Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑1/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

Vor bald vier Jah­ren ha­be ich in die­sem Blog mei­ne Er­klä­run­gen dar­über ver­öf­fent­licht, war­um ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be. Da­mals be­kam ich un­er­war­tet vie­le Re­ak­tio­nen, von Au­toren, Kri­ti­kern, Le­sern, al­le stimm­ten dem von mir ge­trof­fe­nen Be­fund zu, die mei­sten zeig­ten am En­de ein Schul­ter­zucken: Was soll man denn ma­chen?

Auf die­se Fra­ge weiß ich na­tür­lich auch kei­ne Ant­wort. Viel­leicht kann man wirk­lich nichts tun ge­gen die all­ge­mei­ne Kom­mer­zia­li­sie­rung, Hy­ste­ri­sie­rung, Me­dia­ti­sie­rung, und mög­li­cher­wei­se ist es ge­schei­ter, Un­mög­li­ches erst gar nicht zu ver­su­chen, son­dern an­de­re We­ge – Schleich­we­ge – zu su­chen, um sei­ne Schäf­lein – oder wa­ren es Scherf­lein? – ins Trocke­ne zu brin­gen.

Ein Kol­le­ge, ich ken­ne ihn seit un­se­ren Stu­den­ten­ta­gen und schät­ze ihn als ge­wis­sen­haf­ten Le­ser, der seit Jahr­zehn­ten die Ge­gen­warts­li­te­ra­tur mit sei­nen Ana­ly­sen und Kom­men­ta­ren be­glei­tet, be­stand ein we­nig zer­knirscht und zu­gleich trot­zig dar­auf, wei­ter­zu­ma­chen: Er für sei­nen Teil wer­de nicht auf­hö­ren, Li­te­ra­tur­kri­tik zu schrei­ben. Zum Glück für uns, Au­toren wie Le­ser, fü­ge ich hin­zu. Ich woll­te mit mei­nem Text nicht sa­gen, es sei ge­ne­rell sinn­los ge­wor­den, das zu tun, und fin­de es eh­ren­wert, ge­gen Wind­müh­len zu kämp­fen und Stei­ne den Berg hin­auf­zu­rol­len. Ich tue es selbst, Stei­ne berg­auf, al­ler­dings seit vier Jah­ren nicht mehr auf die­sem Ge­biet, dem li­te­ra­tur­kri­ti­schen, des­sen Her­vor­brin­gun­gen ih­rer­seits li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ha­ben kön­nen. Für mei­nen Rück­zug ha­be ich auch per­sön­li­che Grün­de (die ich da­mals hint­an­hielt); nicht zu­letzt den, daß mir spät, aber doch, auf­ge­gan­gen ist, daß all­zu­viel kri­ti­sches Schrei­ben die ei­ge­ne Au­tor­schaft be­hin­dern kann. Ri­car­do Pi­glia, den ich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren viel ge­le­sen ha­be, be­son­ders die Ta­ge­bü­cher des Emi­lio Ren­zi, die kurz vor und nach sei­nem Tod in Spa­ni­en er­schie­nen sind, aber auch die Ro­ma­ne, von de­nen ich die mei­sten schon kann­te – in die­sem Be­richt hier möch­te ich u. a. mit­tei­len, was, war­um und wie ich in die­ser »neu­en Zeit« ge­le­sen ha­be –, Ri­car­do Pi­glia al­so äu­ßer­te vor lan­ger Zeit, tief im 20. Jahr­hun­dert, Au­toren wür­den und soll­ten nicht sy­ste­ma­tisch, plan­mä­ßig, wie Aka­de­mi­ker le­sen, son­dern vom Zu­fall ge­lei­tet, ih­rer spon­ta­nen, wech­seln­den Ein­ge­bung und Neu­gier fol­gend.

Wie al­le Men­schen, die sich die Li­te­ra­tur zur Ach­se ih­res Le­bens er­wählt ha­ben, le­se ich mei­stens meh­re­re Bü­cher gleich­zei­tig, in un­ter­schied­li­chem Tem­po und Rhyth­mus und mit un­ter­schied­li­chem En­ga­ge­ment, man­che nicht bis zum En­de – auch ei­ne Än­de­rung, seit ich kei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik mehr schrei­be: Ich füh­le mich nicht mehr, ei­ner ne­bu­lo­sen Ge­rech­tig­keit hal­ber, ver­pflich­tet, le­send ab­zu­war­ten, ob ich dem Buch nicht doch noch et­was ab­ge­win­nen kann. Der­zeit al­so Pa­ve­se, Mo­dia­no und viel­leicht, falls ich zu ihm zu­rück­fin­de, Faul­k­ner. Mo­dia­no ha­be ich heu­te wie­der auf­ge­nom­men, ich ha­be ei­nes sei­ner eher schma­len Bü­cher ins eher leich­te Ge­päck für die Rei­se nach Osa­ka und den Auf­ent­halt dort ge­steckt, weil ich et­was Ver­gnüg­li­ches da­bei­ha­ben woll­te; et­was, das mein Herz er­freut. Mag selt­sam klin­gen bei ei­nem Ro­man, der mit ei­ner Ver­miß­ten­an­zei­ge in Pa­ris En­de 1941 be­ginnt, und der Na­me der Per­son lau­tet noch da­zu Do­ra Bru­der. Ich le­se die­ses Buch im Ori­gi­nal, auch dies für mich ein Ver­gnü­gen, nicht bei al­len fran­zö­si­schen Bü­chern, doch im­mer bei Mo­dia­no. Ei­ne mir be­freun­de­te spa­ni­sche Über­set­ze­rin schreibt mir, sie kön­ne kei­ne li­te­ra­ri­schen Über­set­zun­gen mehr le­sen (kei­ne aus dem Deut­schen oder Eng­li­schen, die­se Ein­schrän­kung un­ter­schlägt sie), sie sei miß­trau­isch ge­gen­über dem Wort­laut, hin­ter­fra­ge ihn, kon­trol­lie­re und kri­ti­sie­re die Über­set­zung. Da wä­re es wohl bes­ser, gleich die Ori­gi­na­le zu le­sen; wo­ge­gen na­tür­lich nichts spricht. Ab und zu hö­re ich ir­gend­ei­nen Snob be­haup­ten, er le­se oh­ne­hin nur in der Ori­gi­nal­spra­che; auf mein Nach­fra­gen stellt sich dann im­mer her­aus, daß die­ser ori­gi­nel­le Le­ser nur in ei­ner, höch­stens zwei Fremd­spra­chen zu le­sen im­stan­de ist (nur bei zwei­spra­chi­gen Ly­rik­aus­ga­ben tut er so, als kön­ne er im­mer al­les »sa­vou­rie­ren«), mei­stens in der eng­li­schen. Der Rest der Welt­li­te­ra­tur soll ihm ver­schlos­sen blei­ben? Das will der ori­gi­nel­le Le­ser dann auch wie­der nicht zu­ge­ben. Wei­ter­le­sen

