Im rumpelnden Zug das Tal hinunter, das zuerst einmal eine Schlucht ist, bevor es sich weitet und die Gebäude zunehmen, wollte ich die Landschaft und was darin vorkommt, allerlei Dinge und Wesen, mit den Augen meiner Tochter betrachten, die hier täglich außer sonntags ihren Schulweg hinter sich bringt, aber dann wurde mir bewußt, daß sie ihr Smartphone bei sich hat und sicher die meiste Zeit darauf starrt wie die anderen Schüler auch, wenn sie nicht gerade schlafen, aber das eher nicht, denn die Plätze sind zu diesen Zeiten, morgens und abends, besetzt, da müßte sie schon im Stehen schlafen. Es ist der gewohnte Blick der Pendler, denke ich, der oberflächliche Smartphoneblick, der die Bilder fortwischt, sofern sie sich nicht von selbst bewegen, die bewegten und unbewegten Bilder, fort- und herbeibugsiert im Nu; oder der schwarze Blick des Schlafs, der graue des Dösens; oder der Blick nach innen, wo die Träume hausen. Bloß keine Wirklichkeit! Die sich sowieso in einem Satz beschreiben läßt: grünes Gewucher, grauer Beton, Blinken von Wasser, Karosserien und Lichtreflexen. Punkt. Am Ende doch wieder dasselbe wie die Bilderflut am Display.
Ein Tag in Cafés und Kinos mit kleinen Stadtwanderungen dazwischen, auch das gibt eine Art Display: auflegen, aufspielen lassen, entfalten. Wie eine Schallplatte: die Rillen des Tages. Desplegar, déployer etc. Bildspur und Tonspur. Das Tully’s beim Bahnhof in Yokogawa ungewöhnlich geräumig, fast elegant, ebenso die Gäste, jedenfalls auf den ersten Blick, in eleganten Räumen wirkt auch das Durchschnittspublikum elegant. Die Decke allerdings unverkleidet, was zu postmoderner Eleganz naturgemäß paßt; Abzugsrohre, Kabelverkleidungen und Klimaanlagen dunkel getönt. Ein dumpfes Geräusch, sofort erkennbar, jemand hat ein Smartphone fallen lassen; eines der charakteristischsten postmodernen Geräusche, das Aufschlagen dieser relativ robusten, nicht ganz leichten, aber auch nicht schweren Geräte auf Kunststoffboden. Man hat ein altmodisches Heft vor sich liegen, das man jederzeit aufschlagen könnte, einen Kugelschreiber daneben, jederzeit könnte man schreiben, doch man schlägt das Heft nicht auf, läßt all das Wirkliche geschehen, die Sinnesorgane sind wacher in solcher Wartehaltung, man könnte mitschreiben und tut es nicht. Mitsehen genügt. Tag ohne Schrift, mit Bildern und Geräuschen, zu denen auch die unvermeidliche Musik zählt. Das längst abgestumpfte, automatisierte Gehörorgan stumpft ab, wählt aus, weist ab. Algorithmus im Hirn. Input, Output, wie das hier.
Am Nebentisch plaudern zwei Frauen, so gegen dreißig, altersmäßig, in Angestelltenkleidung, salarywomen, die eine mit Rock, die andere mit Hose. Farben? Grau, dunkelblau, weiße Blusen. Stöckelschuhe, nicht sehr hoch. Es ist neun Uhr vorbei, gleich halb zehn, warum sind sie noch nicht im Büro? Der Film, den ich sehen werde, beginnt um viertel nach zehn. Vormittagsvorstellung, matinée. Worüber plaudern die Frauen? Sie entfalten gemeinsame Erinnerungen, vermutlich sind sie in dieselbe Schule gegangen. Wen und wann, in welchem Alter, bis zu welchem Alter man, das heißt frau, heiraten sollte. So um 27, 28 Jahre, sagt die eine. »Von meinen Schulfreundinnen und von denen, mit denen ich studiert habe, hat noch niemand geheiratet.« Die beiden Frauen entsprechen genau dem Klischee, das ich mir im Lauf der Zeit unvermeidlicherweise zueigen gemacht habe (ich gebe mir Mühe, es loszuwerden oder wenigstens nicht zum Einsatz zu bringen). Nach mehrfachem Hinsehen wirkt die eine ziemlich hübsch – ein Blick, der sich nicht mehr gehört, oder besser: den man nicht mehr eingestehen darf –, in wenigen Minuten ist sie mir vertraut geworden mit ihrem etwas herben Lächeln und den fast übereifrigen Antworten, die sie ihrer zurückhaltenderen Freundin gibt. Für eine halbe Stunde werde ich mich an ihrer Seite als unbekannter, nein, unsichtbarer Gefährte einrichten. Schwierig, den richtigen Mann zu finden. Hat sie gesagt. Ob sie als Mutter und Hausfrau enden wird? Oder in der Firma bleiben als Single, wie so viele andere in den großen Städten?
