…ich weiß nicht mehr genau, wann das war als meine Mutter nach einer Diskussion, einem Disput oder vielleicht nur einer unbedachten Bemerkung derart verletzt war, dass sie in eine gewisse Rage geriet, schimpfte – das tat sie oft – dann aber, und das bekümmerte und besorgte uns, U. und mich, plötzlich zu weinen anfing, uns nun ihrerseits mit Worthieben verletzte, vielleicht sogar beleidigte und da trafen sich mit mir und ihr plötzlich zwei sich gegenseitig hochschaukelnde Choleriker aufeinander, während U. daneben saß und hilflos versuchte, zu beschwichtigen. Wie gesagt, ich weiß nicht mehr genau, wann das war, aber es war an einem sogenannten Heiligen Abend, am 24.12., nach dem Essen, aber ich habe jegliche Erinnerung an die äußeren Umstände verloren. Ich weiß nur noch, was dann geschah, sie stand auf, wäre fast gestürzt, denn sie war nicht mehr ganz rüstig (es muss also in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewesen sein, falls die Erinnerung richtig ist) und lief (!) in Richtung Badezimmer, wobei wir uns nichts dabei dachten und uns in unsere Zimmer zerstreuten. Ich war wütend, denn ich mag es nicht, wenn jemand einem Streit, sei er auch noch so hart, davonläuft, sich entzieht und ich hätte lieber noch einige Schimpfkanonaden meiner Mutter gehört, auf die ich dann hätte reagieren können.
Esther Kinsky/Martin Chalmers: Karadag Oktober 13

Karadag Oktober 13
Dabei hatte Esther Kinsky ihre Reiseimpressionen – unberührt der politischen Aktualitäten – schon im August 2014 in Norbert Wehrs »Schreibheft« (Ausgabe Nr. 83) unter dem Titel »Kurortne Oktober 13« publiziert. Für das vorliegende Buch hat sie ihre Texte entsprechend umgearbeitet und ergänzt. Aus dem »ich« wurde ein »wir«. Und sie kommentiert gelegentlich das Zusammensein mit Chalmers (»M.«) und dessen Reaktionen. Typographisch in einer anderen Schrift abgesetzt erzählt Chalmers das Geschehen ebenfalls, so dass der Leser von den gleichen Erlebnissen manchmal leicht divergierende Eindrücke erhält. Kinsky ist die präzisere Beobachterin, während Chalmers etwas häufiger historische Allegorien wie den Krimkrieg in seine Beobachtungen einfließen lässt. Zum Abschluss eines jeden Kapitels (bis auf Kapitel 11) folgen dann noch in kursiver Schrift Ausschnitte aus »The Russian Shores of the Black Sea«, den Reiseerzählungen von Laurence Oliphant (1829–1888), der im Herbst 1852 die Krim besucht hatte. Kinsky hat diese Stellen ins Deutsche übersetzt.
Beide, Kinsky und Chalmers, nehmen zuweilen direkt Bezug auf Oliphants Buch. Kinskys Bewertungen sind durchaus ambivalent. So attestiert sie Oliphant, das Buch mit »sarkastischer Verachtung« und »herablassend« geschrieben zu haben. Der Brite verachtete die bereits damals auf der Krim dominierenden Russen, während er die Tataren als den Russen weit überlegen darstellte. Tatsächlich wirkt Oliphants Text heutzutage an einigen Stellen journalistisch-überheblich.
Peter Handke: Tage und Werke
Mit »Tage und Werke« setzt der Suhrkamp-Verlag die Reihe der Aufsatzsammlungen Peter Handkes fort. Der letzte Band aus dem Jahr 2002 (»Mündliches und Schriftliches«) versammelte Texte von 1992 bis 2001; neben Aufsätzen zu Schriftstellern (unter anderem Karl-Philipp Moritz, Hermann Lenz, Georges-Arthur Goldschmidt, Josef W. Jancker oder Ralf Rothmann) auch einige über Handkes zweiter Leidenschaft neben ...
