
Es ist natürlich ein verlegerisches Wagnis, diese fünf autobiographischen Bücher der fiktiven Figur Giuliano di Sansevero, erschaffen von Andrea Giovene, bis Ende 2023 erstmalig vollständig in deutscher Übersetzung vorzulegen. Ein Risiko deshalb, weil Duktus und Stil des 1904 geborenen Italieners (1995 verstorben) so gar nicht in die Zeit zu passen scheinen, in der die zeitgenössische Literatur mit Weltschmerz- und/oder Identitätsfragen derart ausgiebig beschäftigt ist.
Dass es dazu kommen wird, ist wohl der Hartnäckigkeit und dem Enthusiasmus des Übersetzers Moshe Kahn zu danken. Die ersten beiden Bände der »Autobiographie des Giuliano di Sansevero« – »Ein junger Herr aus Neapel« (Band 1) und »Die Jahre zwischen Gut und Böse« (Band 2) – liegen jetzt vor. Die drei anderen Bücher sollen im Laufe des Jahres 2023 erscheinen. Zur Einstimmung des Lesers zeigen die Cover kongeniale Gemälde des italienischen Malers Felice Casorati (1883–1963). So könnte das »Portrait des Ingenieurs« (entstanden 1924/25; Umschlag von Band 1) die Titelfigur Giuliano darstellen, der, nach dem Wunsch des Vaters, Ingenieurswesen studieren sollte. Die portraitierte Frau auf Band 2 (»Raja«, 1925) könnte einer der Liebschaften gewesen sein.
Im ersten Band gibt Ulrike Voswinkel im Nachwort einen kundigen Überblick über Genese und Rezeption der zwischen 1966 und 1970 in Italien erschienenen Bücher. Den zweiten Band ließ Giovene auf eigene Kosten drucken und schickte ihn an Kritiker, Verlage und Agenten. Eine begeisterte Rezension verhalf ihm 1970 zu einem Preis, bevor dann der revolutionär-progressive Zeitgeist Giovenes Ästhetik widersprach und die Rezeption stockte. Voswinkel schreibt, dass Giovene für den Nobelpreis vorgeschlagen worden wäre. Auf der Webseite der Akademie gibt es allerdings keinen Eintrag zu ihm; vermutlich war die empfehlende Person nicht um Umfeld des Komitees.
Die »Autobiographie« beginnt 1912 in Neapel. Giuliano der Ich-Erzähler, der mit dem Wissen der Ereignisse fast immer chronologisch erzählt (gelegentliches Aufzeigen von Entwicklungen zwanzig oder dreißig Jahre später sind selten), ist neun Jahre alt. Seine drei Jahre jüngere Schwester Checchina ist sein Spielkamerad. Ältere Geschwister sind Cristina, 16 und Ferrante, 15. Giuliano und Checchina starren in einer Mischung aus Ehrfurcht und Beklommenheit auf den an einer Wand im Salon üppig aufgezeichneten Stammbaum der »launenhaften Familienzweige«, die bis ins 11. Jahrhundert zurück reichen. Aber bei aller Überwältigung gab es durch Feuchtigkeit in den Wänden erste Flecken und sogar kleinere Abplatzungen am Stammbaum – subtile Zeichen für den beginnenden Zerfall der alten Ordnung, aber noch »rollte die langsame Pferdedroschke weiter« und auch »das goldene Zeitalter der Kirche« hatte noch Bestand. Erst nachträglich werden aus Prozessen die Zäsuren deutlich.