Bald geht es wei­ter...

Das Schwei­gen in den letz­ten Wo­chen auf die­ser Sei­te hat­te zwei Grün­de. Zum ei­nen war es ei­ne ve­ri­ta­ble Er­schöp­fung nach den Erup­tio­nen um die No­bel­preis­ver­ga­be an Pe­ter Hand­ke. (Hier­über gibt es dem­nächst noch ei­ni­ges zu be­rich­ten.) Mit letz­ter Kraft konn­te ich die Ver­an­stal­tung am 11. De­zem­ber noch durch­ste­hen.

Da­nach be­gann die hei­ße Pha­se des Um­zugs von Düs­sel­dorf nach Augs­burg; nur kurz un­ter­bro­chen von ei­ni­gen ru­hi­gen Weih­nachts­ta­gen. (Ob hier­zu mal et­was zu le­sen sein wird, ist nicht si­cher.)

In­zwi­schen be­ginnt sich das Le­ben an neu­er Stät­te zu eta­blie­ren und zu nor­ma­li­sie­ren. Die Le­se­zei­ten müs­sen vor­erst noch ein biss­chen hin­ten an­ste­hen. Über­haupt wird es in die­sem Jahr we­ni­ger Raum für Ak­tua­li­tä­ten ge­ben.

Ein gro­ßes Pro­jekt auf die­ser Sei­te wird ein mehr­tei­li­ger Es­say von Leo­pold Fe­der­mair sein, der nicht we­ni­ger als sein Le­se­le­ben Re­vue pas­sie­ren lässt und blei­ben­de und be­we­gen­de Ein­drücke hin­ter­las­sen dürf­te.

An­son­sten wird es wo­mög­lich im Lau­fe des Jah­res die ein oder an­de­re Über­ra­schung ge­ben.

Auf ein bal­di­ges Wie­der­le­sen!

Pe­ter Hand­kes An­ti­fa­schis­mus

Im Ju­li 1989 schrieb Pe­ter Hand­ke ei­ne »Epo­pöe«, ei­ne ganz kur­ze Er­zäh­lung, die am Bahn­hof Per­rache in Ly­on spielt. So wie Hand­ke es ge­braucht, be­deu­tet das ur­sprüng­lich grie­chi­sche Wort »klei­nes Epos« (ob­wohl dies nicht den Aus­künf­ten der Wör­ter­bü­cher ent­spricht). Wir be­geg­nen hier dem Er­zäh­ler in ei­nem Ho­tel­zim­mer und er­fah­ren, was er beim Blick aus dem Fen­ster sieht: ein gro­ßes Gleis­feld, die blas­se Mond­schei­be, Schwal­ben, ei­nen Wohn­block, zu­letzt ei­nen blau­en Fal­ter. We­ni­ge Men­schen, al­le­samt Ei­sen­bah­ner mit Ak­ten­ta­sche auf dem Heim­weg. Nach ei­ner Wei­le fällt dem Er­zäh­ler ein, daß es das Ho­tel Ter­mi­nus ist, in dem er sich ein­ge­mie­tet hat, und er er­in­nert sich, daß Klaus Bar­bie sei­ner­zeit hier sein Un­we­sen ge­trie­ben hat­te. Es war noch nicht so lan­ge her, daß in Ly­on ein Pro­zeß ge­gen den deut­schen Fol­ter­herrn statt­ge­fun­den hat­te, bei dem er we­gen Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit an­ge­klagt war. Hand­ke hat­te die Un­ta­ten, über die 1987 viel be­rich­tet wor­den war, zwei­fel­los noch frisch im Sinn.

