kommt wie ein Kropf. Ver­tei­digt als laut­star­ke Nach­hut Frei­hei­ten, die schon er­kämpft sind. Schon ein biss­chen nar­ziss­tisch, oder?!
    Was man je­doch nicht über­se­hen soll­te: je­de po­li­ti­sche Frak­ti­on, auch die­se hat ein per­si­sten­tes WIR. Die Fra­ge, ob es sich um ei­ne »Min­der­heit« oder ein »Kol­lek­tiv« han­delt, ist da­bei ent­schei­dend. Die Li­be­ra­len be­haup­ten trotz mi­se­ra­bler Um­fra­ge­wer­te tat­säch­lich so et­was wie ein »ma­jo­ri­tä­res Wir«. Es mag ei­nem ver­blen­det vor­kom­men, aber al­lein schon die Per­for­mance zählt. So­lan­ge sie das hin­krie­gen, sind sie als »drit­te Kraft« an­zu­er­ken­nen.

  10. @die_kalte_sophie
    Die Frei­hei­ten, die er­kämpft sind, sieht Stren­ger in Ge­fahr. Die­se Dia­gno­se tei­le ich. Sie sind näm­lich kei­ne sta­ti­schen Ge­bil­de, die man in den Vor­gar­ten stellt und dann ih­re Au­ra un­wi­der­bring­lich ver­brei­ten. Er sieht sie als amor­phe, fra­gi­le Kon­struk­te. Viel­leicht et­was ver­knappt zu­sam­men­ge­fasst sieht Stren­ger die­se Ge­fahr durch ei­nen »Li­be­ra­lis­mus« (um die­sen Be­griff zu ver­wen­den – Stren­ger macht das nicht), der mit ei­nem post­mo­der­nen »anything goes« ver­wech­selt wur­de bzw. wird.

    In der Öko­no­mie hat sich das markt- und wirt­schafts­li­be­ra­le Den­ken längst durch­ge­setzt. Im­mer noch hält sich die Fa­ma, dass, wenn es der Wirt­schaft gut geht, dann auch an­de­ren gut­ge­hen muss.

  11. Gut, ich über­trei­be. In Wahr­heit ist es doch für al­le schwie­rig, Frei­hei­ten zu ver­tei­di­gen, die sich haupt­säch­lich auf an­de­re be­zie­hen. Mit dem Hin­weis auf die Wirt­schaft lie­gen Sie rich­tig. Der bil­dungs­fer­ne- und erb­schafts­freie Mensch hat nicht all­zu Ent­fal­tungs-Po­ten­zi­al von der ge­ge­be­nen Welt­wirt­schaft zu er­war­ten. Aber auch die po­li­ti­sche Teil­ha­be ver­mag sei­ne An­pas­sungs-Lei­stun­gen nicht zu kom­pen­sie­ren. Mit der Frei­heit sind (au­ßer den Grund­rech­ten) sog. Ent­fal­tungs-Räu­me an­ge­spro­chen, wie mir scheint. Und da hat die west­li­che Zi­vi­li­sa­ti­on nicht so viel an­zu­bie­ten, wie sie es ger­ne hät­te. Es gibt wohl ei­ne ty­pisch west­li­che Zwick­müh­le zwi­schen Le­gi­ti­ma­ti­ons-Be­darf und idea­li­sti­scher Fah­nen­fäl­sche­rei. Und da se­he ich na­tür­lich den Li­be­ra­lis­mus (schon auf­grund sei­nes Hin­ter­grund-Mi­lieus) als sehr hoch­fah­rend an. Stren­gers Va­ter war wohl kein Ar­bei­ter?! Mei­ner schon.

  12. @Gregor
    An­ders und pro­vo­kan­ter for­mu­liert: Zu viel (oder fal­sche) To­le­ranz bringt die Frei­heit in Ge­fahr. — Aber wür­de das nicht so­fort wie­der den­je­ni­gen in die Hän­de spie­len, de­nen Stren­ger nicht in die Hän­de spie­len will?

  13. Da­her der Kniff mit »zi­vi­li­sier­ter« Ver­ach­tung. Nur: Ich kann De­mo­kra­tie­fein­de »zi­vi­li­siert« ver­ach­ten, aber es wird sie nicht von ih­rem Tun ab­hal­ten. Stren­ger hat den Spa­gat zwi­schen »Law-and-Or­der-Po­li­tik« und über­mä­ssig ver­ständ­nis­vol­ler To­le­ranz theo­re­tisch ge­mei­stert. Aber er schei­tert an ei­ner Aus­for­mu­lie­rung in der Pra­xis. (Er er­wägt das erst gar nicht.)

  14. Dann sind »De­mo­kra­tie« und »Zi­vi­li­sa­ti­on« prak­tisch Syn­ony­me, wo­bei man in der po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung im­mer ein Stück weit den Frie­den und die Ein­tracht ris­kiert?!
    Es macht je­den­falls ei­nen sehr gro­ßen Un­ter­schied, ob man die Aus­ein­an­der­set­zung theo­re­tisch oder »in echt« durch­führt. In ei­ner Frie­dens­schrift (oder Ver­tei­di­gungs­schrift) ist noch je­der zu dem Er­geb­nis ge­langt, das er fa­vou­ri­siert. Der Nach­teil ist, dass die­se »Theo­rie-Er­fol­ge« auf se­lek­ti­ven Wahr­neh­mun­gen be­ru­hen. Da­mit op­fert man den de­skrip­ti­ven Mehr­wert. Die Schein-Welt tri­um­phiert, oh­ne die Pra­xis.

  15. Letzt­end­lich wird man Geg­ner der De­mo­kra­tie kaum (nicht) durch Ar­gu­men­te »über­zeu­gen« kön­nen, weil sie ge­ra­de die­se Form der Aus­ein­an­der­set­zung ab­leh­nen (mei­stens zu­min­dest).

    Ent­springt die dia­gno­sti­zier­te Ge­fahr viel­leicht ei­nem Man­gel an Selbst­ver­trau­en? Nennt Stren­ger ei­gent­lich kon­kre­te Bei­spie­le (z.B. Wel­che Frei­hei­ten sind be­son­ders be­droht?)?

  16. Stren­ger spe­zi­fi­ziert nicht de­zi­diert ein­zel­nen Frei­hei­ten. Er be­fürch­tet, dass die »Ver­tei­di­gung« der Freiheit(en) von den fal­schen Prot­ago­ni­sten pro­pa­giert und in­stru­men­ta­li­siert wird. Er be­nutzt hier­zu den gän­gi­gen Be­griff des »Po­pu­lis­mus« (bzw.: »Rechts­po­pu­lis­mus«), wo­mög­lich, weil er kei­nen bes­se­ren fin­den woll­te. Ich ste­he die­sem Be­griff skep­tisch ge­gen­über, weil De­mo­kra­tien per se auf »Po­pu­lis­mus« ba­sie­ren, d. h. po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen müs­sen »po­pu­lär« ver­mit­telt wer­den, da­mit man über sie ent­schei­den kann. »Po­pu­lis­mus« ist längst zum Tot­schlä­ger ge­wor­den, wenn man es sich in in­tel­lek­tu­el­len Denk­re­fu­gi­en erst ein­mal ge­müt­lich ge­macht hat.

  17. Ei­ne gu­te Ar­gu­men­ta­ti­on kann auf den Be­griff ver­zich­ten (oder ihn ma­xi­mal am En­de an­füh­ren; ab­ge­se­hen da­von agie­ren al­le Par­tei­en po­pu­li­stisch [im er­ste­ren Sinn]).

    Trotz al­lem muss man die be­droh­ten Frei­hei­ten (ir­gend­wann ein­mal) kon­kret be­nen­nen, sonst be­kommt ei­ne sol­che Dis­kus­si­on rasch et­was »Gei­ster­haf­tes« (dass pas­siert vor al­lem beim Frei­heits­be­griff, der sehr in­ter­pre­ta­ti­ons­be­dürf­tig ist).