Mein Ohr bleibt bei den beiden Freundinnen, mein Blick läßt sich am langen Mitteltisch nieder, wo jeder Sitzplatz mit zwei Steckdosen ausgestattet ist. Offensichtlich kommen viele Leute zum Arbeiten hierher, Schüler und Studenten zum Lernen, andere laden ihr Handy auf. Zu bestimmten Zeiten sitzen sie wie Spatzen aufgereiht nebeneinander, Computer oder Walkman oder beides am Netz. Jetzt sind nur wenige da, den in meiner Blickreichweite hätte ich nicht für einen Kopfarbeiter gehalten: dunkle Gesichtshaut, unrasiert und unfrisiert, grün glänzende Jacke, bestimmt hat sie einen Drachen am Rücken. Als er aufsteht und zur Toilette geht, überzeugt mich sein Gang vom Gegenteil. Vielleicht wollte er mir nur den Drachen zeigen. Er hat ein Buch neben sich liegen und schreibt eifrig in sein Heft. Im Gegensatz zu mir, der ich mein Heft immer noch nicht aufgeschlagen habe (und jetzt rudimentär aus dem Gedächtnis schreibe, oder besser gesagt, aus der Phantasie und dem Wunschdenken). Er schielt zu mir herüber und wird denken: Kein Kopfarbeiter, der da drüben, dem sträubt sich ja der ganze Körper gegen das Schreiben. Könnte man mich für einen Herumtreiber halten? Bin ich nicht einer? Seit einem Dreivierteljahr trage ich immer dieselbe Kleidung und muß zusehen, daß sie trocknet, wenn ich sie wasche. Mein einziges Hemd, kragenlos, wasche ich höchstens einmal im Monat. Das Sakko könnte man für einen Anzugteil halten, dabei habe ich es vor zwanzig Jahren auf einem Chinesenmarkt beim Osu-Kannon-Schrein in Nagoya gekauft. Es ist aus irgendeinem Kunststoff, aus der Nähe betrachtet sieht man die Beulen und Dellen, Fussel und Stäubchen, die es anzieht. Soll ich den Mann um seine Drachenjacke beneiden?
Mein Heft bleibt geschlossen, der Kugelschreiber – Marke Hedera, grün – unberührt. Kann man sein eigenes Nicht-mehr-Sein genießen? Zumindest ist das ein Vorgeschmack hier. Komm, süßer Tod, und führe mich in den ewigen Frieden, weil ich der Welt müde bin. Amen.