Pe­ter Hand­ke, in Grif­fen ge­bo­ren, Sohn ei­nes deut­schen Wehr­machts­sol­da­ten, ver­brach­te als Klein­kind ei­ni­ge Zeit in Ber­lin und er­leb­te Bom­ben­an­grif­fe auf die Stadt so­wie die Trüm­mer­land­schaft nach dem Krieg. Ei­gent­lich hat­te er so­gar zwei deut­sche Vä­ter; über den Zieh­va­ter, mit dem er in Kärn­ten auf­wuchs, kann man in Wunsch­lo­ses Un­glück ei­ni­ges nach­le­sen (das nicht voll­stän­dig der bio­gra­phi­schen Wirk­lich­keit ent­spricht, wie Mal­te Her­wig in sei­ner Hand­ke-Bio­gra­phie zei­gen konn­te). In sei­ner Ju­gend stell­te sich Hand­ke ge­gen die­sen Va­ter, er war ihm schon früh gei­stig über­le­gen und ver­ach­te­te ihn. Die spä­te­re Be­geg­nung mit dem er­sten, dem leib­li­chen Va­ter, im Ver­such über die Juke­box ge­schil­dert, ver­lief an­ge­spannt, die bei­den konn­ten nichts mit­ein­an­der an­fan­gen. Als Pe­ter dann be­rühmt wur­de – »weltbe­rühmt«, wie er es vor­hat­te, wur­de er et­was spä­ter –, ging er aus Öster­reich nach Deutsch­land, doch schon da­mals lieb­äu­gel­te er mit Pa­ris als Wohn­ort. Erst nach sei­ner sprach­ex­pe­ri­men­tel­len und pop­li­te­ra­ri­schen Pha­se be­gann Hand­ke, sich mit sei­ner slo­we­ni­schen Fa­mi­li­en­ge­schich­te aus­ein­an­der­set­zen. Die­se Wen­dung oder Rück­wen­dung zum Slo­we­ni­schen ist nicht zu­letzt be­dingt durch sein schwie­ri­ges und küh­les Ver­hält­nis, das er zu Deutsch­land hat­te, auch und be­son­ders zur na­hen deut­schen Ver­gan­gen­heit, zum so­ge­nann­ten Drit­ten Reich. Die pro­non­cier­te Ab­leh­nung des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und die ih­rer­seits iden­ti­täts­bil­den­de Fra­ge nach der Ver­ant­wor­tung der Vä­ter für die Ver­bre­chen teil­te Hand­ke frei­lich mit den mei­sten jun­gen Leu­ten sei­ner Ge­ne­ra­ti­on, sie spielt bei vie­len deut­schen und öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lern ei­ne wich­ti­ge Rol­le; bei Hand­ke je­doch auf ei­ne ei­gen­tüm­li­che Wei­se, we­ni­ger in po­li­ti­schen State­ments als in ei­ner tief­grei­fen­den li­te­ra­ri­schen Re­ak­ti­on auf die krie­ge­ri­sche Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts.

Als Hand­ke im Zug sei­ner Wen­de zum Klas­si­schen, zu Goe­the, Cé­zan­ne und Stif­ter, zur ge­las­se­nen Er­for­schung der For­men und schließ­lich zu dem fand, was Scho­pen­hau­er als »rei­ne An­schau­ung« be­zeich­ne­te, stell­te das »Neun­te Land« aus dem slo­we­ni­schen Mär­chen für ihn ei­ne kon­kre­te Uto­pie dar, und es zog ihn wie selbst­ver­ständ­lich nach Sü­den, über die Gren­ze, nach Slo­we­ni­en, das zu Ju­go­sla­wi­en ge­hör­te, ein po­li­ti­sches Ge­bil­de, für das Hand­kes Groß­va­ter bei der Kärnt­ner Ab­stim­mung 1920 op­tiert hat­te. Noch in dem In­ter­view, das Ul­rich Grei­ner un­längst für die ZEIT ge­führt hat, be­tont Hand­ke die­se slo­we­ni­sche Her­kunft: »Ich bin Ju­go­sla­we von mei­ner Mut­ter her und vom Bru­der mei­ner Mut­ter, der in Ma­ri­bor stu­diert hat­te«, und er er­in­nert an die Hal­tung des Groß­va­ters nach dem er­sten Welt­krieg, als das Kö­nig­reich Ju­go­sla­wi­en ge­grün­det wor­den war. Der Weg des jun­gen Filip Ko­bal im Ro­man Die Wie­der­ho­lung (1986), der ihn auf den Spu­ren sei­nes äl­te­ren Bru­ders (der On­kel in Hand­kes Bio­gra­phie) in den slo­we­ni­schen Karst und nach Ma­ri­bor führt, hat in­so­fern sinn­bild­li­che, sinn­stif­ten­de Be­deu­tung. Die ju­go­sla­wi­sche Tra­di­ti­on in der Fa­mi­lie Hand­ke bzw. Si­utz bzw. Sivec reicht al­so weit zu­rück, bis zu den An­fän­gen des in­zwi­schen ver­flos­se­nen Staa­ten­bun­des. Beim jun­gen Schrift­stel­ler Hand­ke ver­bin­det sie sich dann mit ei­ner en­er­gi­schen Kri­tik am Deutsch­tum der er­sten Jahr­hun­dert­hälf­te. Die Deut­schen hat­ten Ju­go­sla­wi­en er­obert, aus Sa­lo­ni­ki hat­ten sie quer durch den Bal­kan Ju­den nach Ausch­witz trans­por­tiert; Hand­kes Be­kennt­nis zu Ju­go­sla­wi­en, das in spä­te­ren Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Tei­len des deut­schen und fran­zö­si­schen Jour­na­lis­mus in ei­nem Kampf wie von Da­vid ge­gen Go­li­ath auf ei­ne kaum zu mei­stern­de Pro­be ge­stellt wur­de, die­ses Be­kennt­nis ist zu­gleich Aus­druck sei­nes An­ti­fa­schis­mus. Als er 2006 zum Be­gräb­nis von Slo­bo­dan Mi­lo­se­vic ging und dort ei­ne kur­ze, zu­rück­hal­ten­de, de­zi­diert »schwa­che« Re­de hielt, war das für ihn we­ni­ger das Be­gräb­nis ei­ner Per­son als das ei­ner Ära, ei­ner Idee, ei­nes nun­mehr ver­flos­se­nen Ide­als. Aus­ge­hend von der Kriegs­er­fah­rung, die die Ab­leh­nung je­des Mi­li­ta­ris­mus und be­son­ders der Deut­schen Wehr­macht be­wirkt hat­te, die sei­nen idea­li­sier­ten, im Feld ge­fal­le­nen On­kel Gre­gor in den Krieg gewun­gen hat­te, ent­wickel­te er im Zug sei­ner klas­si­schen Wen­de das Kon­zept ei­ner Frie­dens­epik, die, auch wenn sich die Fi­gu­ren, oft­mals Rei­sen­de, weit von der deut­schen Ge­schich­te ent­fer­nen, an­ti­fa­schi­stisch grun­diert bleibt und so et­was wie ei­nen äs­the­ti­schen »Bal­kan« – mit al­len Am­bi­va­len­zen, die die­sem Wort durch die Ge­schich­te sei­nes Ge­brauchs an­haf­ten – zu er­rich­ten trach­te­te. Wei­ter­le­sen