  18. Die CDU-Ab­ge­ord­ne­te Ju­lia Klöck­ner be­such­te neu­lich ein Flücht­lings­la­ger. Dort küm­mert sich auch ei­ne mus­li­mi­sche Ge­mein­de mit ei­nem Imam an der Spit­ze um mus­li­mi­sche Flücht­lin­ge. Sie woll­te die­sen tref­fen. Der ließ je­doch aus­rich­ten, ihr mit Hin­weis auf sei­ne re­li­giö­se Auf­fas­sung den Hand­schlag zu ver­wei­gern. Da stellt sich m. E. nicht die Fra­ge, ob die Re­li­gi­ons­frei­heit die­ses Ver­hal­ten le­gi­ti­miert. Es geht dar­um, ob so et­was durch To­le­ranz­ge­bo­te ge­deckt ist oder nicht. Hier­über fand ich auf Face­book ei­nen lan­gen Text, der nach al­len Re­geln der Dia­lek­tik agier­te. Er kam zu dem Schluss, dass ein sol­ches Ver­hal­ten nicht ak­zep­ta­bel ist. Es mu­tet jetzt ein biss­chen merk­wür­dig an, aber die­sen Schluss kann man auch kür­zer ha­ben (oh­ne, dass das in ei­nen »kur­zen Pro­zess« mün­den muss). Je­de in­tel­lek­tu­ell viel­leicht in­ter­es­san­te Aus­for­mu­lie­rung ei­nes Für und Wi­der blen­det aus: Hier wer­den ele­men­ta­re Er­run­gen­schaf­ten un­se­rer Ge­sell­schafts­ord­nung ver­letzt. Man muss nun – nach Stren­ger – dem Ver­hal­ten des Imam mit zi­vi­li­sier­ter Ver­ach­tung be­geg­nen. Aber was be­deu­tet das kon­kret? Kann man ihn so­zu­sa­gen zwin­gen, Frau Klöck­ner die Hand zu ge­ben? Kann man ihn be­lan­gen, wenn er es nicht macht? In­ter­es­sant auch: War­um hat Klöck­ner nicht trotz­dem die Be­geg­nung ge­sucht und das Ver­hal­ten so­mit öf­fent­lich als Bild do­ku­men­tiert? Ge­schieht dies wo­mög­lich aus Grün­den des so­ge­nann­ten »so­zia­len Frie­dens«?

  19. zu #19: Al­so, da ver­sagt ja wohl vor al­lem der Ver­stand bei den Dia­lek­ti­kern . Der Hand­schlag darf na­tür­lich »ver­wei­gert« wer­den von ei­nem Geist­li­chen. Das ist ja nun wirk­lich das Ge­gen­teil von ei­ner »Ab­leh­nung«. Das ist ei­ne Stan­des­re­gel. Um­sich­ti­ger­wei­se wur­de das im Vor­feld der Be­geg­nung mit­ge­teilt. Al­so, wer ist da un­zi­vi­li­siert?! Wenn Frau Klöck­ner da­mit nicht fer­tig wird, stün­de sie in Sa­chen Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät so ziem­lich am An­fang. Glaub ich aber nicht, dass sie des­halb das Tref­fen ab­ge­sagt hat. Klingt un­wahr­schein­lich.
    Die Dia­lek­tik ist auch nicht mehr das, was sie mal war...

  20. Der Hand­schlag wur­de ja aus re­li­giö­sen Er­wä­gun­gen ver­wei­gert. Die Frau sei lt. Ko­ran »un­rein«. Das zu ak­zep­tie­ren hat mit Mul­ti­kul­tu­ra­li­tät nichts zu tun. Das ist ja der Blöd­sinn der To­le­ranz­ro­man­ti­ker. Den Hand­schlag kann er na­tür­lich ver­wei­gern. Aber es muss – in D – ei­ne Kon­se­quenz ha­ben. (Wie die Sa­che in Sau­di-Ara­bi­en oder sonst­wo aus­sieht, ist dort zu klä­ren.)

  21. Sor­ry, aber ich bin kein To­le­ranz­ro­man­ti­ker. Es geht nur mit Ge­nau­ig­keit. Die Ver­wei­ge­rung stellt kei­ne Be­wer­tung dar, und der Code da­für (»un­rein«) kann so ei­ni­ges be­deu­ten. »Stinkt«, »Gif­tig«, »Ge­fähr­lich«, »Tö­richt«, »Ver­wir­rend«, etc.
    Ist nicht po­si­tiv, stimmt. Im we­sent­li­chen aber nur die »Be­schrei­bung« der Re­gel über das Hän­de-Rei­chen. Dar­aus macht der Abend­län­der na­tür­lich ei­ne ganz gro­ße Sa­che: ewi­ge At­tri­bu­te, un­wie­der­bring­lich be­schä­dig­te Ka­te­go­rien, lo­go­zen­tri­sches Sein wich­ti­ger als Kon­ven­tio­nen, etc.– Tut mir leid, wenn ich schlecht über das Abend­land re­den muss, aber bei die­ser An­ek­do­te wird wie­der mal die kom­plet­te Ir­ra­tio­na­li­tät die­ser For­ma­ti­on sicht­bar. Ganz wie wir es ken­nen.

  22. Ver­such­te der Imam nicht nur zwei kon­kur­rie­ren­den An­sprü­chen, de­nen er aus­ge­setzt ist, ge­schickt Rech­nung zu tra­gen? In dem er Klöck­ner vor dem Ter­min mit­teilt, dass es hier ein Pro­blem ge­ben wird, gibt sich und ihr die Mög­lich­keit, das Ge­sicht zu wah­ren, oh­ne das Klöck­ner sich mit dümm­li­chen An­ti-Is­la­mis­mus ge­mein ma­chen muss. Sie konn­te der Ge­mein­de durch ih­ren Be­suchs­wunsch de­mon­strie­ren, dass sie de­ren Ar­beit wert­schätzt – und gut war. Ich fin­de, dass ist un­ter Maß­ga­be un­se­rer Art der Mo­der­ne, die es ja eben auch er­mög­licht, stren­ge re­li­giö­se Le­bens­for­men pfle­gen zu kön­nen, ziem­lich gut ge­löst wor­den. Was hät­te den sonst die Sank­ti­on sein sol­len? Den Imam und sei­ne Ge­mein­de durch die Drecks­blät­ter der Re­pu­blik zu zer­ren? So­was trägt ganz si­cher nicht zur Locke­rung ri­gi­der re­li­giö­ser Vor­schrif­ten bei und macht es den Leu­ten, die ih­re Ge­mein­den re­for­mie­ren wol­len, nur schwe­rer.
    Or­tho­do­xe Rab­bi­ner so­wie Prie­ster christ­lich-or­tho­do­xer Ob­ser­vanz dür­fen Frau­en üb­ri­gens auch nicht die Hand ge­ben. In der Zeit von Za­rin­nen lö­ste man das Pro­blem, in dem es kei­ne Za­rin­nen gab: Ka­tha­ri­na die Gr. war des­we­gen ze­re­mo­ni­ell ein Mann. Ein smar­te An­wen­dung der Gen­der Theo­rie avant la lett­re.

  23. Und was zur Höl­le meinst Du mit »Kon­se­quen­zen«?! Willst Du Krieg, oder ei­ne neue Ord­nungs­wid­rig­keit ein­füh­ren?! Recht viel mehr Kon­se­quen­zen fal­len mir auf die Schnel­le nicht ein...