Und dann werde ich, wie jeder andere einsame Gast, ins Sein zurückgerissen, von was?, von mir, von der Uhr auf dem Display des Telephons, das gar kein Telephon ist, sondern nur ein Photograph (und eine Uhr). Es ist 10 Uhr 7, höchste Zeit, mich auf den Weg zu machen. Das Kino liegt mitten in einem Viertel von engen Gassen mit zahllosen Kneipen und Kleinrestaurants, um diese Zeit fast menschenleer. Auch der Kinosaal ist fast leer, wir sind genau sieben Aufrechte, oder Gerechte, wenn wir mal davon ausgehen, daß die Cinéphilie den letzten Hort der Gerechtigkeit darstellt. Der Film ist ein Dokumentarfilm, der Hauptdarsteller, der nur sich darstellt bzw. die Sache, um die es ihm geht, ein sympathischer, von der Sache besessener älterer Herr am Computer vor dem Fenster eines kleinen Arbeitszimmers mit Blick über ein Tal, zum Gegenhang, auf die Gebirgslandschaft, die Wälder, manchmal schneit es. Ein älterer Herr, der die Gegend durchstreift, ein Hüter dieser Gegend in der Präfektur Fukushima: kein Jäger, nein, sondern ein Abbildner, in geläufiger Sprache: ein Photograph, und zwar einer mit schwerer Kamera und einem Objektiv, das wie ein Kanonenrohr wirkt. Mit diesem Ding vor der Brust wirft er sich auf eine abschüssige Wiese, in der ein paar Kirschbäume blühen, wie ein Soldat in den Schützengraben, und lauert darauf, daß weiter unten der ersehnte Zug über die hohe Brücke fährt, deren schönes Eisengestell sich im Wasser darunter spiegelt. Und als er ankommt, geht ein Ruck durch den Körper des Lauernden, seine Arme reißen das Ding zum Gesicht, und im nächsten Augenblick beginnt das Gerät zu rattern wie ein Maschinengewehr, denn die Kamera nimmt nicht ein Bild auf, sondern in den paar Sekunden, die der Zug braucht, um den Fluß, der in Wahrheit ein Arm eines Stausees ist, zu überqueren, eine Vielzahl von Bildern. T‑t-t-t-t-t-t-t-t-t‑t (. . . . . . . . .) t‑t. Das Gedicht von Ernst Jandl fällt unweigerlich ein, dazu Schtzngrrrrrmmmm, alles vokallos, also nicht so schön, aber das ist wieder mal Geschmackssache.
Keine Angst, niemand ist tot. Es ist auch niemand verseucht. Tadami ist mehr als hundert Kilometer von der Pazifikküste entfernt, liegt näher bei der anderen Küste, dem Japanischen Meer. In dieser Gegend gibt es keine Atommeiler, es gibt überhaupt so gut wie nichts, außer Kirschblüten im Frühling und Rotahorn im Herbst und Schnee im Winter, so daß die jüngeren Einwohner abwandern, nach Tokyo die meisten, wie es auch unser Photograph als junger Mann getan hat, um in der Kulturindustrie zu arbeiten, später dann wieder zu Hause, in der Bauindustrie (wenn ich’s recht verstanden habe), inzwischen führt er als Rentner ein ruhiges Leben, wenn er nicht gerade photographiert. Die Tadami-Linie, also die einspurige, bisher nicht elektrifizierte Eisenbahn, wurde im Sommer 2011 schwer beschädigt, ein langer Streckenabschnitt war über zehn Jahre lang nicht benutzbar, erst vor wenigen Tagen ist die ganze Bahn wieder in Betrieb genommen worden, am 1. Oktober 2022, da war der Film, den ich hier mit den sechs anderen Gerechten oder Selbstgerechten sehe, längst gedreht. Unser Photograph, wie gesagt, möchte, daß nicht alle Bewohner fortgehen, er hat schon einmal durch einen Erdrutsch sein Dorf verloren, das soll sich nicht durch menschliche Laxheit wiederholen. Nein, Hoshi-san möchte, daß viele Leute herkommen, um die schöne Landschaft zu genießen oder in einer der Onsen-Anlagen im heißen Wasser zu entspannen und Erinnerungsfotos zu schießen.