Neu­es aus der Lam­by-Welt

Ge­stern gab es auf der ARD zur be­sten Sen­de­zeit wie­der ein­mal ei­ne Po­lit-Do­ku­men­ta­ti­on von Ste­phan Lam­by. Der Ti­tel »Die Not­re­gie­rung- Un­ge­lieb­te Ko­ali­ti­on« er­in­nert in Tei­len (un­frei­wil­lig?) an »Not­stands­re­gie­rung«, aber das hat wohl nur da­mit zu tun, dass ei­ni­ge Ta­ge zu­vor das Eu­ro­päi­sche Par­la­ment den »Kli­ma­not­stand« aus­ge­ru­fen hat­te.

Lam­bys Do­ku­men­ta­tio­nen gel­ten längst als Mei­len­stei­ne, wur­den mit Prei­sen de­ko­riert. Sie knüp­fen ger­ne ei­nen Bo­gen bis in die Ta­ges­ak­tua­li­tät hin­ein. So wur­de dies­mal auch noch das Er­geb­nis des Mit­glie­der­ent­scheids der SPD auf­ge­nom­men. Der Nach­teil die­ser Ak­tua­li­tät liegt dar­in, dass der zeit­li­che Ab­stand, der ei­ner­seits Re­fle­xio­nen er­mög­licht, an­de­rer­seits die Fol­gen der do­ku­men­tier­ten Er­eig­nis­se auf­zei­gen könn­te, kaum oder gar nicht mög­lich ist. Aber im­mer­hin wird so der Keim für den näch­sten Film der Lam­by-Welt ge­legt. Da­mit ent­steht ei­ne Rei­he, die die Erup­tio­nen und Pro­ble­me des po­li­ti­schen Deutsch­land der jüng­sten Ver­gan­gen­heit auf­zei­gen wer­den. Dem­nächst al­so viel­leicht in der DVD-Box: Deutsch­land in den 2010er Jah­ren.

Lam­by ge­lingt es, ei­ni­ge in­ter­es­san­te Prot­ago­ni­sten vor die Ka­me­ra zu be­kom­men. Aber mehr als zu den üb­li­chen Er­klä­run­gen langt es sel­ten. Horst See­ho­fer kri­ti­siert den Um­gang der Uni­on mit dem Re­zo-Vi­deo, wird aber nicht we­gen sei­ner Be­för­de­rungs­plä­ne des ehe­ma­li­gen Ver­fas­sungs­schutz­prä­si­den­ten Maa­ßen be­fragt. Maa­ßen wie­der­um re­zi­tiert aus sei­nem Bild-In­ter­view, die ihm zum Ver­häng­nis ge­wor­de­nen, in­kri­mi­nie­ren­den Stel­len und spricht von »po­li­ti­schen Fein­den«. An­ne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er ge­steht, was sie al­les un­ter­schätzt ha­be. Lars Kling­beil und Ke­vin Küh­nert er­läu­tern die SPD-Müh­sal. Ar­min La­schet über­legt, ob es noch ein­mal ei­ne Gro­Ko ge­ben könn­te (man hät­te ihm ei­gent­lich ei­nen Ta­schen­rech­ner ge­ben müs­sen). Zur De­ko­ra­ti­on gab es noch Stim­men von Ali­ce Wei­del, Ro­bert Ha­beck (sehr prä­si­di­al!), Re­zo und An­na Moors, ei­ner 17jährigen FFF-Ak­ti­vi­stin, die als »Schü­le­rin« vor­ge­stellt wur­de.

