Gestern gab es auf der ARD zur besten Sendezeit wieder einmal eine Polit-Dokumentation von Stephan Lamby. Der Titel »Die Notregierung- Ungeliebte Koalition« erinnert in Teilen (unfreiwillig?) an »Notstandsregierung«, aber das hat wohl nur damit zu tun, dass einige Tage zuvor das Europäische Parlament den »Klimanotstand« ausgerufen hatte.
Lambys Dokumentationen gelten längst als Meilensteine, wurden mit Preisen dekoriert. Sie knüpfen gerne einen Bogen bis in die Tagesaktualität hinein. So wurde diesmal auch noch das Ergebnis des Mitgliederentscheids der SPD aufgenommen. Der Nachteil dieser Aktualität liegt darin, dass der zeitliche Abstand, der einerseits Reflexionen ermöglicht, andererseits die Folgen der dokumentierten Ereignisse aufzeigen könnte, kaum oder gar nicht möglich ist. Aber immerhin wird so der Keim für den nächsten Film der Lamby-Welt gelegt. Damit entsteht eine Reihe, die die Eruptionen und Probleme des politischen Deutschland der jüngsten Vergangenheit aufzeigen werden. Demnächst also vielleicht in der DVD-Box: Deutschland in den 2010er Jahren.
Lamby gelingt es, einige interessante Protagonisten vor die Kamera zu bekommen. Aber mehr als zu den üblichen Erklärungen langt es selten. Horst Seehofer kritisiert den Umgang der Union mit dem Rezo-Video, wird aber nicht wegen seiner Beförderungspläne des ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen befragt. Maaßen wiederum rezitiert aus seinem Bild-Interview, die ihm zum Verhängnis gewordenen, inkriminierenden Stellen und spricht von »politischen Feinden«. Annegret Kramp-Karrenbauer gesteht, was sie alles unterschätzt habe. Lars Klingbeil und Kevin Kühnert erläutern die SPD-Mühsal. Armin Laschet überlegt, ob es noch einmal eine GroKo geben könnte (man hätte ihm eigentlich einen Taschenrechner geben müssen). Zur Dekoration gab es noch Stimmen von Alice Weidel, Robert Habeck (sehr präsidial!), Rezo und Anna Moors, einer 17jährigen FFF-Aktivistin, die als »Schülerin« vorgestellt wurde.
Den verborgenen Kern in Lambys Film bilden allerdings die Einschätzungen von Journalisten. Diesmal waren es Melanie Amann (Spiegel) und Kristina Dunz (Rheinische Post). Sie gaben Interpretationen ab, wobei unklar ist, ob sie die Stellungnahmen derer kannten, hinter bzw. vor denen ihre Aussagen geschnitten wurden. Ihre fast immer polit-strategisch formulierten Einschätzungen zeigen, wie weit der Politikbetrieb – und mit ihm die Journalisten – von der Realität außerhalb des Raumschiffs Berlin abgekoppelt ist. Die Frage, die fast zum Zerfall der Fraktionsgemeinschaft der Union geführt hätte, wurde eben auch durch die mediale Inszenierung in unzähligen Talkshows in die Fast-Eskalation betrieben. Ähnliches gilt für die Maaßen-Affäre. Und es dürfte auch für das so viel beachtete Rezo-Video gelten, welches im Mai das politische Berlin ins Beben brachte. Gegen Ende gab es noch die Gegenüberstellung von Kramp-Karrenbauers Vorschlag für eine Schutzzone in Syrien und dem Gegenwort des Außenministers. Die These: Überall Streit.
Der Kioskbesitzerin, die ab Januar auch für drei Bonbons (30 cent) einen Bon ausdrucken muss, interessiert dies nicht. Sie muss schauen, wie sie damit klarkommt. Und ob sie sich oder der Handwerker, die Polizistin, der Metzger oder die Erzieherin über diese Feinheiten des Politikbetriebs nach einigen Wochen auch nur noch erinnern, ist zweifelhaft. Erst die journalistische Aufbereitung dieser Vorgänge, die bis hin zur Skandalisierung gingen, verschaffen den Aufmerksamkeitsraum, der dann am Ende zu dem führt, was Moors als Streit unter zwei Kindern rubrizierte, »die sich nicht einig werden«. Wobei man vielleicht mal erklären sollte, dass eine Koalition zwischen unterschiedlichen Parteien immer Reibungen erzeugt. Und wie passt das dazu, dass es Politikbeobachter gibt, die glauben, dass die Unterschiede zwischen den Parteien immer mehr verblassen.