Der Mann beginnt, seine wunderschönen Fotos auf Facebook und in einem Blog zu veröffentlichen, immer mit dem Hinweis, daß es die Tadami-Linie instandzusetzen und zu erhalten gelte, denn wie das auch mit anderen sogenannten Nebenlinien nicht nur in Japan so geht, sondern zum Beispiel in Oberösterreich mit der Almtalbahn, an der ich aufgewachsen bin, finden die Betreiber den Betrieb nicht lukrativ genug, mit der Bahn fahren nur Schüler und vielleicht ein paar Greise, alle zum halben Preis oder noch günstiger, denn die Erwachsenen, die sogenannten Werktätigen und die Hausfrauen, die fahren alle mit ihrem privaten Personenkraftwagen, auch wenn viele von ihnen durchaus finden, die Tadami-Bahn sei erhaltenswert.
Eine Eisenbahn zum Anschauen, nicht zum Mitfahren. Unterdessen bekommt unser Photograph immer mehr Fans, Follower in korrektem Deutsch, immer mehr Unterstützer in ganz Japan und sogar in anderen Ländern, besonders in Taiwan, wo sich eine Tadami-sen-Fotogruppe bildet, die Reisen in die ferne Präfektur Fukushima organisiert, wo die Besucher unter der Führung des ortsansässigen Photographien und pensionierten Bauarbeiters im Bus zu den Orten gebracht werden, damit sie ihre furchterregenden Objektive ins Tal hinunter auf die berühmte Brücke und den sechsmal am Tag darüberfahrenden Zug richten. Der Tourismus wird die Region retten. Genau, so ist das geplant, aus diesem Grund wird die Bahn künftig aus Steuergeldern der örtlichen Verwaltung bezahlt. Die Bevölkerung sieht das ein, selbst wenn sie selbst lieber mit dem Auto fährt. Es hatte Stimmen gegeben, die sagten, man solle das Geld lieber für Schulen und Sozialhilfe ausgeben.
Die aus Taiwan Angereisten photographieren dieselben »Motive«, sie sind schon tausendmal photographiert und im Internet verbreitet, die Fotos gleichen einander, naturgemäß, oder besser gesagt, sie überbieten einander, eins ist perfekter und origineller als das andere. Dies konnte man in einer Ausstellung sehen, die in Taipei organisiert worden war, wo unser Photograph als Ehrengast auftrat. Nach der erfolgreichen Ausstellung flaute die Tadami-Begeisterung etwas ab, das Gesicht des Photographen wurde im Lauf des Films immer trauriger – ich habe nicht genau verstanden, weshalb, denn es war ja von der Eisenbahngesellschaft beschlossen worden, den Betrieb weiterzuführen, und die Reparatur- und Erneuerungsarbeiten wurden, wie nicht anders zu erwarten, eifrig durchgeführt und pünktlich abgeschlossen. »Da kann man halt nichts machen«, sagt der Photograph mit bitterer Miene. Ein häufig und überall zu hörender Satz: Shikatta ga nai. Stimmt ja auch. Am Ende wird alles zerstört. Auch die Gerechten.
Sieben Hügel in Rom, sieben Flüsse in Hiroshima. Sieben? Kommt drauf auf, was man als Hügel, als Fluß zählt. Zählt der Monte Testaccio zu den sieben Hügeln? Oder ist er zu unansehnlich, zu industriell? Früher die Keramikindustrie, später der Schlachthof, die Gasometer… Nicht jede Erhebung ist schon ein Hügel, nicht jedes Rinnsal ein Fluß. Wird schon stimmen, ein Dichter hat sie mir erzählt, die Geschichte von den sieben Flüssen. Die am 6. August 1945 zu todbringenden Hindernissen wurden, weil heiß und verseucht, das Wasser nicht trinkbar, die Brücken zerbrochen und verbrannt, die Inseln Gefängnisse für Todgeweihte. Friedlich jetzt, die Brücken neu errichtet und vermehrt, geben sie der Stadt eine ungeometrische Struktur von Geraden und Kurven und Kehren, Abzweigungen und Vereinigungen, Erweiterungen und Engen sowie die Gewißheit, daß alles ins Offene strebt, das ein vorläufiges Offenes ist, weil dann noch die vielen Inseln draußen aufragen, die Inselberge und dann noch Shikoku, bevor sich alles zum Ozean weitet. Keine Springfluten zu befürchten wie in Fukushima. Geborgenheit für die Bewohner, solange die Gefahr nicht von oben kommt. Oder vom Wasser aus den Bergen im Hinterland.