Den ver­bor­ge­nen Kern in Lam­bys Film bil­den al­ler­dings die Ein­schät­zun­gen von Jour­na­li­sten. Dies­mal wa­ren es Me­la­nie Amann (Spie­gel) und Kri­sti­na Dunz (Rhei­ni­sche Post). Sie ga­ben In­ter­pre­ta­tio­nen ab, wo­bei un­klar ist, ob sie die Stel­lung­nah­men de­rer kann­ten, hin­ter bzw. vor de­nen ih­re Aus­sa­gen ge­schnit­ten wur­den. Ih­re fast im­mer po­lit-stra­te­gisch for­mu­lier­ten Ein­schät­zun­gen zei­gen, wie weit der Po­li­tik­be­trieb – und mit ihm die Jour­na­li­sten – von der Rea­li­tät au­ßer­halb des Raum­schiffs Ber­lin ab­ge­kop­pelt ist. Die Fra­ge, die fast zum Zer­fall der Frak­ti­ons­ge­mein­schaft der Uni­on ge­führt hät­te, wur­de eben auch durch die me­dia­le In­sze­nie­rung in un­zäh­li­gen Talk­shows in die Fast-Es­ka­la­ti­on be­trie­ben. Ähn­li­ches gilt für die Maa­ßen-Af­fä­re. Und es dürf­te auch für das so viel be­ach­te­te Re­zo-Vi­deo gel­ten, wel­ches im Mai das po­li­ti­sche Ber­lin ins Be­ben brach­te. Ge­gen En­de gab es noch die Ge­gen­über­stel­lung von Kramp-Kar­ren­bau­ers Vor­schlag für ei­ne Schutz­zo­ne in Sy­ri­en und dem Ge­gen­wort des Au­ßen­mi­ni­sters. Die The­se: Über­all Streit. Wei­ter­le­sen

Die Mo­na Li­sa von Tai­pei

Ei­ne Rei­se­ge­schich­te

Von Hi­ro­shi­ma über Tai­pei nach Wien zu flie­gen, lag ei­gent­lich na­he; ich weiß nicht, war­um ich nicht frü­her auf die­se Idee ge­kom­men war. Viel­leicht we­gen der Ani­mo­si­tä­ten ge­gen Chi­na – nur die Chi­na Air­lines bie­ten die­se Flug­ver­bin­dung an –, die in der ja­pa­ni­schen Be­völ­ke­rung im­mer noch ver­wur­zelt sind, so auch bei mei­ner Frau, und die von ent­spre­chen­den Ani­mo­si­tä­ten auf der chi­ne­si­schen Sei­te ge­nährt wer­den (und um­ge­kehrt). Ge­sprä­che mit ei­ner aus Tai­wan stam­men­den Stu­den­tin, die mei­nen Un­ter­richt an der Uni­ver­si­tät Hi­ro­shi­ma be­such­te, weck­ten mein bis da­hin al­len­falls la­ten­tes In­ter­es­se an dem Land.

Das Lächeln des Maskottchens

Das Lä­cheln des Mas­kott­chens (© Leo­pold Fe­der­mair)

Wir fuh­ren al­so, mei­ne elf­jäh­ri­ge Toch­ter und ich, ei­nes Mor­gens zum Flug­ha­fen, mit dem Ta­xi, da schwe­re Un­wet­ter und Erd­rut­sche die Bahn­ge­lei­se weg­ge­schwemmt hat­ten, und stie­gen ins Flug­zeug der Chi­na Air­lines, wo­bei ich vor der Tür noch ein­mal zwei Schrit­te zu­rück mach­te, um mir ei­ne der auf dem Ser­vier­tisch­chen lie­gen­de eng­lisch­spra­chi­ge Zei­tung zu neh­men: die Tai­pei Times. Das Flug­zeug war spär­lich be­setzt, die Flug­zeit be­trug zwei­ein­halb Stun­den, ich hat­te al­le Ru­he und Zeit der Welt, um das nicht son­der­lich um­fang­rei­che Druck­werk durch­zu­le­sen. Auf Sei­te 3, tai­wa­ne­si­sche In­nen­po­li­tik, stieß ich auf ei­nen Ar­ti­kel mit der Über­schrift ‘Oce­an’ Bra­vo the Bear ma­s­cot draws cri­ti­cism. In­nen­po­li­tik?, dach­te ich. Das Fo­to da­ne­ben zeig­te ei­nen weiß­bär­ti­gen kahl­häup­ti­gen Mann, der ne­ben zwei an­de­ren Per­so­nen mehr oder we­ni­ger fort­ge­schrit­te­nen Al­ters an ei­nem lan­gen Tisch mit wei­ßem Tisch­tuch saß und in ein ro­tes Mi­kro­phon hin­ein­sprach. Auf dem Tisch, am lin­ken Fo­to­rand, wa­ren vier bläu­lich-schwar­ze Plüsch­bä­ren auf­ge­häuft, sie tru­gen ei­nen gel­ben Knopf an ei­nem wei­ßen Strei­fen, Hals­band oder Fell, das war nicht aus­zu­ma­chen. Ich be­gann zu le­sen, und es stell­te sich her­aus, daß es ein höchst ernst­haf­ter Ar­ti­kel war. Das Pro­blem, von dem er han­del­te (Zei­tungs­ar­ti­kel han­deln na­tur­ge­mäß von Pro­ble­men), be­stand dar­in, daß die Kul­tur­ab­tei­lung der Stadt­re­gie­rung von Tai­pei be­schlos­sen hat­te, das De­sign des Mas­kott­chens »Bra­vo the Bear« zu än­dern. Die­ses Mas­kott­chen – das vom Fo­to, der Knopf an sei­nem Bauch stell­te ei­ne Gold­me­dail­le dar – war bei der Be­völ­ke­rung von Tai­pei sehr be­liebt, wie Shih Ying, der Prä­si­dent der Hu­ma­ni­stic Edu­ca­ti­on Foun­da­ti­on, be­ton­te. Stif­tung für hu­ma­ni­sti­sche Er­zie­hung, dach­te ich, was für ein ehr­wür­di­ger Na­me! Sol­che Än­de­run­gen, sag­te Shih Ying der Zei­tung zu­fol­ge, wür­den nicht hin­ge­nom­men wer­den, wür­de man sie an der Mo­na Li­sa vor­neh­men. Er mein­te die ech­te Mo­na Li­sa, die im Pa­ri­ser Lou­vre aus­ge­stellt ist. Der­sel­be Na­me, Mo­na Li­sa, wur­de vom tai­wa­ne­si­schen Volks­mund Bra­vo the Bear ver­lie­hen, weil er ein so schö­nes Lä­cheln zei­ge; Mo­na Li­sa war ge­wis­ser­ma­ßen zum Spitz­na­men – oder Künst­ler­na­men – des Bä­ren ge­wor­den. Aber war­um hat­te die Stadt­re­gie­rung das Aus­se­hen der Mo­na Li­sa von Tai­pei ver­än­dert? Der Prä­si­dent der Hu­ma­ni­sti­schen Ge­sell­schaft sprach von Ver­blen­dung und Ar­ro­ganz der Mäch­ti­gen. Ei­ne wei­te­re Er­klä­rung, so­zu­sa­gen der Hin­ter­grund der Ge­schich­te, den die Ar­ti­kel­schrei­ber bei­steu­er­ten, lag dar­in, daß es Pro­ble­me mit den Mar­ken­rech­ten gab, die die Kul­tur­ab­tei­lung durch klei­ne Än­de­run­gen – ein oze­an­blau­es Näs­chen an­stel­le des schwar­zen – ele­gant zu um­ge­hen ver­such­te. Ei­nen sol­chen An­griff auf ihr gei­stig-künst­le­ri­sches Ei­gen­tum, dach­te ich den Ge­dan­ken Shihs fort­spin­nend, ei­nen sol­chen An­griff wür­de sich die ech­te Mo­na Li­sa nie­mals ge­fal­len las­sen. Die Ge­sell­schaft zur Ret­tung der Uni­ver­sia­de-Ver­si­on von Bra­vo the Bear hat­te ei­ne Pe­ti­ti­on ver­faßt, die nicht nur von zahl­lo­sen Bür­gern der Stadt, son­dern auch von be­kann­ten tai­wa­ne­si­schen Spit­zen­sport­lern un­ter­schrie­ben wor­den war (von Künst­lern war in die­sem Zu­sam­men­hang lei­der nicht die Re­de). Das Mas­kott­chen war ur­sprüng­lich für die Som­mer­uni­ver­sia­de ent­wor­fen wor­den, die 2017 in Tai­pei statt­ge­fun­den hat­te.