  24. Die Hand­schlag­ver­wei­ge­rung ist – so­fern sie nicht krank­haft be­dingt ist (Kon­takt­phobie) – ge­sell­schaft­lich ein Be­leg für Miss­ach­tung ad per­so­nam. Das ist kei­ne »ganz gro­ße Sa­che«, das ist der all­ge­mei­ne ge­sell­schaft­li­che Um­gang. Wer aus Grün­den des Ge­ring­schät­zung von min­de­stens 50% der Be­völ­ke­rung die­ser das ele­men­ta­re Grund­recht der Per­son ab­spricht, soll­te sei­nen Auf­ent­halts­ort über­prü­fen. Ich ste­he ja nicht auf dem Stand­punkt wie Bro­der, dass man in Sau­di-Ara­bi­en als Frau im Bi­ki­ni her­um­lau­fen muss, da­mit man die­ses Land als zi­vi­li­siert an­er­kennt. Aber da macht es eben ei­nen Un­ter­schied.

    Die­ses Bei­spiel zeigt m. E. sehr schön, wor­auf die Pro­ble­ma­tik bei Stren­ger zielt – und wo­für er kei­ne Lö­sung hat. Das Ap­pease­ment – dem Iman ei­ne ge­wis­se Klug­heit zu un­ter­stel­len – ist ex­akt das, was Stren­ger ab­lehnt. Und nur weil es »Drecks­blät­ter« gibt, die das in­stru­men­ta­li­sie­ren, kann man sol­che Vor­gän­ge nicht tot­schwei­gen. Da­mit er­reicht man lang­fri­stig ex­akt das Ge­gen­teil.

    Zu den »Kon­se­quen­zen«: Wenn man in Deutsch­land Be­rufs­ver­bo­te für ras­si­sti­sche Äu­ße­run­gen be­kom­men kann, dann kann man auch Lehr-bzw. Auf­tritts­ver­bo­te für sol­che Ima­me er­wir­ken.

  25. Un­se­re (Dok­tor D und moi) Ein­wän­de schei­nen Stren­ger ein Feh­ler zu sein, re­ka­pi­tu­lie­re ich das rich­tig?! Man soll­te den Fein­den des Li­be­ra­lis­mus kei­ne ed­len Mo­ti­ve un­ter­stel­len... GENAU DAMIT RECHNEN SIE JA
    Spaß bei­sei­te: das ist ein Teu­fels­kreis, ist Dir das klar?! Wenn ich kei­ne gu­ten Ab­sich­ten mehr un­ter­stel­le, wird dar­aus sehr schnell ein selbst-ver­stär­kend feind­se­li­ges Ver­hält­nis. Ich ra­te drin­gend, Stren­ger als »ethi­schen Rat­ge­ber« skep­tisch zu be­ur­tei­len. Das ist ei­ne po­li­ti­sche Schrift li­be­ra­ler Pro­ve­ni­enz, und nicht der Weis­heit letz­ter Schluss. –Schließ­lich ist die »Kunst der Ver­ach­tung« ja nicht je­der­manns Sa­che. Kommt eh nur für Aka­de­mi­ker in Be­tracht. »Ganz un­ten« wird man mit ganz ge­wöhn­li­chem Hass re­agie­ren.

  26. Es gibt kei­ne »gu­ten Ab­sich­ten«, wenn mir je­mand den Hand­schlag ver­wei­gert, weil ich in des­sen Au­gen kein »rei­nes« Le­be­we­sen bin. Na­zis ha­ben üb­ri­gens Ju­den auch nicht die Hand ge­ge­ben.

    Stren­gers Sicht mag aka­de­misch sein. Die an­de­re ist aber auch – wenn sie auch zu­nächst für Ru­he sorgt. Man kann bei Hou­el­le­becq nach­le­sen, wo­hin das füh­ren könn­te.

  27. »Wenn man in Deutsch­land Be­rufs­ver­bo­te für ras­si­sti­sche Äu­ße­run­gen be­kom­men kann, dann kann man auch Lehr-bzw. Auf­tritts­ver­bo­te für sol­che Ima­me er­wir­ken.« – na­tür­lich nicht: Die Ge­mein­de, die den Imam be­zahlt, darf sich na­tür­lich selbst aus­su­chen, wenn sie an­stellt, so lan­ge sie kein Geld vom Staat be­zieht. Und selbst Kir­chen­ge­mein­den, die ja auch vom Staat zu­min­dest ver­mit­telt, ge­för­dert wer­den, kön­nen sich die re­ak­tio­när­sten Pfaf­fen als Prie­ster aus­su­chen, das ist ok laut GG. Auf­tritts­ver­bot kann es nur ge­ben, wenn der Mann zur Ge­walt oder zum Sturz der FDGO auf­rie­fe, was er aber mit sei­ner Ver­wei­ge­rung na­tür­lich nicht tut.
    An­ders sieht die Sa­che aus, wenn man im Auf­trag des Staa­tes ein Amt aus­übt, wie zum Bei­spiel als Leh­rer oder Po­li­zist. Da sind Äu­ße­run­gen, die ge­gen das Grund­ge­setz und die Rechts­ord­nung ver­sto­ßen, eben nicht ok, son­dern Ver­stö­ße ge­gen das Dienst­recht, des­sen Gül­tig­keit man bei Un­ter­schrift des Ver­trags an­er­kannt hat. Weil un­ser Staat und un­ser Rechts­we­sen ge­ra­de in die­sem Be­reich glück­li­cher­wei­se mitt­ler­wei­le sehr zu­rück­hal­tend re­agiert, ist es so­gar gar nicht so un­üb­lich auf Po­li­zi­sten zu sto­ßen, die ein fest­ge­füg­tes neo-na­zi­sti­sches Welt­bild ha­ben und das fall­wei­se auch an ei­nem aus­las­sen, de­nen aber kaum mehr als ein for­mel­les Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren oh­ne Ein­trag in die Dienst­ak­te droht. Von den Pro­fes­so­ren, die in ih­ren Ver­an­stal­tun­gen re­gel­mä­ßig se­xi­sti­sche und ras­si­sti­sche Äu­ße­run­gen zum Be­sten ge­ben oder »be­wei­sen«, dass die Ju­den ja im Prin­zip und so..., von der Uni-Ver­wal­tung aber mit Samt­hand­schu­hen an­ge­fasst wer­den, ganz zu schwei­gen.
    Man kann in Deutsch­land ge­ra­de in ex­po­nier­ten ge­sell­schaft­li­chen Po­si­tio­nen ei­ne Men­ge Un­sinn re­den und schrei­ben, oh­ne dass es ei­nen Stel­le oder gar Pen­si­on ko­sten wür­de. Man könn­te so­gar sa­gen, man­che Stel­len, zum Bei­spiel als Ko­lum­nist bei Welt, Zeit, TAZ und FAZ be­kommt man nur so.
    Wer die Wei­ge­rung des Imam recht­lich ver­fol­gen will, muss of­fen­siv pro-Ge­sin­nungs­straf­recht ar­gu­men­tie­ren und sämt­li­che Or­ga­ni­sa­tio­nen, in de­nen Frau­en, Ho­mo­se­xu­el­le oder an­de­re so­zia­le Grup­pen als nicht in der La­ge an­ge­se­hen wer­den we­gen ih­rer spe­zi­el­len on­to­lo­gi­schen Ver­fasst­heit vol­le mensch­li­che Rech­te zu tra­gen und al­le Äm­ter aus­zu­füh­ren, ver­bie­ten. Das wä­ren dann nicht nur die ka­tho­li­sche Kir­che, vie­le or­tho­do­xe jü­di­sche Ge­mein­den, be­stimm­te For­men des Is­lam, be­stimm­te For­men der grie­chisch- und rus­sisch-or­tho­do­xen Kir­che, son­dern auch zahl­lo­se Schüt­zen­ver­ein, Bur­schen­schaf­ten etc.. Au­ßer­dem müss­te man ei­ne Art In­qui­si­ti­on ein­rich­ten, die über­wacht, dass es über­all nach den Re­geln zu­geht.
    Des­we­gen ver­ste­he ich das Pro­blem nicht: Je­der kann ja über den Imam sa­gen, dass er mal lang­sam im 21. Jhdt. an­kom­men soll­te und das sein Ver­hal­ten reich­lich un­an­ge­mes­sen ist und sich mit den Idea­len, nach de­nen wir un­se­re Ge­sell­schaft for­men wol­len, nicht ver­ein­ba­ren lässt. Aber mehr geht ei­gent­lich nicht, sonst ver­las­sen wir näm­lich ziem­lich zü­gig die­se Idea­le.

