Wirtschaftsminister Michael Glos war ein Spiegelbild der Institution des Wirtschaftsministers; ein Rest alte Bundesrepublik. Glos war jahrelang ein Strippenzieher, Friedens- oder Unruhestifter (je nach Bedarf) in der CDU/CSU-Fraktion und eine Art U‑Boot der CSU in Bonn und später Berlin. Das konnte der Mann, dessen Äusserungen manchmal von ein oder zwei Maß Bier beeinflusst schienen, ganz gut. Zum Wirtschaftsminister wurde er weil Stoiber hinwarf und der Parteienproporz eingehalten werden musste. Er, der Ungediente, wollte lieber Verteidigungsminister werden. (Und ich mal Busfahrer.)
Jonathan Littell: Das Trockene und das Feuchte
Jonathan Littell, Autor der Splatter-Mockumentary Scharteke »Die Wohlgesinnten«, hat das Buch »La campagne de Russie« (»Der Russlandfeldzug«; erschienen 1949) des ehemaligen belgischen SS-Offiziers Léon Degrelle gelesen. Und er hat das Buch »Männerphantasien« von Klaus Theweleit und dessen Thesen zum Faschismus gelesen. Littell versucht nun Theweleits Thesen von 1977 mit seiner Rezeption von Degrelles Buch fortzuschreiben.

Littell ist von Theweleits Buch fasziniert. »Der Faschismus (ist eine) Form der Produktion des Realen…keine Frage der Staatsform…auch nicht…der Wirtschaftsform, überhaupt nicht eine Frage des Systems.« zitiert er Theweleit, der im Nachwort zu »Das Trockene und das Feuchte« (welches bereits im April 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde) ergänzt: » ‘Faschismus’ ist …ein Körperzustand, eine gefährliche Materie, die mit Macht und Gewalt darauf dringt, den Zustand der Welt den Zuständen des eigenen Körpers anzugleichen, zu unterwerfen«. Das Freud’sche Modell von Es, Ich, Über-Ich und damit der ödipalen Konstellation lässt sich auf [den Faschisten] nicht anwenden so klären Littell (und Theweleit) auf, denn der Faschist hat die Trennung von der Mutter nicht abgeschlossen und sich nie als Ich im Freud’schen Sinne konstituiert. Der Faschist ist der »Nicht-zu-Ende-Geborene«. Aber er ist kein Psychopath; er hat eine partielle Trennung vollzogen, er ist sozialisiert…er ergreift sogar gelegentlich die Macht.
Lars Reppesgaard: Das Google-Imperium

Zunächst einmal ist es ziemlich wohltuend, dass sich jemand dem Phänomen Google nicht mit der üblichen, dämonisierenden Aufgeregtheit nähert, sondern einen eher nüchternen Ton anschlägt. Andererseits scheint es nicht ganz einfach zu sein, über einen Konzern zu berichten, der sich in bestimmten Bereichen extrem zurückhaltend mit Informationen verhält. So stachelt man einerseits nur noch mehr die Neugier an, dokumentiert aber andererseits indirekt die Fragilität eines Unternehmens, welches zwar aus nachvollziehbaren Gründen beispielsweise Art und Standort ihrer Rechner oder Details über den Such-Algorithmus ihrer Suchmaschine streng unter Verschluss hält, letztlich aber auch aus der Verwendung ihrer mindestens theoretisch möglichen Datenpakete, die sie von Usern gesammelt hat, nicht offenlegt.
Diese Fragen wirft Lars Reppesgaard in seinem Buch »Das Google-Imperium« zwar durchaus auf, aber derartige kritische Ansätze sind gut verborgen im Teig einer idyllischen Unternehmensprosa, die beispielsweise den Google-Arbeitsplatz als eine Mischung aus possierlichen Nerdtum, kuschelige[r] Programmierbutze, hochkonzentrierter und doch immer auch experimenteller Versuch und Irrtum-Tüftelei und universitär-elitärer Informatikwissenschaft darstellt. Hier arbeiten nur Genies. Da bastelt Reppesgaard ganz schön am Image des genialischen Nonkonformistentums, mit dem sich Google auch heute noch gerne parfümiert.
Isabelle Graw: Der große Preis
Wie kommt es eigentlich dazu, dass auch zeitgenössische Kunst inzwischen bei Auktionen exorbitant hohe Preise erzielt? Wie ist dieser Hype zu erklären? Die Professorin, Kunstkritikerin und Publizistin Isabelle Graw untersucht in Ihrem Buch mit dem schön-doppeldeutigen Titel »Der große Preis« die Wechselwirkungen zwischen Kunst (gemeint ist stets der Sonderfall der bildenden Künste) und Markt. Wobei ...
Vermeintliche Wahrheiten
Eine neue Studie zur »Lage der Integration in Deutschland«, diesmal vom »Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung« herausgegeben sorgte bereits gestern in Vorabmeldungen für einigen Wirbel. In der Studie »Ungenutze Potenziale« Kurzzusammenfassung, pdf wird ein »Integrations-Index« ermittelt und eine separate Beurteilung der Integrationserfolge nach Herkunftsgruppen vorgenommen.
Die ernüchternde Bilanz: »Zum Teil massive Integrationsmängel bestehen dagegen bei Migranten…vor allem bei der aus der Türkei. Von den hier lebenden 2,8 Millionen Türkischstämmigen ist knapp die Hälfte schon in Deutschland geboren. Diese zweite Generation schafft es jedoch kaum, die Defizite der meist gering gebildeten Zugewanderten aus den Zeiten der Gastarbeiteranwerbung auszugleichen. So sind auch noch unter den in Deutschland geborenen 15- bis 64-Jährigen zehn Prozent ohne jeden Bildungsabschluss – siebenmal mehr als unter den Einheimischen dieser Altersklasse. Dementsprechend schwach fällt ihre Integration in den Arbeitsmarkt aus.« (Quelle: Abstract der Studie – pdf)
Thomas Bernhard: Meine Preise