Wei­ter­le­sen

Wie ein Kom­men­tar im Per­len­tau­cher »ver­schwin­det«

Am 15.11.2019 ver­link­te der Per­len­tau­cher (»efeu«) ei­nen Text von Pe­ter Ma­ass, in dem u. a. auf mein Buch über Pe­ter Hand­ke und Ju­go­sla­wi­en Be­zug ge­nom­men wur­de. Der Per­len­tau­cher zi­tier­te Ma­ass’ Text, der be­haup­tet, ich (und Kurt Grit­sch) hät­ten die »Ju­ro­ren« be­ein­flusst, Pe­ter Hand­ke den No­bel­preis zu­zu­spre­chen. Das En­ga­ge­ment von PR-Agen­tu­ren wie Ru­der Finn für Kroa­ti­en, Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na und den Ko­so­vo wur­de von Ma­ass als Ver­schwö­rungs­theo­rie dar­ge­stellt.

Dar­auf­hin schrieb ich so­fort ei­nen Kom­men­tar un­ter der Pres­se­schau, der auch zu le­sen war. So­eben frag­te mich ein Freund, wo denn mein Kom­men­tar im Per­len­tau­cher ste­hen wür­de. Über­rascht muss­te ich fest­stel­len, dass er dort zwar in der Kom­men­tar­box ge­teasert ist, aber nicht er­reich­bar. Dar­auf­hin schrieb ich ihn noch ein­mal. Dies­mal er­scheint er, wenn auch nicht so­fort.

Of­fen­sicht­lich ist der Per­len­tau­cher bzw. sei­ne Re­dak­ti­on nicht an Rich­tig­stel­lun­gen und Wahr­hei­ten in­ter­es­siert. Da­mit wer­den ele­men­ta­re Re­geln des Pres­se­ko­dex ver­letzt. Die Per­len, die da ge­fischt wer­den, sind lei­der Tal­mi.

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Wang Xia­o­shuai: Bis dann, mein Sohn

Filmplakat "Bis dann, mein Sohn" - © Piffl Medien

Film­pla­kat »Bis dann, mein Sohn« – © Piffl Me­di­en

Zwei Jun­gen in Chi­na, in den 1990er Jah­ren, Hao­hao und Xin­gxing, 11 oder 12 Jah­re alt. Sie sind Freun­de wie ih­re El­tern. Xin­gxing ist das Pa­ten­kind von Hao­ha­os El­tern. Xin­gxing ist et­was ängst­lich. Sein Freund geht schließ­lich ins Was­ser, in den Stau­see, zu den an­de­ren spie­len. Dann ein Un­fall. Xin­gxing stirbt. Das Idyll zer­bricht. Für im­mer.