  28. Ja, Stren­ger »zu En­de« den­ken, heißt: FDGO nur für die­je­ni­gen, die pas­send da­für ge­macht sind. Nicht als Deck­man­tel und Rechts­schutz für die­se gan­ze Klit­sche vor­mo­der­ner Sub­jek­te. Ra­di­kal-li­be­ral, eben. Nicht mehr nur stil­le Ver­ach­tung, son­dern ak­ti­ve Straf­ver­fol­gung ge­gen al­les Un­mo­der­ne. Das wä­re die prak­ti­sche Kon­se­quenz, die (be­wusst?!) in dem Text aus­ge­spart wird. Ei­ne ty­pi­sche Pro­gram­ma­tik, wo die Hand­lungs­wei­sen feh­len, eben weil sie ra­di­kal wä­ren... Di­stan­zie­rung des Brand­stif­ters von den ge­schicht­li­chen Fol­gen in wei­ser Vor­aus­sicht.
    P.S.: »...Idea­le zü­gig ver­las­sen« find ich ei­ne tol­le For­mu­lie­rung.

  29. @Doktor D
    Ich mein­te nicht den ur­alten Kampf der um den Ra­di­ka­len­er­lass ge­führt wur­de. Ich dach­te eher an so­was hier.

    Das Ar­gu­ment, dass wir, d. h. »der We­sten« die Idea­le ver­las­sen, in dem wir die Ne­gie­rer die­ser Idea­le be­kämp­fen, ist auch kei­nes. Wie fra­gil das ist, zeigt sich am Fall Mahler: Ent­we­der ist man für »Mei­nungs­frei­heit« oder nicht.

    Dem Imam mit ein paar gut ge­mein­ten Rat­schlä­gen zu be­geg­nen, ist an Nai­vi­tät kaum zu über­bie­ten. (Na­ja, min­de­stens ein Mann müss­te man da­für sein – von Frau­en lässt er sich ja be­stimmt nichts sa­gen.)

    @die_kalte_sophie
    Na­tür­lich gibt sich je­de Ge­sell­schaft die Le­bens­ord­nung, den Rah­men, den man für rich­tig hält. Das ist na­tür­lich ein Pro­zess, wie die eu­ro­päi­sche Ge­schich­te bspw. zeigt. Da Sie nicht an die Auf­klä­rung glau­ben (die Grün­de kann ich nach­voll­zie­hen und dar­auf geht Stren­ger m. E. viel zu we­nig ein), ver­fech­ten Sie na­tür­lich ein anything goes. Das wird aber auf lan­ge Sicht das be­stehen­de Sy­stem aus­he­beln. Das kann man na­tür­lich wol­len. Aber dann soll man es auch sa­gen.

  30. Sie woll­ten den Imam ir­gend­wie be­stra­fen – und dar­aus folgt schlicht und erf­grei­fend so­was wie der Ra­di­ka­len­er­lass. In der jet­zi­gen Ge­sell­schafts­ord­nung muss sich der Imam von mir nix sa­gen las­sen und ich mir nix von ihm. Das ist ja der Punkt der mo­der­nen li­be­ra­len Ge­sell­schaft: Ich will ja dem Imam gar nicht die Hand ge­ben, denn ich ha­be we­der vor Mit­glied sei­ner Ge­mein­de zu wer­den, noch ir­gend­wie ge­sellscaft­li­chen Um­gang mit ihm zu pfle­gen. Erst wenn die Ge­mein­de ei­nen An­trag für Geld, Steu­er­be­frei­ung oder an­de­re Un­ter­stüt­zung durch den Staat (Kom­mu­ne / Land / Bund) be­an­tragt, greift der kom­plet­te ver­fas­sungs­recht­li­che Über­bau – und die Ge­mein­de wird zu­min­dest hier in Stutt­gart kein Geld be­kom­men, wenn Frau­en ak­tiv dis­kri­mi­niert wer­den.
    Und wo wol­len Sie den Imam denn raus­wer­fen? Die Ge­mein­de fi­nan­ziert sich ja selbst und muss sich des­we­gen von nie­mand von au­ßen rein­re­den las­sen. Des­we­gen kann ja auch Por­sche den Azu­bi ent­las­sen, der sich ras­si­stisch äu­ßert. Das ist ar­beits­recht­lich ei­ne ziem­lich safe Sa­che. Ob es nicht im Sin­ne Stren­gers sinn­vol­ler ge­we­sen wä­re, dass sich der Aus­bil­dungs­lei­ter den jun­gen Mann mal zur Brust nimmt und ihn vor den si­cher­lich zahl­rei­chen Kol­le­gIn­nen mit Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund da­zu auf­for­dert, sei­ne Po­si­ti­on doch noch mal dar­zu­le­gen, dar­über wä­re zu dis­ku­tie­ren. Denn ist es ja tat­säch­lich so, dass un­se­re Art der li­be­ra­len, hoch­kom­ple­xen Ge­sell­schaft Men­schen, für die das Über­schau­en der ei­ge­nen Hand­lun­gen und ih­rer Kon­tex­te schwer ist, ten­den­zi­ell in ge­fähr­li­che Si­tua­tio­nen bringt. Was frü­her durch so­zia­len Druck und Ein­fluss aus dem Nah­feld ge­re­gelt wur­de, kann sich – wenn man in ei­nem in­ter­na­tio­nal tä­ti­gen Kon­zern ar­bei­tet, der stark auf Ex­port aus­ge­rich­tet ist, jetzt sehr schnell zu ei­ner Image­fra­ge aus­wach­sen, weil man den Mist auf So­zia­len Me­di­en raus­po­saunt, und es für Por­sche na­tür­lich viel ef­fek­ti­ver als Scha­dens­be­gren­zung ist, den jun­gen Mann zu ent­las­sen, als sich um sei­ne Ein­füh­rung in die nor­ma­len Um­gangs­for­men des christ­li­chen Abend­lands zu be­mü­hen.

  31. Nee, ich will die be­stehen­de For­ma­ti­on be­wah­ren. Die se­he ich aber durch Wirt­schaft, Staat und Chri­sten­tum ge­prägt. Das passt ja so­wie­so schon nicht zu­sam­men. Der Imam ist mir schnup­pe, die Auf­klä­rung Ge­schich­te. Es hat m.E. nicht für ei­ne »bür­ger­li­che Iden­ti­tät« ge­reicht, so­dass erst die Re­li­gi­on ver­zicht­bar wird und (uto­pisch) da­nach so­gar der Ka­pi­ta­lis­mus weg­mo­de­riert wer­den könn­te. Ich weiß, da­mit ge­ra­te ich in das Schwe­re­feld des Kon­ser­va­tis­mus, aber das ist Schick­sal.
    Wenn Sie mich zur *Kri­se be­fra­gen: to­ta­le Ka­ta­stro­phe, brei­ter Rea­li­täts­ver­lust, hy­ste­ri­scher Mo­ral-Kom­plex, Hy­bris mo­der­ner Bio-Po­li­tik, »Die in­ter­na­tio­na­len Be­schwer­den über Le­ben und Tod zum Ge­gen­stand der So­zi­al­ver­wal­tung er­klä­ren...«.
    Pro­blem: kann nichts da­ge­gen tun. Al­so wie­der die Pra­xis.