Ins Stadtzentrum spaziert man am besten das nächstgelegene Flußufer entlang, so geht man gewiß nicht in die Irre, auch wenn der Weg vielleicht nicht immer der kürzeste ist: Flüsse mäandern gern. Bevor ich das Ufer erreiche, lenkt mich ein Gebäudekomplex aus rötlichem Backstein ab, der sich als Heiratsanlage, gern würde ich sagen: als Heiratsfabrik, herausstellt. Christlich, so heiraten die meisten hier, obwohl die wenigsten christlich sind, oder was sie christlich nennen, eine Art Religionskitsch, hundert Prozent gespielt, bloßes Theater wie die Demokratie1 im nach dem August 1945 neu aufgebauten Land. Der wichtigste Tag im Leben als Theatervorführung. Ein Komplex mit Kapelle, Banketthalle und Hotelzimmern (auch für die Hochzeitsgäste) und einem Jardin »Ange«, so steht es auf dem Schild, und Garagen und Kostümverleih. Alles kompakt und praktisch, zum Pauschalpreis. Der Name ist seltsam, aus dem werde ich nicht schlau, auch die Google-Maschine, die sonst für alles und jedes Antworten hat, hilft da nicht weiter. L’Celmo? Unaussprechlich für Japaner, für Franzosen, für Deutsche, für jedermann. Vielleicht ein Irrtum, wie so oft, wenn sie sich weltsprachlich gebärden. Il cielo? Der Hafen der Ehe als Himmel auf Erden. Cielito lindo? Der Bolero würde passen für rundum harmonische Kitsch-Veranstaltungen. L’Celmo. Undenkbar, daß ein so aufwändiges Unternehmen bei der Spracharbeit spart. Aber was wollen uns die Engel sagen? Niemand versteht ihre Sprache. Vielleicht das.
Am Ufer dann, neben der Fahrstraße, zwischen Gehweg und Fluß, ein kleines Shinto-Schreinchen, sechs Mandarinen und eine Flasche Reiswein vor der geschlossenen Holztür des Altars, und auf der anderen Seite des glitzernden, hier schon ziemlich breiten Flusses die riesige Tempelhalle mit schwungvoll aufragendem Spitzdach, das Anwesen einer buddhistischen Sekte mit Kindergarten, Kloster und Bildungsanstalt, die hier das ganze Viertel beansprucht und sich ihre protzigen Gesten nicht nehmen läßt. Gleich im Anschluß an dieses Areal ein Wohnhaus, im Erdgeschoß ein Blumengeschäft mit Kaffeerösterei (keine surrealistische Erfindung!), am Eingang ein großes Schild mit der Aufschrift »Gewand« in deutscher Frakturschrift, ein Wink in Richtung Gewandhausorchester, warum auch immer. Einmal habe ich dort ein Konzert gehört, der Saal ist mittelgroß, angenehm, gerade recht für Kammermusik oder Solo-Konzerte. Ein ganzes Orchester hätte hier nicht Platz.
Zum Abschluß des Tages wollte ich noch in Mio Bar gehen, »meine Bar«, eigentlich müßte sie in korrektem Italienisch »Il mio Bar« heißen. Sie ist eher ein Café, tagsüber geöffnet, aber mit langer Theke, wo man auf Barhockern sitzt. Der Chef dort, er läßt sich lieber Barista nennen, unterhält sich gern mit den Gästen, bleibt dabei immer etwas abwartend, widerspricht niemandem. Wenn er zu einem Thema eine andere Meinung hat, umgeht er geschickt die Diskussion. Genau wie mein Vater, der hatte auch eine Theke im Gasthaus; wenn Zeit dafür war, widmete er sich der Konversation. Der japanische Barista war oft in Italien, hat sich in der Anfangszeit seiner Bar eine echte Cimbali-Kaffeemaschine kommen lassen, die seither den Thekengästen gegenüber funkelt glänzt, und versucht, alles perfekt italienisch zu machen, die Ausstattung, den Kaffee (Jolly Caffè aus Firenze, eine Batterie von roten Packungen ist auf dem obersten Regal aufgereiht), die Speisen, Lasagne und Tiramisù, dessen Namen die Kellnerin, die schon lange hier arbeitet, perfekt ausspricht, Betonung auf der letzten Silbe. Mio Bar ist der einzige Ort in Japan, wo der Espresso auch so konzentriert ist und so schmeckt, wie es der Name verspricht.