Rück­blen­de zum Chi­na der 1980er Jah­re, das Land mit der ver­ord­ne­ten Ein-Kind-Po­li­tik. Als Xin­gxings Mut­ter Li­yun er­neut schwan­ger wur­de, zwang die Fir­men­lei­tung, un­ter an­de­ren auch Hao­ha­os Mut­ter, zur Ab­trei­bung. Seit­dem ist sie un­frucht­bar. Jetzt ist das ein­zi­ge Kind tot. Li­yun und ihr Mann Yao­jun, bei­de Ar­bei­ter, ver­lie­ren auch noch ih­re Ar­beits­plät­ze in den 1990er Jah­ren in­fol­ge von Um­struk­tu­rie­rungs­maß­nah­men. Sie zie­hen weg von der Groß­stadt in die Pro­vinz. Die Spra­che, die man dort spricht, ver­ste­hen sie nicht. Sie ad­op­tie­ren Liuxing, ein Wai­sen­kind, zie­hen ihn als »Er­satz­sohn« auf, nen­nen ihn Xin­gxing. Aber sie wer­den nicht mehr glück­lich. Als der Jun­ge in die Pu­ber­tät kommt, ver­schwin­det er und wird in der Zei­tung als ver­mißt ge­sucht. Als er ge­fun­den wird, ver­steht Yao­jun. Er lässt ihn ge­hen. Er be­kommt ei­nen Aus­weis und et­was Geld. Der re­bel­li­sche Liuxing be­dankt sich bei sei­nem Zieh­va­ter für die Frei­heit, die er ihm ge­währt. Es ist ei­ner der stärk­sten Mo­men­te in Wang Xia­o­shuais Film »Bis dann, mein Sohn«.

Der Film spannt ei­nen Bo­gen vom Chi­na im Um­bruch zwi­schen 1986 und den spä­ten 2000er Jah­ren. Hier das lang­sa­me Ein­sickern des We­stens – er­kenn­bar am Micky-Mou­se-Ruck­sack des Jun­gen zu Be­ginn. Dort der heuch­le­ri­sche so­ge­nann­te So­zia­lis­mus. Als es in der Fa­brik Ent­las­sun­gen gibt, re­bel­liert die Be­leg­schaft. Es ist zweck­los, der Ka­pi­ta­lis­mus hält Ein­zug. In Rück­blen­den er­fährt man von »Dun­kel­par­tys« mit ex­zes­si­ven Tän­zern nach »Bo­ney M«-Musik und dar­auf dann ei­ne chi­ne­si­sche Ver­si­on von »Auld Lang Sy­ne«. Ver­gnü­gun­gen, die mit Re­pres­si­on und Ver­haf­tun­gen en­den kön­nen.

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Hi­ro­shi­ma 2019

Erst wenn du et­was zu ver­lie­ren be­ginnst, ent­steht ei­ne Ge­schich­te. Je mehr Ver­lu­ste, de­sto mehr Er­in­ne­rung, de­sto mehr Er­zäh­lung. Was na­tür­lich be­drückend, le­bens­hem­mend wir­ken kann.

An kei­nem Ort ha­be ich so lan­ge ge­lebt wie in Hi­ro­shi­ma. Drei­zehn Jah­re, kein Ju­bi­lä­um, kei­ne »run­de« Zahl – ich hät­te mit die­ser Er­zäh­lung war­ten kön­nen, bis es fünf­zehn oder zwan­zig Jah­re sind. Aber ob ich dann noch hier bin? Ob ich noch le­be? Der Lauf der Ge­schich­te oder des Zu­falls will es, daß die­ses Da­tum, das »Ge­ge­be­ne«, mit ei­nem an­de­ren Da­tum zu­sam­men­fällt, ei­nem En­de und Neu­be­ginn. Nach drei­ßig Jah­ren geht die Amts­zeit des al­ten Kai­sers zu En­de, ein neu­er tritt an. Es war die ver­spro­che­ne Frie­dens­zeit (»Heis­ei«), aber auch ei­ne de­pri­mie­ren­de Zeit, ei­ne ver­ewig­te Kri­se oh­ne gro­ße Hoff­nung auf ei­ne Lö­sung; die jun­gen Leu­te ha­ben mehr Angst vor der Zu­kunft als Ver­trau­en in sie. Vor kur­zem wur­de Sho­ko Asa­ha­ra ge­hängt, der Gu­ru ei­ner re­li­giö­sen Sek­te, ver­ant­wort­lich für das Gift­gas­at­ten­tat 1995 in der U‑Bahn von To­kyo, bei dem zwölf Men­schen star­ben und hun­der­te ver­letzt wur­den. Nach dem Erd­be­ben und Tsu­na­mi in To­ho­ku, mit der dro­hen­den Atom­ka­ta­stro­phe, hat­ten wir Angst, das Land könn­te zer­bre­chen. Letz­tes Jahr ging in un­se­rer Ge­gend ein schwe­rer, schier end­lo­ser Re­gen nie­der, ne­ben un­se­rem Haus rutsch­te, vom Gip­fel weg, ein gan­zer Berg­hang her­un­ter, die Spu­ren sind un­über­seh­bar, ich muß mich nur um­wen­den: Blick durch das Bal­kon­fen­ster, wie da­mals, als ich, schlaf­los im Mor­gen­grau­en, das gro­ße Grol­len ge­hört hat­te und so­fort auf­ge­sprun­gen war.