  32. Die – Ver­zei­hung! – Ka­ba­rett­dis­kus­si­on zeigt sehr gut, wie tref­fend Stren­gers Ana­ly­se ist und zu­gleich war­um Rechts­par­tei­en wie die FPÖ so ra­sant zu­le­gen: Dass auf das Ver­hal­ten des Imams qua­si ge­ant­wor­tet wird, dass man ihm viel­leicht gar nicht die Hand ge­ben möch­te oder müss­te oder das an­ders­wo auch ge­macht wer­de, ver­steht kaum je­mand mehr; ge­wählt wer­den dann die­je­ni­gen, die ei­nen Stand­punkt über­haupt noch ver­tre­ten kön­nen. — Ich kann mich noch gut dar­an er­in­nern, wie in ei­ner be­rufs­be­ding­ten Be­spre­chung ei­ner der Teil­neh­men­den ei­ner Frau den Hand­schlag ver­wei­gert hat, das war al­ler­dings kein Imam und je­der – ha­ben wir dar­über we­nig­stens Kon­sens? – wird nach­voll­zie­hen kön­nen wie un­an­ge­nehm, ge­ring schät­zend und ver­ach­tend, das für die Be­trof­fe­ne ge­we­sen sein wird (die üb­ri­gens da­von ab­ge­se­hen hat, die An­ge­le­gen­heit zu the­ma­ti­sie­ren). Ich kann auch ger­ne mei­ne tür­ki­sche Nach­ba­rin fra­gen, was sie von der­lei Prak­ti­ken hält (und die, ne­ben­bei be­merkt, heil­froh ist, dass sie hier­zu­lan­de nicht da­zu ge­zwun­gen wird, ein Kopf­tuch zu tra­gen). — Si­cher­lich: Bei Licht be­se­hen, wer­den Per­so­nen, die Frau­en kei­ne Hand ge­ben, an­son­sten vor­bild­li­che li­be­ra­le An­sich­ten ha­ben und al­le an­de­ren (Frauen)rechte ach­ten und hoch­hal­ten. Dass ich nicht la­che!

    Wenn je­mand im pri­va­ten Raum ei­ner Frau aus re­li­giö­sen Grün­den nicht die Hand ge­ben will, von mir aus, da kann man ge­wis­se Un­sin­nig­kei­ten to­le­rie­ren, nie­mand wird zu sei­nen Freun­den, Be­kann­ten oder Ehe­part­nern ge­zwun­gen (hof­fent­lich!), aber in der Öf­fent­lich­keit, dort wo der ge­sell­schaft­li­che Kon­sens un­aus­ge­spro­chen auf­tritt, hört sich der Spaß auf, das ist kein Ver­ein, kein Kir­che und kein Kel­ler (ab­ge­se­hen da­von: ich lat­sche ja auch nicht mit Schu­hen in ei­ne Mo­schee).

    [Die Fra­ge, ob ein sol­ches Ver­hal­ten Kon­se­quen­zen ha­ben kann oder soll ist die zwei­te; die er­ste ist, ob un­se­re Ge­sell­schaf­ten noch wil­lens oder fä­hig sind, ge­wis­se all­ge­mei­ne (un­aus­ge­spro­che­ne, aber be­deut­sa­me) Ver­bind­lich­kei­ten und Prak­ti­ken auf­recht zu er­hal­ten.]

  33. Ja, Ka­ba­rett­dis­kus­si­on trifft die Sa­che – und auch wie­der nicht. Sie zeigt, wie in be­stimm­ten Mi­lieus ei­ne sol­che The­ma­tik be­han­delt wird: Der Imam ist egal, die Auf­klä­rung tot, ich muss nie­man­dem die Hand ge­ben wol­len. Es zeigt vor al­lem, dass Stren­gers Prin­zip der »zi­vi­li­sier­ten Ver­ach­tung« schon al­lei­ne aus dem Grund schei­tern muss, weil be­stimm­te Ver­hal­tens­wei­sen gar nicht mehr als ver­ach­tens­wert an­ge­se­hen wer­den. Sie wer­den so­zu­sa­gen zu To­de to­le­riert – teils aus über­gro­ßer Nach­sicht, teils aus (in­tel­lek­tu­el­ler) Faul­heit.

  34. »Bei Licht be­se­hen, wer­den Per­so­nen, die Frau­en kei­ne Hand ge­ben, an­son­sten vor­bild­li­che li­be­ra­le An­sich­ten ha­ben und al­le an­de­ren (Frauen)rechte ach­ten...« –Ich weiß nicht, wo Du die­se na­iv-po­si­ti­ve Un­ter­stel­lung ab­liest. Ver­mut­lich frei aus dem Äther for­mu­liert. Ich weiß, man ver­sucht uns jetzt den Rück­schritt als Fort­schritt zu ver­kau­fen. Ein rei­nes post­po­li­ti­sches Pan-Op­ti­con, das sich me­di­al ent­fal­tet.
    Die Miso­gy­nie ist in der Tat tief ver­an­kert in den an­dro-ara­bi­schen Welt, vom Ein­zel­fall mal ab­ge­se­hen. Da beißt die Maus kein’ Fa­den ab. Das muss jetzt al­les weg­dis­ku­tiert wer­den, Mo­de­ra­ti­on durch sei­ne Emi­nenz Gauck. Das gibt es nicht, ihr wer­det se­hen. Wenn wir das erst mal AUSDISKUTIERT ha­ben. Neue epi­ste­mi­sche Ver­dun­ke­lungs-Tech­ni­ken mit sanft au­to­ri­tä­rer No­te im Ab­gang. Das ist kein Li­be­ra­lis­mus, stimmt! Da geht’s im we­sent­li­chen um Ge­hirn­wä­sche, oder wie Vic­tor Or­ban sa­gen wür­de: It’s a Ger­man Pro­blem!

  35. @die_kalte_sophie
    Sor­ry, jetzt wird’s wirk­lich Ka­ba­rett: »Die Miso­gy­nie ist in der Tat tief ver­an­kert in den an­dro-ara­bi­schen Welt..« Das hat ja nie­mand be­strit­ten. (Wo­bei Miso­gy­nie fast ein Eu­phe­mis­mus ist.) Ähn­lich lie­ße sich auch über das Ver­hält­nis zur Ho­mo­se­xua­li­tät sa­gen. Oder zur Apo­sta­sie im Is­lam. Es geht hier je­doch nicht um die­se »an­dro-ara­bi­sche« Welt, son­dern um un­se­ren Kul­tur­kreis. Ima­me ha­ben in mus­li­mi­schen Ge­mein­den Vor­bild­funk­ti­on. Wie über­all gibt es dort li­be­ra­le und auch »miso­gy­ne«. Das Klöck­ner-Bei­spiel zeigt nicht mehr und nicht we­ni­ger, dass mus­li­mi­sche Gläu­bi­ge hier durch »miso­gy­ne« Vor­bil­der ge­führt, wenn nicht gar in­dok­tri­niert wer­den. (Dass Klöck­ner die­sen Vor­fall für ih­re halb­ga­ren Sprü­che nutzt, las­sen wir mal weg; sie ist ja ähn­lich ohn­mäch­tig wie die Mul­ti­kul­tu­ra­li­sten.) Es geht dar­um, ob man das dul­det oder nicht. Wenn man es nicht dul­det, geht um Kon­se­quen­zen. Dass die­se mit (im Zwei­fel än­der­ba­ren) For­ma­li­en ge­kon­tert wer­den, über­zeugt mich nicht.

    Das »Aus­dis­ku­tie­ren« be­trei­ben ge­ra­de Sie, in dem Sie je nach Dis­kus­si­ons­la­ge Recht­fer­ti­gungs­stra­te­gien ent­wickeln oder aber auch mal al­les vom Tisch wi­schen. Die Recht­fer­ti­gungs- und Ver­tei­di­gungs­re­den sind in dem Mo­ment ab­surd, wenn es dann spä­ter heißt »...ich will die be­stehen­de For­ma­ti­on be­wah­ren. Die se­he ich aber durch Wirt­schaft, Staat und Chri­sten­tum ge­prägt.« Bleibt nur die Fra­ge, was pas­siert, wenn je­mand den »Staat« bzw. den Codes die­ses Staa­tes – vul­go: das Grund­ge­setz – ganz oder in wich­ti­gen Tei­len ab­lehnt. Da sind üb­ri­gens miso­gy­ne Ima­me und NPD-An­hän­ger glei­cher­ma­ßen mit ge­meint. Um es auf den Punkt zu brin­gen: Da gibt es nichts »aus­zu­dis­ku­tie­ren«.