Eine Zeitreise. Ein déjà-vu. Er ist wieder da. Man hält ein neues Buch in der Hand, »Meine Preise«. Natürlich weiss man – es ist ein nachgelassenes Werk. Raimund Fellinger ordnet es am Ende philologisch ein. Um 1980 (vielleicht 1981) herum hatte es Thomas Bernhard fertiggestellt; einige Seiten des Typoskripts sind faksimiliert. Für einen kurzen Nachmittag nur beginnt die Wüste wieder zu leben. Aber klar, Thomas Bernhard bleibt tot und bis auf weiteres sind keine Wunder zu erwarten.
Naturgemäss (!) möchte der Verlag eine Art Revival begründen. Ein neues Buch! Zwanzigster Todestag! Josef Winkler meinte neulich, dass kaum ein Schriftsteller die österreichische Literatur der 1960er bis 90er Jahre so beeinflusst habe wie Thomas Bernhard (zu den Epigonen seufzte er). Tatsächlich war Bernhard kurze Zeit auch der meistgespielte Dramatiker auf deutschsprachigen Bühnen. Und heute? Bernhard werde von den jungen Schriftstellern, so Winkler, kaum noch gelesen (ähnlich wie Handke, aber das ist ein anderes Thema).
Das Verschwinden der Kritik
Jetzt könne die »Qualitätsdebatte« um das deutsche Fernsehen so richtig los gehen: Aufbruchstimmung im Herbst 2008. Der greise Marcel Reich-Ranicki und eine aufgeregte Pseudoliteraturkritikerin brüllten ihre Frustration ob des so grottenschlechten Fernsehprogramms laut (aber weitgehend unartikuliert) in die Öffentlichkeit. Die Kritik (bzw. das, was sich dafür hält) machte das, was sie am besten kann: Sie stimmte (teilweise oder emphatisch) zu, beklagte dann (leider, leider) unabänderliche Sachzwänge, unterfütterte ihre Resignation mit Behauptungen – und machte nichts, ausser sich noch über das ZDF zu entrüsten, die einer (freien) Mitarbeiterin den Vertrag nicht mehr verlängerte, die vorher gesagt hatte, sich für das Programm (welches sie womöglich kaum kennt, was ihr aber nichts oder wenig ausmacht, da sie auch häufig über Bücher spricht, die sie nicht kennt) zu schämen.
Das war’s dann auch schon mit der »Qualitätsdebatte«.
Lächerliche Spielchen
Wieder einmal ist es geschafft: Die Diskurswächter haben das Monopol auf ihre Deutungshoheit anderen aufgedrängt. Aktuell im Beispiel Tchibo und Esso. Hatten beide Unternehmen (in seltsamer Parallelität) doch die Frechheit besessen mit dem (merkwürdig anmutenden) Spruch »Jedem den Seinen« für ihre Produkte zu werben. Das durfte natürlich nicht sein. Der scheinbar notorisch unterbeschäftigte Zentralrat der ...