Die Kritik an dieser medialen Fokussierung bedeutet nicht, dass diese Ereignisse unwichtig sind. Aber dahinter verblassen die Ergebnisse realer Politik – ob man diese wiederum gut findet oder nicht. Die GroKo ist keine »Notregierung«, auch wenn ihre Umstände ihres Zustandekommens dies suggerieren. Es wird nicht nur verwaltet, es wird auch regiert. Lamby lässt die Protagonisten abwechselnd sagen, was auf den Weg gebracht wurde. Dass dies einigen nicht weit genug geht oder anderen wiederum zu weit – das liegt in der Natur der Sache. Aber, und das klingt vielleicht ein bisschen arrogant, einige andere (europäische) Länder wären froh, eine solche »Notregierung« zu haben. Was freilich kein Grund für irgendetwas ist.
Die inzwischen fast virulente Verzweiflung des Bürgers an der Politik speist sich aus zwei entgegengesetzten Polen: Zum einen wird das, was man politischen Dissens nennen könnte, sofort immer als »Streit« apostrophiert (jede Wahl ist eine »Kampfabstimmung«). Auf der anderen Seite werden Kompromisse allzu schnell mit dem Attribut »faul« bezeichnet. Bezeichnend, wenn es heißt, dass der Kompromiss zwischen Seehofer und Merkel »nur wenige« interessierte. Das kommt von denen, die alle Sachentscheidungen wenn möglich personalisieren und dann die Personalisierung der Politik beklagen.
Manches an dem Film streift die Grenze zur Geschichtsklitterung. Etwa, wenn am Rücktritt Merkels als CDU-Vorsitzende die »Krise der Volksparteien« festgemacht wird. Merkels »behutsame Suche« nach Kompromissen würde immer weniger Wähler überzeugen, so Lamby. Meint er damit all jene politischen Entscheidungen, die von der Bundeskanzlerin selber als »alternativlos« und praktisch im Alleingang vollzogen wurden? Man staunt nicht schlecht.
Im Film heißt es, die Politik werde »zunehmend aggressiv«. Wirklich? Kramp-Karrenbauer beschreibt durchaus treffend, wie im politischen Berlin auch die Journalisten die Spirale der Aufmerksamkeit ausreizen. Frau Dunz stimmt dem zu. Aber Konsequenzen?
Statt mit Fakten Politik zu kritisieren, garnieren viele Medien ihre Berichterstattung mit Meinung (oder, pathetischer formuliert, »Haltung«). Dieses Gemisch ist für den »normalen« Rezipienten kaum zu entwirren. Aktuell sieht man dies am neu gewählten Führungsduo der SPD. Man kann dazu ja eine gespaltene Meinung haben, aber die journalistischen Gewissheiten, dass diese beiden die Partei, ja sogar das Land wahlweise in den Abgrund oder in neue, herrliche Zeiten führen werden, dieses Dauerkommentariat selbsternannter Welterklärer, wie es sich auch im Lamby-Film zeigt, ist nur noch Ausfluss selbstreferentieller Profilierungssucht. Dass dies niemand mehr lesen, hören, sehen möchte – wen wundert’s?
Die scheinbar kontemplativsten Momente des Films sind jene, wenn die Protagonisten aus dem Fenster schauen. Sie sollen wie Suchende wirken. Leider merkt man: Es ist gestellt. Aber den nächsten Lamby-Film (spätestens nach der Bundestagswahl) wird man sich wieder anschauen. Immerhin.
Ich hab’ noch keine Lamby-Doku geseh’n. Dabei wird es, wenn ich die Wirkung Ihrer Worte auf mein Gemüt nur recht bedenke, wohl bleiben. Ich les’ auch nix mehr von Melanie Amann und Klaus Brinkbäumer. Kristina Dunz dito. – Spart enorm Zeit! – »Auch eine Geschichte der Philosophie« ist ganz kurzweilig, ne. Auch »Fallobst« war gut – - und Bret Easton Ellis »Weiß« sowie last but not least Michael Klonovskys Diairium »Bunt wie ein Niquab«.