    Es gibt ei­gent­lich nur drei Mög­lich­kei­ten: Ent­we­der wir ak­zep­tie­ren durch die Bank je­den Wert, so­fern er in ir­gend­ei­ner Form iden­ti­täts­stif­tend ist (po­li­tisch, re­li­gi­ös oder kul­tu­rell). Oder wir ak­zep­tie­ren je­den Wert, so­lan­ge bis wir ihn nicht be­mer­ken (so ent­ste­hen dann Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten, die sich im gün­stig­sten nichts zu sa­gen ha­ben und sich nicht be­geg­nen). Oder wir zie­hen Gren­zen. Über letz­te­res geht es in dem Buch.

  36. Sie täu­schen sich in mir, aber das macht nichts. Zu­nächst die Er­in­ne­rung an die Pra­xis: Was schla­gen Sie vor?! Wos mach’ ma mit dem Imam?! Sie ha­ben kei­ne ein­zi­ge Ak­ti­on vor­ge­schla­gen, nur all­ge­mei­ne Hand­lungs­richt­li­ni­en. Das geht ins Lee­re.
    Dann die Fra­ge nach dem Wol­len oder Nicht-Wol­len der mul­ti­kul­tu­rel­len Ge­sell­schaft. Ich will sie nicht. Ich be­trach­te sie als Är­ger­nis, der ge­wag­ten For­ma­ti­on »Staat, Wirt­schaft und Re­li­gi­on« als Mühl­stein um den Hals ge­hängt. Als Re­ak­ti­on dar­auf kann ich nur so ent­schie­den wie mög­lich GEGEN wei­te­re Ein­wan­de­rung plä­die­ren. Was ich tue, ganz un­dia­lek­tisch, ganz un­ver­hoh­len. Wie @mete sagt: Wä­re schön, wenn je­mand noch ei­ne Po­si­ti­on hät­te...
    Ha­be ich. Bin da­ge­gen. So da­ge­gen, dass ich täg­lich auf 180 sy­sto­lisch bin.
    Sie glau­ben, weil ich »her­um­dis­ku­tie­re« und Spä­ße trei­be, wä­re es mir nicht ernst?! Ich sa­ge Ih­nen, wir ste­hen am Ab­grund. Viel­leicht liegt dar­in ja der Grund für mei­ne Spä­ße.
    Sie frei­lich kön­nen gar nicht kein gro­ßes NEIN mehr for­mu­lie­ren. Der Hand­schlag wird zum »letz­ten Ge­fecht«. Wenn ich ih­re Not­la­ge nicht so klar nach­voll­zie­hen könn­te (man kennt sich), wä­re das Klas­si­sches Ka­ba­rett. Aber mir ist nicht ge­ne­rell zum La­chen. Der Li­ber­ti­nis­mus ist mir fremd. Ich tra­ge Ver­ant­wor­tung für an­de­re Men­schen. Das schließt sich aus.

  37. Der Hand­schlag wird zum »letz­ten Ge­fecht«
    Das ist Un­sinn. Der Hand­schlag ist ein Bei­spiel. Merk­wür­di­ger­wei­se aus der Pra­xis. Le­sen Sie in mei­nen Kom­men­ta­ren oben, wie man viel­leicht ver­fah­ren könn­te. An­son­sten ha­be ich dar­auf hin­ge­wie­sen, dass die Kon­se­quenz-Fra­ge schwie­rig ist. Aber mit Ap­pease­ment lö­sen kann sie eben auch nicht.

  38. Gut, ich über­trei­be. Aber Sie wis­sen so gut wie ich, dass dem Li­be­ra­lis­mus ei­ne ge­wis­se Dis­zi­plin und »er­wor­be­ner Ge­mein­sinn« vor­aus­geht. Ih­re ein­zi­ge Sor­ge ist nun: wie krie­gen wir die Aus­län­der in die­se Form?! Die ha­ben an­de­re Ge­be­te, an­de­re Tu­gen­den, an­de­re Lei­den­schaf­ten, etc. Die müss­ten um­for­ma­tiert wer­den. Auf er­zie­he­ri­sche Her­aus­for­de­run­gen re­agiert der Deut­sche meist mit dem Bau von Schu­len. Aber das wird in die­sem Fall nicht mehr rei­chen. Ich wür­de sa­gen: der Li­be­ra­lis­mus, über den wir spre­chen, lässt sich leicht in ei­ner jü­disch-christ­lich ge­präg­ten »Lei­stungs­ge­sell­schaft« ver­tre­ten, aber: die Um­keh­rung, dass sel­bi­ger Li­be­ra­lis­mus auch ein gu­ter Rat­ge­ber für ei­ne zu­neh­mend mul­ti-kul­tu­rel­le Ge­sell­schaft sein könn­te, gilt na­tür­lich nicht. Aus apo­ka­lyp­ti­scher Per­spek­ti­ve: wir ge­mein­sam un­ter­ge­hen. Wir wa­ren viel­leicht auf­ein­an­der an­ge­wie­sen, die Be­ton­köp­fe, die So­zis und die Li­be­ra­len, aber den zi­vi­len Über­bau zu for­mu­lie­ren, zu ver­tre­ten und ein­zu­for­dern, wird im­mer schwie­ri­ger. Blatt über­reizt, wie beim Skat. Ei­ne uni­ver­sel­le Lö­sung se­he ich nicht. Sie for­mu­lie­ren das ja an­dau­ernd. Auch der We­sten stellt sich am En­de als end­li­ches Ge­bil­de her­aus. Er ist kei­ne »uni­ver­sel­le Ge­sell­schafts­ma­schi­ne«, frei nach De­leu­ze.

  39. Es geht nicht um »Um­for­ma­tie­rung«. Nicht mal um As­si­mi­la­ti­on. Aber ge­gen­sei­ti­ges Nicht-Be­ach­ten funk­tio­niert ir­gend­wie auf Dau­er auch nicht. Rich­tig, der so­ge­nann­te Li­be­ra­lis­mus funk­tio­niert nicht als anything-goes-Mo­tor, der als ein­zi­ge Ma­xi­me Pro­fit und Kon­sum kennt. Das Grund­ge­setz hat un­gleich we­ni­ger Strahl­kraft als re­li­giö­se oder po­li­ti­sche Uto­pien oder den Be­sitz ei­nes Por­sche. Das ver­blüf­fen­de ist, dass die Ein­for­de­rung be­stimm­ter Wer­te et­was ver­langt, was jahr­zehn­te­lang zu­ver­läs­sig als über­flüs­sig und ab­schaf­fens­wert an­ge­se­hen wur­de: Ge­mein­schaft.

    (Hier­in liegt auch die Keh­re Mer­kels mit ih­rem Spruch »Wir schaf­fen das«. Sie, die Keh­re, liegt in der Ver­wen­dung des Wor­tes »Wir«. Als Peer Stein­brück mit dem »Wir« 2013 Wahl­kampf mach­te, wur­de er des­we­gen aus­ge­lacht, weil es als Wer­be­spruch ei­nes Un­ter­neh­mens da­her kam. Mer­kel ok­troy­iert plötz­lich die­ses »Wir«, oh­ne es je­mals zu de­fi­nie­ren. Das »Wir« ist jetzt die Ge­mein­schaft, die Mil­lio­nen von Mi­gran­ten und Flücht­lin­gen zu in­te­grie­ren hat, oh­ne das ei­ne auch nur an­nä­hernd be­last­ba­re Agen­da zu de­ren In­te­gra­ti­on vor­liegt. Aber das ist ein an­de­res The­ma.)