Heis­ei. Rei­wa. Geht mich das et­was an? Schwer zu sa­gen, was die neue Ma­xi­me – wenn es ei­ne ist und sein soll – ei­gent­lich be­deu­tet. Zwei Schrift­zei­chen aus ei­nem al­ten ja­pa­ni­schen Ge­dicht, dem Lied von der Pflau­men­blü­te, die man in Kyo­to oder Hi­ro­shi­ma schon kurz nach Neu­jahr se­hen kann, die er­ste Baum­blü­te und des­halb be­son­ders herz­er­freu­end, hoff­nungs­voll. Frü­her stamm­ten die kai­ser­li­chen Ma­xi­men aus al­ten chi­ne­si­schen Tex­ten, die die Früh­zeit der ja­pa­ni­schen Kul­tur präg­ten. Gut so; ei­ne na­tio­na­li­sti­sche Ge­ste, wie sie das miß­traui­sche Kom­men­ta­to­ren­volk zu er­ken­nen glaub­te (»Ja­pan snubs Chi­na at dawn of new im­pe­ri­al era« lau­te­te die Schlag­zei­le in The Times), kann ich dar­in nicht se­hen. Auch die ja­pa­ni­sche Hym­ne ist ja ein recht fried­li­ches Ge­dicht aus dem zehn­ten Jahr­hun­dert, oh­ne Kriegs­ge­trom­mel (aux ar­mes ci­toy­ens, the bombs bur­st­ing in the air…), oh­ne Prah­le­rei (das be­gna­de­te Volk gro­ßer Söh­ne und, neu­er­dings, Töch­ter).

Wir woh­nen fern von der Stadt, mehr oder we­ni­ger auf dem Land, in ei­ner ad­mi­ni­stra­ti­ven Zo­ne, die sich Hi­ga­shi-Hi­ro­shi­ma nennt, frü­her ei­ne Hand­voll ver­streu­ter Or­te von Reis­bau­ern, Sa­ke­pro­du­zen­ten und Fi­schern, heu­te von Uni­ver­si­tä­ten, For­schungs­zen­tren und Zu­lie­fer­fir­men für Mat­su­da durch­setzt. Im­mer noch vie­le Reis­fel­der, auch Sa­ke­braue­rei­en, be­wal­de­te Ber­ge, wei­ter un­ten, in west­li­cher Rich­tung, dann Ku­re mit sei­ner Werft und den Kriegs­schif­fen, die die US-Streit­kräf­te da­mals nicht bom­bar­dier­ten, sie zo­gen es vor, ih­ren »Litt­le Boy« über dicht­be­sie­del­tem Ge­biet ab­zu­wer­fen. Dort­hin, in die Stadt­mit­te von Hi­ro­shi­ma, kom­me ich sel­ten, ge­bil­det wird sie vom Frie­dens­park, über dem am Mor­gen des 6. Au­gust 1945 der gro­ße Wol­ken­pilz auf­stieg und der schwar­ze Re­gen fiel, und der vom Park ab­ge­hen­den Ein­kaufs­stra­ße, die am Par­co-Ge­bäu­de en­det, ei­nem ju­gend­li­chen Pa­last für mehr oder min­der schicke Klei­der – da­hin­ter be­ginnt das eher schmud­de­li­ge Ver­gnü­gungs­vier­tel.

Ich kom­me sel­ten hin, aber das hat Vor­tei­le, zu­min­dest den, daß ich die Stadt im­mer wie­der wie zum er­sten Mal se­he, mit dem auf­merk­sa­men, stau­nen­den Blick. Neu­lich, am er­sten Tag des er­sten Jah­res der Rei­wa-Ära, zu Be­ginn des Won­ne­mo­nats Mai, das Stau­nen über die Bäu­me, die Leucht­kraft des hell­grü­nen Blatt­werks der kusuno­ki, der Kamp­fer­bäu­me (häß­li­cher Na­me, der so gar nicht der Sa­che gleicht), und den Kon­trast der dunk­len, fast schwar­zen Äste, die es tra­gen. Ein Ge­spräch über Bäu­me ist fast ein Ver­bre­chen – an die­se Ge­dicht­zei­le Ber­tolt Brechts muß­te ich den­ken, als ich das er­ste Mal hier­her­kam, und spä­ter im­mer wie­der der Ge­dan­ke: Aber es ist kein Ver­bre­chen und schließt auch kein Schwei­gen ein. Die­se Bäu­me wur­den kurz nach der Ka­ta­stro­phe ge­pflanzt, da­mit neu­es Le­ben ent­ste­he trotz all des Grau­ens, und die sie ge­pflanzt ha­ben, sind mit ih­nen äl­ter ge­wor­den, ei­ni­ge von ih­nen, schon ge­bückt, pfle­gen sie noch heu­te, und wenn ich die­se al­ten Männ­lein und Weib­lein se­he, drei­zehn Jah­re nach mei­nem er­sten Spa­zier­gang hier, kann ich nicht um­hin, mich zu fra­gen, ob in zehn, zwan­zig Jah­ren noch je­mand kom­men wird, um den Bo­den um die Stäm­me zu har­ken. Die Frau, die ich ein­mal hier in der Nä­he, in ei­nem St-Marc-Ca­fé, ge­trof­fen und be­fragt ha­be, 1945 war sie ei­ne Schü­le­rin, die zwi­schen Trüm­mern nach ih­ren El­tern und Ge­schwi­stern such­te und ver­strahlt wur­de, die­se Frau wird bald neun­zig sein. Nein, ein Ge­spräch über Bäu­me ist kein Ver­bre­chen, wie nach Ausch­witz wei­ter­hin Ge­dich­te ge­schrie­ben wur­den, und nicht von Bar­ba­ren, und es im­mer noch ein rich­ti­ges Le­ben im fal­schen gibt. Ge­dich­te, Ge­sprä­che: kei­ne Un‑, son­dern Wohl­tat. Wei­ter­le­sen