Parkplatz II
Jemand – niemand? – hat einen Colabecher auf dem Parkplatz zurückgelassen. Dort steht er jetzt, groß und rot, herrschend in der anthrazitfarbenen Leere. Später kommt ein Auto, ein Personenkraftfahrzeug, das so aussieht, wie der Name es sagt: für eine Person, mit etwas Kraft, nicht zuviel, ein Mittel zum Zweck. Neues Bild, Colabecher verschwunden, die Leere ...
Kasperletheater
Entgegen allen Beteuerungen ist die auf Form und Sprache achtende, argumentativ-vergleichende Literaturkritik im Zeitungsfeuilleton längst auf dem Rückzug. Stattdessen wird einem biographistischen Literaturjournalismus gehuldigt, hauptsächlich bestehend aus Interviews, »Home Stories« und anderen, oft genug außerliterarischen Referenzen. Die Trivialisierung der Literaturkritik im Fernsehen schreitet allerdings noch stärker voran. An der Neuauflage des »Literarischen Quartetts« ist das gut sichtbar. Nach drei Sendungen kann man sich dahingehend ein Urteil bilden, dass das zarte Hoffnungs-Pflänzchen mit dem Namen »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, welches man in Anbetracht der drei ständigen Diskutanten im Sommer noch hegte, an akuter Lieblosigkeit eingegangen ist.
Kurzer Blick zurück
Natürlich war die Hypothek des Reich-Ranicki-Quartetts sehr hoch. Sie wird nicht kleiner dadurch, dass man den Titel beibehielt (die Versuchung, einen »Kult« wiederzubeleben, war wohl zu groß). Vergessen oder verdrängt wurde auch, dass sich mit der Dauer der Reihe die Diskussionen unter Reich-Ranicki immer mehr in Richtung Entertainment entwickelten. Nach fünf Sendungen stieg Jürgen Busche aus, der das Gefühl seiner intellektuellen Überlegenheit nicht mehr verleugnen wollte und lieber Redenschreiber für Richard von Weizsäcker wurde. Die gestandene Literaturkritikerin Klara Obermüller hielt nur zwei Sendungen aus. Von da an entwickelten sich in der Stammbesetzung Reich-Ranicki, Karasek und Löffler mit der Zeit meist leicht vorhersehbare Interaktionen, die es für die vierte Person schwer machte, sich einzufügen, zumal Reich-Ranicki als Moderator das letzte Wort häufig für sich reklamierte.
Am Ende sollte den Zuseher nur interessieren, ob das Buch was »taugt«, wie sich der Moderator ausdrückte, und man dann zum nächsten »Fall« weitergehen könne. Als Löffler einmal das Wort »Fall« sanft kritisierend wiederholte, sah man Unverständnis ob solchen Feingefühls. Damit war man lange vor Facebook-Daumen und Amazon-Sternchen Trendsetter: Reich-Ranicks »Gefällt mir« galt in Smalltalks und auf Partys als Gottesurteil. Mehr wollte man nicht wissen; warum es gefällt (oder auch nicht), war für den klassischen Zwei-Buch-im-Jahr-Leser entbehrlich. Am Ende stolperte dann Sigrid Löffler über die Wucht der Komplexitätsreduktion. Als sie bei der Lobhudelei auf Haruki Murakami Altherrenlüsternheit diagnostizierte und auf literarische Kriterien pochte, wurde sie ad hominem angegriffen. Damit war die Sendung ihrer letzten literarisch-potenten Figur verlustig gegangen; Iris Radisch als Nachfolgerin blieb sich dahingehend treu, in Artikeln und Rezensionen zu poltern. In der Fernsehsendung nahm sie sich zurück.