  40. @die kal­te So­phie
    »Wos mach‘ ma mit dem Imam?!« — Das ist zu­nächst ein­mal die fal­sche Fra­ge; ich bin mir noch im­mer nicht si­cher, ob wir hier über­haupt den Kon­sens ha­ben, dass die öf­fent­li­che Wei­ge­rung ei­ner be­stimm­ten Grup­pe von Per­so­nen die Hand zu rei­chen, ei­ne fun­da­men­ta­le Ge­ring­schät­zung und/oder Ver­ach­tung dar­stellt, die eben nicht auf Er­fah­rung, per­sön­li­cher Be­kannt­heit, usf., be­ruht; die­se Ver­wei­ge­rung be­deu­tet, dass die­se an­de­ren es prin­zi­pi­ell nicht wert sei­en, dass man ih­nen die Hand reicht, dass sie qua­si ei­ner un­ter­ge­ord­ne­ten (we­ni­ger schät­zens­wer­ten) Grup­pe von Men­schen an­ge­hö­ren. Ein sol­ches Ver­hal­ten ist nicht zu­fäl­lig oder ei­nem Af­fekt ge­schul­det, es ist be­grün­det, be­dacht, ge­wollt (sy­ste­ma­tisch); die Vor­bild­wir­kung kommt dann noch da­zu. Hier wird ei­ne Asym­me­trie ar­ti­ku­liert und wohl auch ge­lebt, die ei­nem Fun­da­ment un­se­rer Ge­sell­schaf­ten, der prin­zi­pi­el­len (recht­li­chen) Gleich­heit al­ler, wi­der­spricht.

    Ei­ne selbst­be­wuss­te Ge­sell­schaft, oder eben: Ge­mein­schaft (zu der der Li­be­ra­lis­mus in ei­nem Ge­gen­satz steht), wür­de dar­um kein Auf­he­bens ma­chen müs­sen, weil schlicht und ein­fach klar wä­re, was auf ei­ner grund­sätz­li­chen Ebe­ne ge­bo­ten (ge­for­dert) ist und zwar durch die ge­sell­schaft­li­che Pra­xis; dass man über­haupt über Kon­se­quen­zen nach­den­ken muss, ist ein Zei­chen von Schwä­che, von Sub­stanz­lo­sig­keit, von Un­klar­heit, von Ori­en­tie­rungs- und Re­fle­xi­ons­lo­sig­keit; das Frem­de zu ver­schlin­gen, ist nichts an­de­res als ein Ab­wei­sen nach in­nen, es zeugt von ei­ner Un­fä­hig­keit sich mit ihm aus­ein­an­der zu set­zen und ei­ne ge­mein­sa­me Vor­stel­lung zu ent­wickeln, oh­ne sei­ne ei­ge­nen grund­le­gen­den (mo­der­nen) Po­si­tio­nen auf­ge­ben zu müs­sen.

    Zum kon­kre­ten Fall: Dem gu­ten Herrn wä­re klar zu ma­chen, was er tut und dass dies nicht im Ein­klang mit den üb­li­chen, ge­wünsch­ten und prak­ti­zier­ten Vor­stel­lun­gen ist (man kann ihn ja zu ei­ner Un­ter­re­dung bit­ten); je­der wei­te­re Um­gang und je­de Be­treu­ung von Flücht­lin­gen durch ihn und sei­ne Ge­mein­de ist zu un­ter­sa­gen, weil er der In­te­gra­ti­on hin­der­li­che Prak­ti­ken ver­brei­tet; je­de staat­li­che För­de­rung, falls vor­han­den, zu strei­chen, eben­so wie all­fäl­li­ge Am­bi­ti­on schu­li­scher oder leh­ren­der Na­tur (aus den­sel­ben Grün­den).

  41. @ Gre­gor Völ­lig ein­ver­stan­den. Wenn man das »Wir« jen­seits der Rhe­to­rik pro­gram­ma­tisch, als Agen­da (die völ­lig un­be­stimmt bleibt) be­nutzt, ak­ti­viert man die Ge­mein­schafts-Neu­ro­nen. Das führt manch­mal zu Wi­der­spruch, in die­sem Fall (mei­ne Ein­schät­zung) zur »ge­mein­sa­men« Ver­drän­gung. Es wird ei­ne der letz­ten Ver­drän­gungs­lei­stun­gen in der Kanz­ler­schaft Mer­kel sein, die »wir« er­bracht ha­ben.

    @ me­te Stimmt, wir ha­ben noch kei­nen Kon­sens. Ich ken­ne die­se Im­port-Ima­me, die uns aus der Tür­kei oder Sau­di-Ara­bi­en zu­ge­führt wer­den. Die ha­ben kei­ne Ah­nung, was sie tun oder nicht tun sol­len. Aber sie ver­brei­ten na­tür­lich von Tag 1 die fro­he Bot­schaft. Ei­ne Be­treu­ung der Flücht­lin­ge kann man auf Kreis-Ebe­ne ver­hin­dern, dann kann die Ge­gen­sei­te kla­gen, oder sich den Mund schau­mig gei­fern. Da bin ich zu weit weg, um ei­ne Mei­nung zu fas­sen.
    Aber der Staat, ganz gleich ob Ge­mein­de oder Bun­des-Ebe­ne ist nicht be­son­ders pro­gres­siv, was die »Len­kung der Ge­sell­schaft« an­geht. Es muss schon ver­dammt viel pas­sie­ren, da­mit mal was »pas­siert«. Die Schwer­fäl­lig­keit des Staa­tes sieht fast schon aus wie »Li­be­ra­lis­mus«, nicht?!

  42. »Das ver­blüf­fen­de ist, dass die Ein­for­de­rung be­stimm­ter Wer­te et­was ver­langt, was jahr­zehn­te­lang zu­ver­läs­sig als über­flüs­sig an­ge­se­hen wur­de: Ge­mein­schaft«.
    Dann wä­re ein Jahr­zehn­te lan­ger Dis­kurs al­so ab­we­gig ge­we­sen?! Das kann gut sein, dass es gei­stes­ge­schicht­li­che Pha­sen der De-Po­li­ti­sie­rung gibt. Na und?! Dann ist halt jetzt Mon­tag, und es be­ginnt ei­ne neue Wo­che.
    Sie spie­len ge­wiss auf die »Be­weg­lich­keit des Gei­stes« an, wo sich die Din­ge stän­dig än­dern, und doch so ei­ni­ge The­sen im­mer wie­der keh­ren. Aber auch die Vor­aus­set­zun­gen än­dern sich manch­mal. Die Vor­aus­set­zun­gen sind nä­her an der Wirk­lich­keit.

  43. Es fand ja gar kein Dis­kurs über das, was man »Ge­mein­schaft« nen­nen und man die­se de­fi­nie­ren könn­te statt. Der Be­griff und das, was da­mit ver­bun­den wird, war de­nun­ziert durch den Miss­brauch der Na­zis. Das »Kol­lek­tiv« der DDR war auch ver­schrien. Der in den 1980/90er Jah­ren kurz nach Eu­ro­pa über­schwap­pen­de ame­ri­ka­ni­sche Kom­mu­ni­ta­ris­mus fand hier kei­nen wort­ge­wal­ti­gen Ver­tre­ter. Ha­ber­mas sprach dann ir­gend­wann vom »Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus«, der al­ler­dings in die­ser Form kei­ner­lei Strahl­kraft be­sitzt. Der Ver­such des Grü­nen-Po­li­ti­kers Ro­bert Ha­beck ei­nen »lin­ken Pa­trio­tis­mus« zu be­grün­den, wur­de (und wird) dif­fa­miert. Statt­des­sen wur­de von den po­li­ti­schen Eli­ten ei­ne eu­ro­päi­sche Iden­ti­tät ins Spiel ge­bracht, die uns jetzt in Ka­ta­la­ni­en und an­ders­wo um die Oh­ren fliegt.