Der Barista selbst sieht perfekt aus. Vielleicht nicht gerade italienisch, aber perfekt, die Barista-Perfektion vor penibel aufgereihten Flaschen und blinkenden Gläsern, mit seinem gestutzten Kinnbärtchen, der hohen Stirn, dem dunklen Gilet, der perfekt gebundenen Krawatte oder dem Mascherl am weißen Kragen. Vor einer Woche hatte er Covid-19, 40 Grad Fieber laut seiner Mitteilung in Facebook, aber inzwischen sei er wieder gesund, die Bar, hieß es, sei geöffnet. Und jetzt finde ich ein Close-Schild an der Glastür, und als ich nahe herangehe, sehe ich den leibhaftigen Barista im üblichen Outfit hinter der Theke, geschäftig, irgendetwas schneidend oder ordnend, aber keine Gäste vor ihm, der hintere Teil des Raums, wo die Tische stehen, liegt im Dunkel. Einsam steht die Schinkenschneidemaschine an ihrem erhabenen Ort in der Nähe der Glasfront. In Italien hätte ich an die Tür geklopft und ihn bemitleidet und gute Besserung gewünscht, aber hier wage ich es nicht, glaube auch nicht, daß er öffnen würde, das Virus ist ja so gefährlich, die Ansteckungsgefahr hoch, und überhaupt, geschlossen ist geschlossen, japanische Perfektion. Das einzige, was der Barista nicht nachahmen kann, ist die Lockerheit, mit der man in Italien das Leben bewältigt und den Tod, und schon gar nicht die dunklere Seite der Lockerheit, nämlich die Schlamperei. Und meine italienische Seite ist wohl auch durch die in zwei Jahrzehnten erworbene japanische verdrängt. Oder versucht sich der Barista jetzt auch im Schlampig-Sein, indem er es unterläßt, die Informationen im sozialen Medium zu aktualisieren? Oder trauen sich die Stammgäste nicht herein, wegen Corona? Keine Gäste, kein Open.
Ich mache kehrt, gehe zum Hachoza, einem der drei Programmkinos in Hiroshima, im achten Stock des Fukuya-Kaufhauses. Mir sind zwei Stunden vom Tag übriggeblieben, wie ein Stück von der Baguette, das über Nacht hart würde, und gleich beginnt ein Film mit Belmondo. Ich beschließe, ihn mir anzuschauen, ein bißchen Pariser Flair will ich sehen, wenn schon keinen guten Film, oder die Côte d’Azur, die alten Zeiten, siebziger Jahre. So wird mein Café-Kino-Tag halt mit Kino ausklingen. Auch recht. Der Film ist noch schlechter als erwartet, und er spielt nicht einmal in Frankreich. Anfangs dachte ich, Marseille, der alte Hafen, aber der Schauplatz ist Athen, zwar auch so eine weiße Stadt am Mittelmeer, aber uninteressant, staubig, verstaubt wie die Autos, in denen Kommissar und Einbrecher herumbrausen. Ach, diese elendig langen Verfolgungsjagden! Diese lächerlichen Schlägereien, wo die Typen so putzmunter sind und am Ende dann blutverschmiert. Belmondo ein Gemälde von Basquiat! Ich bin vor dem Ende rausgegangen. Über die Kyobashi-Brücke zum Bahnhof. Die Lichter funkelten schon auf dem Fluß.
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© Leopold Federmair – Alle Fotos außer dem gekennzeichneten von L. F.
Ich, weiß, das klingt jetzt nach "Quatschbude". ↩