Norbert W. Schlinkert: Stadt, Angst, Schweigen

Stadt, Angst, Schweigen
»Er erreichte den Ku’damm, ich müsste links gehen, will ich zum Potsdamer Platz, ich gehe einen großen Bogen, dachte er, andererseits, was soll ich ausgerechnet am Potsdamer Platz, es gibt keinen Grund, ausgerechnet zum Potsdamer Platz zu gehen, also gehe ich geradeaus, hätte ich direkt in meine Wohnung gewollt, so hätte ich anders zu gehen gehabt, ja ich hätte genau genommen meine Wohnung nicht einmal wirklich verlassen, also nur kurz verlassen müssen, über die Straße natürlich schon, zum Imbiss, den ich vom Erkerfenster aus sehen kann, ich hätte hinübergehen können in Hausschuhen, von dort ist meine Wohnung zu sehen, ich kann meine Wohnung sehen, wenn ich dort im Imbiss etwas zu Essen bestelle, in Hausschuhen und in meiner Hausjoppe dort stehend, das kratzt in Berlin keine Sau, dachte er […], ich bin ein Idiot, dachte er, warum sitze ich nicht in meiner Wohnung und erwarte ruhig den Anruf, den ich erwarte, das frage ich mich!«
Es ist mittlerweile Sonnabend früh. Gerade erreicht er seine Wohnung. Und da gibt es einen Anruf. Das ist das Setting von »Stadt, Angst, Schweigen«. 126 Seiten. Eine Lektüre für einen Abend.
Parkplatz I
Die Reihen der Stoppelbündel auf dem abgeernteten Reisfeld und darüber die grau-schwarzen Furchen des Wolkenfelds und dazwischen – nicht die Menschen, nein, nur die unruhigen Arme der Bäume, die hinaufzeigen, als verlangten sie Löcher für das Blau. Dann auch, etwas abseits, der blaue Längsstreifen an der Stirn der Kabine, wo die Maschine Reis schält, wenn ...
Richard Ford: Frank

In seinen bisher erschienenen drei Frank-Bascombe-Romanen »Sportreporter« (1986/dt. 1989), »Unabhängigkeitstag« (1995) und »Die Lage des Landes« (2006/2007) erzählte Richard Ford nicht nur die persönlichen Ereignisse seiner (fiktiven) Hauptfigur, die in drei Jahrzehnten in einem fast typische amerikanisch anmutenden Pragmatismus so unterschiedliche Berufe wie Schriftsteller, Sportreporter und schließlich Immobilienmakler ausübte, sondern vermittelte immer auch ein entsprechendes zeithistorisches Bild des politischen und sozialen Zustandes der USA. Frank Bascombe musste persönliche Schicksalsschläge überwinden (sein Sohn starb als 10jähriger an dem Reye-Syndrom, was seine Ehe nicht überstand und die Scheidung zur Folge hatte) und dann schien er es November 2000, mit Mitte 50, als »Die Lage des Landes« spielt, endlich »geschafft« zu haben. In den Clinton-Jahren gelang es ihm durch Cleverness, Hartnäckigkeit und Glück in die obere Mittelschicht aufzurücken. Er war neu verheiratet, das Verhältnis zu seinen Kindern normalisierte sich, die Geschäfte liefen hervorragend. Aber dann kam der Prostata-Krebs. Unerwartet auch, als wie aus dem Nichts der ehemalige Liebhaber seiner neuen Frau auftauchte. Und als wäre dies noch nicht genug, wurde er auch noch in eine Schiesserei verwickelt. Der Roman spielt im Interregnum des Jahres 2000 – es war immer noch nicht klar, ob nun Al Gore oder George W. Bush der neue Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika würde. Intuitiv spürt Frank, dass die Zeichen auf Veränderung standen. Vielleicht platzt bald die Immobilienblase. Wie geht es mit ihm gesundheitlich weiter? »Die Lage des Landes« war ein grosses, episches Werk voller Melancholie, aber auch Sinn für die Schönheit des Lebens, einer gehörigen Portion derbem, aber doch gutmütigem Witz und einer filigranen wie lehrreichen Verschmelzung von Familien- und Zeitgeschichte, wie es selten zu lesen ist.