    -

    Die Be­treu­ung von (mus­li­mi­schen) Flücht­lin­gen wird mus­li­mi­schen Ge­mein­de­ver­tre­tern über­las­sen, weil man die Auf­ga­ben mit dem zur Ver­fü­gung ste­hen­den Per­so­nal ein­fach nicht be­wäl­ti­gen kann. Aber wie wä­re es, den Flücht­lin­gen In­for­ma­ti­ons­ma­te­ri­al (in­klu­si­ve Zi­ta­te der wich­tig­sten Grund­ge­setz­ar­ti­kel) in den Hei­mat­spra­chen aus­zu­ge­ben und ei­ne Ver­pflich­tung auf ei­ne Haus­ord­nung ein­zu­for­dern? Es könn­ten Haus­ver­bo­te für un­er­wünsch­te Per­so­nen aus­ge­spro­chen wer­den. Usw., usf.

  44. Die Er­ör­te­run­gen um ei­ne »eu­ro­päi­sche Iden­ti­tät« ha­be ich auch ver­folgt. Der »lin­ke Pa­trio­tis­mus« ist mir neu. Die Be­grün­dung für die­se Kopf-sucht-Herz-Idee dürf­te sehr schwie­rig sein. Ich le­se da ein Pa­ra­do­xon.
    Es gab kei­nen Dis­kurs, weil es nicht ge­braucht wur­de. Da ist ganz ein­fach. Der Po­li­tik-Be­trieb kommt durch­aus ein paar Jahr­zehn­te oh­ne Grund­satz-Dis­kus­sio­nen aus. Die In­tel­lek­tu­el­len ha­ben da kei­ne vor­aus­ei­len­den Lei­stun­gen er­bracht. Jetzt auf die Schnel­le Herz und Ver­stand zu mo­bi­li­sie­ren, wird schwie­rig. Ha­ber­mas hat sich nicht für die Kul­tur­na­ti­on Deutsch­land in­ter­es­siert, und voll auf das Rechts­ver­ständ­nis ge­setzt. Das ist ei­gent­lich ei­ne kon­ser­va­ti­ve De­fi­ni­ti­on. Dass die­ser »graue Pa­trio­tis­mus« kei­ne Strahl­kraft hat, ist noch un­ter­trie­ben. Er hat auch kei­ne in­no­va­ti­ve Kraft. Bei ei­nem Pa­pier­ti­ger wie H. geht die gan­ze Krea­ti­vi­tät ja in Sze­na­ri­en, in Welt­be­schrei­bun­gen, die stark idea­li­siert sind. Das liest sich dann gern auch »pro­gres­siv«. Da ist die tat­säch­li­che ge­sell­schaft­li­che Ent­wick­lung ei­gent­lich nur stö­rend. Ich will das gar nicht groß kri­ti­sie­ren, aber im Be­reich der Po­li­ti­schen Phi­lo­so­phie merkt man doch am deut­lich­sten, dass der In­tel­lekt nicht mehr mit den exi­sten­zi­ell-ko­gni­ti­ven An­for­de­run­gen mit­hal­ten konn­te. Des­halb ist der Iden­ti­täts-Be­griff ja so ex­trem künst­lich. Weil es nur so we­nig gibt, was man Iden­ti­tät nen­nen könn­te.

  45. Pingback: Crashkurse am Hofe der Kanzlerin

  46. Ich glau­be auch, dass Ha­ber­mas kein Lin­ker im klas­si­schen Sinn ist, son­dern eher ein Bismarck’scher Reichs­grün­der – eben dies­mal nur nicht als »Deut­sches Reich«, son­dern »Eu­ro­pä­isch«. In die­se Rich­tung geht ja auch der öster­rei­chi­sche Schrift­stel­ler Ro­bert Men­as­se, der den EU-Staat de­fi­ni­tiv will und die (teil­wei­se nur noch ru­di­men­tär vor­han­de­nen) na­tio­na­len Iden­ti­tä­ten zer­stö­ren möch­te. Ge­nau das wird nicht funk­tio­nie­ren.

    Die­se nicht mehr funk­tio­nie­ren­den Iden­ti­tä­ten kann man schwer­lich durch Rechts­nor­men er­set­zen. Zu­mal wenn man – wie der obi­ge Fall zeigt – die­se Rechts­nor­men zu Gun­sten ei­nes Uni­ver­sa­lis­mus auch noch leicht­fer­tig auf­gibt. in den Her­kunfts­län­dern der ak­tu­el­len Flücht­lin­ge gibt es we­ni­ger na­tio­na­le, denn re­li­giö­se Nor­mie­run­gen, die sehr fest ver­an­kert sind und nun auf ei­ne eher »wei­che« Ge­sell­schaft trifft.

  47. Men­as­se, stimmt. Der­sel­be Ver­such, ein ins Ru­di­men­tä­re ab­glei­ten­des po­li­ti­sches Selbst auf ei­ne voll­kom­men neue po­li­ti­sche Ein­heit zu be­zie­hen. Es gibt ja Kon­zep­te, wür­de Ha­ber­mas sa­gen. Er hat we­nig Ver­ständ­nis für das de­mo­kra­ti­sche Funk­ti­ons-Kri­te­ri­um, dass mög­lichst vie­le ein­ver­neh­mend (»mehr­heit­lich«) teil­neh­men müs­sen. Das hat er im­mer als Pro­blem ein­ge­kreist, das von ei­ner omi­nö­sen Eli­te ver­ur­sacht wur­de. Tech­no­kra­tisch, war das Stich­wort. Hät­te er sich das Ta­ges­ge­schäft ei­nes Po­li­ti­kers aus der Nä­he an­ge­schaut, hät­te er mer­ken kön­nen, dass die De­mo­kra­tie »ganz schlecht« mit Tech­no­kra­ten funk­tio­niert. Lä­stig, die­se Wah­len. Im­mer will die Eli­te un­se­re Zu­stim­mung.
    Rund um den Iden­ti­täts­be­griff, der post­bür­ger­li­chen Pos­se durch die Me­di­en und der sa­gen­haf­ten Über­kom­pen­sa­ti­on der Lin­ken ha­ben wir ein Pro­blem, mit dem ei­gent­lich kei­ner ge­rech­net hat. Ein ver­spä­te­tes Pro­blem. Ich wür­de es die Ver­strickung des spät­mo­der­nen Men­schen in die De­mo­kra­tie nen­nen. Sie scheint For­de­run­gen zu stel­len, die auf an­thro­po­lo­gi­sche Va­rie­tä­ten, Prio­ri­tä­ten ver­wei­sen, die kei­nen ge­mein­sa­men Nen­ner auf­wei­sen. Das Pa­ra­do­xon, das der Ab­ge­ord­ne­te Ha­beck da auf­wirft, ist das nicht auch ein Hin­weis auf die In­kom­pa­ti­bi­li­tät der Viel­falt für das Sy­stem?! Ganz un­po­le­misch da­hin­ge­stellt. Ich bin je­den­falls nicht über­zeugt, dass die De­mo­kra­tie so­zi­al­psy­cho­lo­gisch und sy­ste­misch ein­wand­frei funk­tio­nie­ren könn­te, wenn der Mensch... Tja, eben. Wel­che Be­din­gun­gen stellt man noch gleich?! ...nur ra­tio­nal ge­nug wä­re. Ich glau­be eher, dass die De­mo­kra­tie den Men­schen zu der An­nah­me ver­lei­tet, dass Po­li­tik im we­sent­li­chen ei­ne Be­ar­bei­tung von Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­ble­men und In­ter­es­sens­ge­gen­sät­zen ist. Wä­re schön, wenn es so wä­re.